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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9069. Wien, Freitag, den 22. November 1889

[1]

Hofoperntheater.

(„Sonne und Erde“, Ballet in vier Bildern von F. Gaul und J. Haßreiter. Musik von J. Bayer.)


0003Ed. H. Die vier Jahreszeiten! Aus ihnen haben, seit
0004es eine Kunst gibt, die Poeten, Maler und Musiker ihre
0005holdesten Dichtungen geschöpft und werden es weiter thun,
0006so lange sich das Wunder dieser viersätzigen Himmelssympho-
0007nie wiederholt. Welch reicher, klarer Quell auch für den
0008Tanzpoeten, wenn er ein offenes Auge, Phantasie und
0009vollends einigen Humor besitzt! Das neue Ballet, für wel-
0010ches der Titel „Die vier Jahreszeiten“ uns besser gefiele,
0011als der steifere „Sonne und Erde“, bietet dem Zuschauer
0012einen bunten Wechsel von Landschaftsbildern, heiteren Scenen
0013und glänzendem Schaugepränge. Die Herren Gaul und
0014Haßreiter haben von ihren guten Einfällen mit freigebi-
0015ger, wenn auch nicht gleichmäßiger Hand gespendet. Die
0016Wunder des Frühlings ließen sich etwas dürftig an;
0017weder die sentimentale Aussaat, noch die komische
0018wollte recht gedeihen. Der pedantische Naturforscher,
0019der schwärmerische Dichterling, das empfindsame Mäd-
0020chen — sie sind schon stark verbrauchte Figuren.
0021Weit effectvoller führt sich der Sommer ein: in
0022einem eleganten Seebad der Riviera, dessen Badegäste
0023in koketten Schwimmkleidern durcheinander wimmeln und
0024sich von spanischen Zigeunern etwas vortanzen lassen.
0025Mit hinreißender, fast ausgelassener Leidenschaft tanzen
0026Fräulein Rathner, Herr Thieme und das Ballet-
0027personal dieses wirbelnde Bacchanale. Die poetische Signatur
0028des Herbstes, Jagd und Weinlese, bestimmt den Charakter
0029des dritten Landschaftsbildes. Ein vom Pferd gefallener
0030nervöser Baron und ein zutäppischer Wirth dienen als
0031komische Staffage. In dem Tanz der Winzer hüpft und
0032springt die ganze urwüchsige Lustigkeit des Volkes. Ein
0033Gewitterregen mit rasch nachfolgenden Donnerschlägen macht 
0034die Gesellschaft eilends zerstieben und den Vorhang fallen.
0035Nun kommt der Winter an die Reihe, der bekanntlich
0036auch seine Freuden hat. Wenn wir nur im Hofoperntheater
0037nicht gar so lange auf diese Freuden warten müßten! Für
0038das neue Ballet ist es ein Unglück — wir glauben kein
0039unverbesserliches — daß jeder der vier Jahreszeiten eine
0040„allegorische Erklärung“ vorausgeschickt ist, die mit geringen
0041Abänderungen immer dasselbe bringt und, obwol nur
0042wenige Secunden dauernd, doch eine übermäßig lange
0043Vorbereitung braucht. Wenn zu Anfang des Ballets Fräu-
0044lein Abel als „Sonne“ plötzlich in einem Meer von
0045goldenen Strahlen erglänzt, ihr zu Füßen Saturnus auf die
0046Weltkugel gebückt, da leuchtet eine freudige Ueberraschung
0047auf allen Gesichtern auf und macht sich in dröhnendem
0048Applaus Luft. Aber dabei sollte man es lieber bewenden
0049lassen. Sich viermal durch eine endlose Zwischenactmusik
0050(vor dem „Winter“ eine wahre Leichensymphonie) durchlang-
0051weilen zu müssen, um endlich den Teppichvorhang und dann
0052den Wolkenvorhang sich wieder öffnen zu sehen und aber-
0053mals die Sonne mit dem melancholischen Saturn anzu-
0054schauen, das ist ein bischen hart. Wie lästig und ernüch-
0055ternd, wenn die bei geschlossener Courtine vorgenommenen Zu-
0056rüstungen vor jeder Scene länger dauern, als die Scene selbst!
0057Dem ließe sich, wie uns dünkt, abhelfen. Der „Winter“ selbst
0058bringt den schönsten Moment des ganzen Ballets, ja das
0059überraschendste, herrlichste Bild, das wir überhaupt in
0060einem Ballet gesehen: die plötzliche, gleichzeitige Entzündung
0061eines mit Kerzen übersäeten riesigen Christbaums und zahl-
0062loser kleiner Christbäumchen in den Händen goldgelockter
0063Genien. Ein Zauber und zugleich der augenfälligste
0064Triumph des elektrischen Lichts. Haben uns die wunder-
0065baren Forschritte unserer modernen Beleuchtungstechnik auch
0066das Staunen beinahe abgewöhnt — in dieser wahrhaft
0067poetisch gedachten und ausgeführten Weihnachtsfeier ist ihre
0068Wirkung geradezu unbeschreiblich.


0069Sonne und Erde“ hat selbstverständlich einen Beifalls-
0070sturm erregt, der noch lange wirksam nachhalten wird. Wenn 
0071dennoch etwas diesen Erfolg beeinträchtigt hat, so war es —
0072abgesehen von den erwähnten scenischen Verzögerungen —
0073die überspannte Erwartung des Publicums. Mit dem Vorrecht
0074der Unersättlichkeit erwartete man, „Sonne und Erde“ werde
0075die Wiener Walzer sammt der Puppenfee tief in den
0076Schatten stellen. Das aber thut „Sonne und Erde“ keines-
0077wegs. Die „Wiener Walzer“ sind als ein nationales Genre-
0078bild von urwüchsigem Humor geradezu einzig. Ihre Musik
0079ist classisch, denn sie schöpft nur aus dem Allerbesten, was
0080die Tanzmusik besitzt: aus Franz Schubert, Lanner 
0081und den beiden Johann Strauß. „Die Puppenfee“
0082— man hat sie unklugerweise am selben Abend aufgeführt —
0083ist wiederum die reizendste kleine Schöpfung phantastisch-
0084komischer Tanzpoesie. Herrn Bayer’s Musik zur „Puppenfee“
0085darf man nachrühmen, daß sie immer graziös, manchmal
0086fein charakteristisch und — was die Hauptsache — niemals
0087langweilig ist. Im Vergleiche mit den beiden genannten
0088Divertissements erscheint „Sonne und Erde“ nicht so con-
0089sequent aus Einem Mittelpunkte heraus gestaltet, als Ganzes
0090nicht so originell und im Detail weniger neu, weniger witzig.
0091Auch Herr Bayer hat diesmal seine Puppenfee-Musik nicht
0092entfernt erreicht. Zwar verleugnet er nirgends den gewandten,
0093erfahrenen Balletcomponisten, allein die Erfindung hat ihn,
0094wie das ja mitunter passirt, stark im Stich gelassen; auch
0095die Musik zum „Frühling“ und „Sommer“ scheint er im
0096Winter seines Mißvergnügens componirt zu haben. Wenn es
0097gelingt, die langen Zwischenacte, in welchen Herrn Bayer’s
0098Muse sich am bedauerlichsten abplagt, erheblich zu kürzen,
0099dürfte auch alles Uebrige frischer klingen und stärker an-
0100sprechen. Was die Mitwirkenden betrifft, so müßten wir, um
0101Jedermann nach Verdienst gerecht zu werden, den ganzen sehr
0102langwierigen Theaterzettel abschreiben. Begnügen wir uns darum
0103mit den bekannten Namen der Tänzerinnen: Fräulein Abel,
0104Pagliero, Rathner, L. Balbo und der Herren
0105Frappart, Price, Thieme und van Hamme.


0106Das neue Ballet, im Styl den „Wiener Walzern“ und
0107der „Puppenfee“ verwandt, dürfte auch gleich diesen einen [2]
0108trefflichen Schwimmgürtel abgeben, um altersschwache Opern,
0109wie den „Betrogenen Kadi“, oder lahme, wie den „Vasall
0110von Szigeth“, über dem Wasser zu erhalten. „Sonne und
0111Erde“ wird das enorme Uebergewicht verstärken, welches das
0112heitere, fast zur Pantomime zurückgreifende Divertissement
0113bei uns thatsächlich über das stylmäßige große Ballet errun-
0114gen hat. Es dünkt mir dies ein erfreulicher Fortschritt des
0115gesunden Geschmacks, so sehr die erste Solotänzerin darüber
0116wehklagen wird. In Sachen des seriösen Ballets vollständig
0117Laie, ein undankbarer, gelangweilter Laie, würde ich mir so
0118verwegenen Ausspruch schwerlich erlauben, wenn die Erfah-
0119rungen der letzten Jahre nicht unzweifelhaft darlegten, daß
0120unser Publicum ebenso denkt. Gibt es etwas Ermüdenderes,
0121als einen ganzen Abend hindurch einem ernsthaften Ballet
0122d’action zu folgen, dessen ganze „Action“ blos in der Ge-
0123legenheitsmacherei für virtuose Tanzproductionen besteht?
0124Welche Geduldprobe, diese umständlichen getanzten Adagios,
0125diese endlosen „Variationen“, diese Riesenschlangen-Pas de deux!
0126Nur dem kleinen Areopag der ernsthaften Kenner und Enthu-
0127siasten gilt für das Entscheidendste, wie lange eine Tänzerin
0128auf den Fußspitzen vorwärts zu trippeln oder wie oft sie sich
0129um sich selbst zu drehen vermag. Für diese Balletgelehrten
0130braucht die kreiselnde Virtuosin nicht einmal dasjenige zu be-
0131sitzen, was uns zwar nicht als die wichtigste Eigenschaft,
0132wol aber als die erste Voraussetzung gilt: Jugend und
0133Schönheit.


0134Von den einst vielbewunderten mythologischen, grie-
0135chischen und römischen Balletten, in welchen Noverre das
0136Höchste der dramatischen Kunst überhaupt erblickte, hat man
0137sich längst abgewendet.*) Jetzt scheint man auch die großen
0140romantischen Ballette, wenn sie den ganzen Abend füllen, ab-
0141zulehnen und kleinere, heitere Genrebilder vorzuziehen. Wie
0142man der älteren italienischen Oper überdrüssig geworden ist,
0143in welcher die Bravour der Solosänger Alles und der Chor
0144Nichts war, so widerfährt es auch ähnlich dem Ballet: der 
0145natürlichere, realistischere Geschmack von Heute ergötzt sich mehr
0146an den lebensvollen Chorwirkungen, als an den Fußspitzentrillern
0147der prima Ballerina. In den drei Divertissements, welche neuestens
0148die drei größten Erfolge des Hofoperntheaters bezeichnen, hat
0149die erste Solotänzerin gar nichts zu thun; hingegen erfreut
0150uns ein Reichthum an lebensvollen, meist charakteristisch
0151nationalen Ensemble-Tänzen, zwischen welchen sich zwanglos
0152eine possenhafte Handlung schlängelt. Wie gesagt, nähern sich
0153die wirksamsten Partien der „Wiener Walzer“, „Puppen-
0154fee“, „Sonne und Erde“ der alten komischen Pantomime.
0155Wenn nicht Alles trügt, wird der nächste Fortschritt im
0156Balletwesen sich noch weiter in dieser Richtung bewegen.
0157Aus der fortbildungsfähigen Form der Pantomime wird ein
0158erfinderischer Balletmeister wirksame, noch unverbrauchte
0159Kräfte gewinnen, ohne auf die Reize des eigentlichen Tanzes
0160zu verzichten.


0161Die jetzt im Hofoperntheater herrschende Sitte, ein kur-
0162zes Ballet am Schlusse einer mehractigen Oper zu geben,
0163erweist sich als durchaus praktisch. Die größere Hälfte des
0164Abends ist der Oper, die kleinere dem Ballet gewidmet. In
0165früheren Jahren herrschte die umgekehrte Ordnung: man
0166begann mit einer einactigen Oper und ließ ein längeres
0167Ballet folgen. Das gesungene Vorspiel, meist mit zweiten
0168oder dritten Kräften besetzt, ward wenig beachtet, ja, von
0169einem großen Theile des Publicums, das erst zum Ballet
0170erschien, gänzlich übersprungen. Da gelangte das lustige
0171Singspiel „Der Dorfbarbier“ ins Kärntnerthor-Theater, und
0172das Verhältniß anderte sich mit Einem Schlage. Castelli 
0173erzählt in seinen Memoiren, wie unvergleichlich die beiden
0174Komiker Baumann und Weinmüller diese unverwüst-
0175liche Posse spielten, ohne Souffleur, beinahe improvisirend.
0176Alle Welt besuchte nun an solchen Abenden das Kärntner-
0177thor-Theater, blos wegen des Singspiels, nicht wegen des
0178Ballets. Heute erleben wir in Wien das Umgekehrte: die
0179kleinen Ballette „Wiener Walzer“, „Puppenfee“, „Sonne
0180und Erde“ locken das Publicum ins Theater und verschaffen
0181den an sie geketteten großen Opern ein volles Haus.

Fußnoten
  • *)Noverre, der sich selbst den „Shakespeare des Ballets“
    nannte, erklärt das Tragische für das eigentliche Feld des Ballets.