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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8820. Wien, Donnerstag, den 14. März 1889

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Concerte.


0002Ed. H. Aus dem musikalischen Getümmel der letzten
0003Wochen sehen wir zwei neue vornehme Gestalten empor-
0004ragen, von unserem Publicum mit raschem Blick erkannt
0005und liebgewonnen: die Sängerin Alice Barbi und der
0006Pianist Stavenhagen. Fräulein Barbi verfügt über eine
0007weiche, sympathische, nicht sehr umfangreiche Mezzosopran-
0008Stimme, die sie mit großer Kunst behandelt. Daß diese
0009Stimme nicht mehr in der ersten Blüthe, dafür entschädigt
0010uns die goldene Frucht ihrer künstlerischen Vollendung. In
0011den ganz schmucklosen tragischen Arien von Astorga und
0012Alessandro Scarlatti offenbarte Fräulein Barbi die
0013Schätze einer fast verloren gegangenen classischen Gesangs-
0014kunst: eine ruhige, edle Tonbildung, unvergleichliche Oeko-
0015nomie des Athems, das schönste Portamento im Anschwellen
0016und Abnehmen des Tones, vor Allem eine schlichte Großheit des
0017Vortrages, ohne die jene älteren Arien nicht denkbar oder doch
0018kaum genießbar sind. Wie den pathetischen Ausdruck, so hat sie
0019auch den heiteren, scherzhaften in ihrer Gewalt. Païsiello’s 
0020Lied „La Zingarella“, aus dem uns die ganze naive Lebens-
0021fülle der neapolitanischen Musik anlacht, kann man nicht
0022schöner hören. Die Barbi ist da in der That „la Zingarella 
0023graziosa, accorta e bella“, wie es in dem Liedchen heißt.
0024Dabei hält sie auch dergleichen Scherzlieder fern von allem
0025vulgären Beigeschmack, wie denn überhaupt die Noblesse des
0026Vortrags, in jeder Stylgattung, uns besonders charakteristisch
0027erscheint für ihre Individualität. Mit gleicher technischer
0028Vollendung und eindringendem Verständniß sang Fräulein
0029Barbi einige zierliche Romanzen von Monsigny und Bizet,
0030dann deutsche Lieder von Mozart, Schubert und Schumann.
0031In letzteren mochte gerade die ausgeprägte Deutlichkeit und
0032Correctheit der Aussprache etwas fremdartig berühren: offen
0033ausgesprochene Vocale, die wir dunkler färben, accentuirte
0034Endsylben, die wir abzuschleifen pflegen, und dergleichen.
0035Aber vortrefflich, ja ergreifend klangen auch diese uns
0036so wohlbekannten Lieder aus Fräulein Barbi’s Munde.
0037Schumann’s „Widmung“, Schubert’s „Rastlose Liebe“ sang 
0038sie mit überquellend leidenschaftlicher Wärme bei reinster
0039technischer Ausführung. Und für die gemüthvolle Melancholie
0040in Schubert’s „Wegweiser“ fand die Barbi nicht blos den
0041richtigen Ton; ihre ausdrucksvolle, natürliche Mimik gab
0042der Stelle: „Einen Weiser seh’ ich stehen unverrückt vor
0043meinem Blick“ sogar eine überraschende Anschaulichkeit.
0044Vielleicht mochte Mancher mit irgend einem zu lebhaft auf-
0045leuchtenden Worte, mit einem zu plastisch herausgearbeiteten
0046Detail nicht übereinstimmen; man muß sich hüten, der-
0047gleichen für „affectirt“ zu halten, was dem Südländer na-
0048türlich ist. Wir haben in Alice Barbi eine Meisterin des
0049Gesanges von geistvoller, eigenartiger Künstler-Physiognomie
0050kennen gelernt, auf deren nächstes Concert wir uns zu freuen
0051guten Grund haben.


0052Herr Bernhard Stavenhagen, ein junger Thürin-
0053ger, ist zweifellos berufen, einer der größten Clavierspieler
0054zu werden. Sein erstes Concert (vor etwa zwei Monaten)
0055hatte nur ein kleines Publicum herbeigelockt; sein zweites
0056fand vor einem zahlreichen, sein drittes endlich vor einem
0057dichtgedrängten Auditorium statt. Stavenhagen verfügt über
0058eine vollendete, abgerundete und abgeklärte Technik, der gar
0059nichts Materielles mehr anhaftet und die er durchaus der
0060musikalischen oder poetischen Intention des Componisten unter-
0061ordnet. Sein Anschlag ist mitunter zauberhaft. Er singt,
0062spricht, erzählt, plaudert am Clavier. Man kann von ihm
0063hunderterlei Anschlagsarten hören; jede scheint anders zu sein,
0064und keine verlangt vom Clavier mehr, als es leisten kann.
0065Diese Kunst, den Ton so verschiedenartig zu färben, zu schat-
0066tiren, macht sein Spiel ungewöhnlich anziehend und reizvoll. Eine
0067so hoch ausgebildete Specialität birgt allerdings auch ihre Gefahren.
0068Ich kann die Besorgniß nicht ganz unterdrücken, daß der Reichthum
0069von Anschlagsnuancen, durch welchen Stavenhagen bezaubert,
0070vielleicht ihn selbst irreführen und verleiten möchte, über der
0071Klangschönheit der einzelnen Phrase, ja des einzelnen Tons
0072den Charakter des Ganzen zu vernachlässigen. So scheint er
0073mir die „Verschiebung“, der er schöne Effecte entlockt, zu
0074häufig und anhaltend zu verwenden. Er spielt — mit Aus-
0075nahme weniger Tacte — das ganze Adagio der Cis-moll-
0076Sonate und den ganzen Des-dur-Mittelsatz in Chopin’s
0077Trauermarsch mit Verschiebung; dadurch klingt, was ätherisch 
0078begonnen hat, am Ende kränklich und matt. An seinem Vor-
0079trag der Beethoven’schen Sonaten rühmen wir die männliche
0080Auffassung bei zartestem Detail und die strenge Einhaltung
0081des Tactes. Dennoch erzeugten mitunter die Klangkünste des
0082Pianisten wenigstens den Schein eines absichtlichen Schön-
0083machens. Der große Zug der Tondichtung mußte sich vor-
0084übergehend doch dem einzelnen berückenden Klange fügen.
0085Stavenhagen erscheint in solchen Momenten etwa wie ein
0086Maler, der einer blendenden Farbe zulieb, oder wie ein
0087Poet, der für einen originellen Reim die Idee des Ganzen
0088zurechtrückt. Kleinere Stücke von Schumann, Chopin, Liszt 
0089spielt er mit reizender Natürlichkeit, fast mit der Unmittel-
0090barkeit von Improvisationen. Mit zauberhafter Leichtigkeit,
0091fast zu rasch, läßt er den Chopin’schen Des-dur-Walzer an
0092uns vorüberfliegen. Befremdend fiel es auf, daß Stavenhagen 
0093eine Chopin’sche Etüde ganz unvermittelt, fast ohne die Hände
0094von der Claviatur zu heben, an den Trauermarsch anfügte.
0095Mit besonderem Interesse hörten wir Chopin’s „Fantaisie-
0096Polonaise“, op. 61. Sie wird wegen ihrer außerordentlichen
0097technischen Schwierigkeiten wie ob ihres räthselhaften Inhalts
0098selten gespielt. Stavenhagen zügelte die ersteren voll-
0099kommen und erhellte das verwirrende Dunkel des letzteren
0100nach Möglichkeit. Es ist dies eine Phantasie im pathologischen
0101Sinne, das Phantasiren eines Fieberkranken, dem lockende und
0102wüste Bilder in wirrer Flucht erscheinen. Vergebens sucht er sie
0103zu deuten, festzuhalten, zu verbinden; seine Erregung steigert
0104sich endlich bis zur Tobsucht, aus welcher er in tiefste Er-
0105mattung hilflos zurücksinkt. Ein psychologisch merkwürdiges,
0106aber musikalisch durchaus unerfreuliches Stück. Wenn Liszt,
0107der begeistertste Verehrer Chopin’s, von dieser Composition
0108sagt, sie stehe als ganz pathologisch außerhalb der Sphäre
0109der Kunst, so ist dem nichts weiter beizufügen. Es wird er-
0110zählt, daß Chopin, als er des Nachts diese eben entstandene
0111Polonaise sich vorspielte, die Thür seines Zimmers aufgehen
0112sah und ein langer Zug polnischer Damen und Edelleute in
0113alterthümlicher Tracht an ihm vorbeischritt. Diese Vision
0114erfüllte ihn mit solchem Schrecken, daß er zur ent-
0115gegengesetzten Thür hinausflüchtete und jenes Zimmer
0116des Nachts nicht mehr zu betreten wagte. Ein
0117polnischer Maler, Kwiatowski, hat diese Vision „nach [2]
0118Chopin’s eigenen Angaben“ in einem Bilde dargestellt.
0119Am schönsten spielt Stavenhagen die Sachen seines Meisters
0120Liszt. Er macht sie sogar erträglich und interessant, denn
0121er spielt sie mit der Ueberzeugung und dem Enthusiasmus
0122einer beneidenswerthen Jugend und hält sich fern von dem
0123Raffinement und der Aufdringlichkeit sonstiger Liszt-Helden.
0124Man vergißt willig die kindischen Ueberschriften: „Franz
0125von Assisi predigt den Vögeln“, „Franz de Paula schreitet
0126auf den Wellen“, wenn Stavenhagen diese beiden brillanten
0127Etüden vorträgt. Die eine ahmt das Vogelgezwitscher nach,
0128die andere das Wogengeräusch — also in beiden Fällen
0129doch etwas Hörbares. Was soll man aber dazu sagen,
0130wenn Liszt einem lahmen Andante, das sich in eine Octaven-
0131Etüde stürzt, den erhabenen Titel gibt: „Il sposalizio;
0132nach Rafael
!“ Existirt denn kein unsterbliches Epos
0133mehr, kein Drama, kein Monument, kein Historienbild,
0134das sicher war vor Liszt’s unfehlbarem Nachmusiciren?
0135Das soll an Rafael erinnern? Das die Vermälung
0136Maria’s mit Joseph im Tempel darstellen? Nicht einmal
0137die Hochzeit eines Clavier-Fabrikanten mit einer Virtuosin.
0138Die falsche Tendenz, solche Schilderungen zu componiren,
0139ist gottlob im entschiedenen Absterben; der zweifelhafte Ge-
0140schmack, sie in Concerten zu cultiviren, dürfte auch nicht lange
0141anhalten. Auf diese getrillerten Heiligen-Legenden und Clavier-
0142gemälde „nach Rafael“ wirkte die Zigeunernatur in Liszt’s
014312. Rhapsodie wahrhaft erquickend.


0144Ein Virtuose, der sich den mildthätigen Luxus erlaubt,
0145ein großes Orchester-Concert zum Besten des Unterstützungs-
0146fonds des Wiener Conservatoriums zu geben, muß noch ein
0147anderes als blos musikalisches Vermögen besitzen. Wir
0148gratuliren Herrn Xaver Scharwenka recht herzlich dazu.
0149Daß der Ertrag ziemlich gering ausfiel, schmälert nicht das
0150Verdienst des Concertgebers, welchem, entsprechend den von ihm
0151bestrittenen Unkosten, ein großartiger Beifall zu Theil wurde.
0152Herr Scharwenka spielte zuerst sein bekanntes B-moll-Con-
0153cert, das er bereits im Jahre 1879 hier vorgetragen hat, und
0154hierauf einige Solostücke von Mendelssohn, Schumann und
0155Liszt. Durchwegs bewährte er sich als perfecter Virtuose von
0156tadelloser Correctheit, ausdauernder Kraft und unfehlbarer 
0157Bravour. Trotzdem hat mich sein Spiel weniger befriedigt,
0158als vor zehn Jahren. Scharwenka ist seit lange als ein aus-
0159gezeichneter Clavier-Pädagoge gesucht und berühmt. Der Pro-
0160fessor scheint in ihm den Poeten todtgeschlagen zu haben.
0161Was er spielt, klingt methodisch, abgecirkelt, nüchtern. Die
0162frühere Solidität seines Vortrages ist zur Pedanterie ver-
0163knöchert. Wie kühl und poesielos geriethen unter Schar-
0164wenka’s Hand die genialen „Kreisleriana“ von Schumann!
0165Solche Stücke wollen mit lebendigem Geist und tief
0166einwurzelnder Empfindung, wie etwas individuell Er-
0167lebtes, gespielt sein. Auf die Finger des Virtuosen
0168möchten wir da vergessen; bei Scharwenka vergaßen wir
0169auf seine Seele. Auch sein Anschlag ist härter und steifer
0170geworden; die vorlaute Herrschaft der linken Hand erinnerte
0171an das strenge Commando eines Officiers, der seine Com-
0172pagnie in Tact und Ordnung erhält. Den Beschluß machte
0173eine Symphonie in C-moll von der Composition des Concert-
0174gebers, welcher selbst dirigirte. Sie sucht durch die gewal-
0175tigsten Intentionen, durch das betäubendste Getöse, durch
0176ungewöhnliche Länge und Breite zu wirken. In dem Be-
0177streben, etwas äußerst Leidenschaftliches, Tiefes und Groß-
0178artiges zu schaffen, hat Scharwenka leider sein Talent über-
0179schätzt. Schon der erste Satz, eine Verherrlichung des grim-
0180migsten Pessimismus, ist geeignet, den Hörer von der Neu-
0181gierde nach dem Folgenden zu heilen. In der Form fällt
0182der Satz haltlos auseinander; die Logik symphonischer Ent-
0183wicklung erscheint abgedankt zu Gunsten eines sprunghaften
0184melodramatischen Wesens. Man glaubt mitunter eine er-
0185regte dramatische Opernscene ohne Gesang zu hören. Es
0186macht stets einen betrübenden Eindruck, wenn ein liebens-
0187würdiger Mann, der mit seiner Vernunft und dem Leben
0188auf dem besten Fuße steht, sich ein großes tragisches Schicksal
0189andichtet und durchaus für einen Hiob, Faust oder Manfred 
0190gelten will.


0191Es gab noch zwei große Orchester-Concerte, welche vom
0192Hofcapellmeister Hanns Richter dirigirt und vom glück-
0193lichsten Erfolg gekrönt waren: die Production des Vereins
0194„Nicolai“ und die Aufführung von Beethoven’s Festmesse 
0195durch die „Gesellschaft der Musikfreunde“. Der „Nicolai“ be-
0196nannte Unterstützungsverein unserer Philharmoniker eröffnete
0197sein Concert mit der (in Wien zum erstenmal gegebenen)
0198Fest-Ouvertüre über das Rheinweinlied op. 123 von Robert
0199Schumann. Das nicht bedeutende, aber wirksam instrumen-
0200tirte Stück empfiehlt sich immerhin als eine passende Er-
0201öffnungs- oder Schlußnummer für Concerte, in denen Chor
0202und Orchester beschäftigt sind. Fräulein Henriette Standt-
0203hartner sang die Arie der Susanna aus Figaro’s Hoch-
0204zeit mit silberheller, reiner Stimme, einfach und an-
0205spruchslos, wie es der Styl dieser Musik erfordert
0206und die natürliche Anmuth der jungen Künstlerin er-
0207warten ließ. Man dankte ihr mit anhaltendem, wohl-
0208verdientem Applaus. Die schönsten Leistungen boten aber die
0209Philharmoniker selbst, als wollten sie, in dem Bestreben, das
0210alljährliche Nicolai-Concert zu popularisiren, ihre eigenen
0211Productionen in den Abonnements-Concerten noch überbieten.
0212Der Sylphentanz aus Berlioz’Damnation de Faust“,
0213ohne Frage das Juwel der ganzen Cantate, wirkte so be-
0214rauschend auf das Publicum, daß dieses die Wiederholung
0215des Stückes erzwang. Nachdem der Sylphentanz wie ein
0216Klangmärchen vorübergerauscht war, hörten wir die zwei
0217letzten Sätze aus Beethoven’s C-dur Quartett op. 59
0218vom ganzen Streichorchester vorgetragen. Principiell ist ein
0219solches Vorgehen wider die Absichten des Componisten nicht
0220gutzuheißen. Die Ausführung war allerdings von hinreißen-
0221dem Schwung und bewunderungswürdiger Deutlichkeit des
0222Vortrages. Hätte das Concert denselben materiellen wie künst-
0223lerischen Erfolg gehabt, dann wäre dem Verein „Nicolai“
0224zu gratuliren. Hoffentlich gelingt es diesem, sich ein stabiles
0225Publicum zu erobern. Die künstlerischen Vorbedingungen dazu
0226erfüllt er in hohem Grade.


0227Für die gelungene Aufführung von Beethoven’s 
0228Missa solennis“ gebührt Herrn Hofcapellmeister Richter 
0229der aufrichtigste Dank. Das ist eine jener gigantischen tief-
0230sinnigen Schöpfungen, welche oft gehört und gut gehört sein
0231wollen, damit ihre Wunder wie ihre befremdenden Seltsam-
0232keiten uns völlig vertraut werden. Bekanntlich hat die aller-
0233erste vollständige Aufführung der Festmesse in Wien erst 1845,
0234also zweiundzwanzig Jahre nach deren Vollendung, stattge[3]-
0235funden, und zwar durch den alten Lannoy-Schmiedl’schen
0236Musikverein, den man noch gekannt haben muß, um sich
0237von der Naivetät seiner dilettantischen Leistungen einen
0238Begriff zu machen. Sechzehn Jahre später hat Her-
0239beck
mit der ihm eigenen nachhaltigen Begeisterung das
0240Werk wieder aufgenommen und in verhältnißmäßig kurzer
0241Frist dreimal gegeben. Wir schätzen dies als eines der
0242bedeutendsten Verdienste Herbeck’s, denn damit ward das Eis
0243des Vorurtheils und der Gleichgiltigkeit für immer gebrochen.
0244Dann ist die Festmesse je einmal unter Hellmesberger,
0245Brahms, Gericke und jetzt zum zweitenmal unter Hanns
0246Richter’s Leitung aufgeführt worden. Der Dirigent und
0247seine Künstlerschaar beherrschten die ganz außerordentlichen
0248Schwierigkeiten dieser Aufgabe mit seltenem Glück. Sie gaben
0249uns eine ernste, solide, mitunter begeisterte Aufführung, der
0250es an Energie und Mannigfalt der individuellen Charakte-
0251ristik nicht fehlte. Die Solopartien sangen Frau Wilt,
0252Frau Kaulich, die Herren G. Walter und Weiglein,
0253vier durch ihre musikalische Bildung und Treffsicherheit
0254unschätzbare Künstler. Herrn Walter möchte ich den Preis
0255zuerkennen, denn er sang stets mit Wärme, ohne doch in
0256Weichlichkeit oder dramatischen Ueberreiz zu gerathen. Ein
0257gutes Vorbild für die geschätzte Frau Kaulich, welche
0258den Ausdruck kirchlicher Musik mitunter durch tremolirend
0259leidenschaftlichen Vortrag ins Theatralische zog. Von Frau
0260Wilt habe ich in früheren Jahren die gefährliche Sopran-
0261partie wiederholt gehört, jedesmal mit der aufrichtigsten Be-
0262wunderung ihrer Kunst wie ihrer Stimme. Die Kunst ist
0263ihr geblieben, die Stimme — vordem ein Phänomen an
0264Größe und Schönheit — dürfte man nur wie von ferne
0265wiedererkannt haben. Sie hat nicht ihre Sicherheit, nicht
0266ihre Energie, wol aber ihren Klangzauber eingebüßt. Je
0267mehr Gewalt Frau Wilt auf das starke Anschlagen und Fest-
0268halten der hohen Töne verwendete, desto unerfreulicher wirkte
0269der Klang derselben. Es gehört zu dem Schmerzlichsten, am
0270letzten Krankenlager irgend einer wundervollen Stimme zu
0271stehen; jede ist eine Individualität, niemals wiederkehrend
0272und darum unersetzlich.