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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9059. Wien, Dienstag, den 12. November 1889

[1]

Josua“, Oratorium von Händel.

(Erste Aufführung in Wien am 10. November 1889.)


0003Ed. H. Ein Händel’sches Oratorium und „Erste Auf-
0004führung in Wien“? Wir wissen für diese befremdende, ja
0005unbegreifliche Verspätung weder äußere noch innere Gründe
0006anzugeben. Das Recht individueller Vorliebe unangetastet,
0007steht doch „Josua“ ohne Frage neben Händel’s besten Wer-
0008ken. Sechs Jahre nach dem „Messias“ componirt (1747),
0009gehört „Josua“ zu den spätesten Schöpfungen des Meisters
0010— also zu seinen vollkommensten. Die Reihe von Oratorien,
0011die ihn unsterblich gemacht, hat er alle in vorgerückten Jahren
0012geschrieben, darin Gluck und Haydn ähnlich, welche ihr
0013Größtes in einem Alter schufen, in welchem dem Künstler
0014sonst nur eine Nachlese vergönnt ist. Nicht die Werke
0015seines Alters, die seiner Jugend sind veraltet. Ungenieß-
0016bar nennen wir die vielen italienischen Opern des Jüng-
0017lings und Mannes, während wir an den Oratorien
0018des Greises uns noch lange erbauen werden. „Josua“
0019ist, wie die große Mehrzahl der Händel’schen Ora-
0020torien, dem Alten Testament entnommen. Möglich, daß
0021man in Wien nicht für dringend erachtete, den „Josua“
0022einem Publicum vorzuführen, welches Samson, Jephta,
0023Belsazar, Israel in Egypten, Judas Maccabäus kannte —
0024gerade wegen der Aehnlichkeit dieser alttestamentarischen Vor-
0025gänge. Da werden regelmäßig die Israeliten einmal geschlagen
0026und stimmen Klagelieder an, dann siegen sie wieder und
0027preisen Jehovah. Der Chor wechselt fast immer zwischen
0028diesen beiden Situationen, und er, der Chor, ist der eigent-
0029liche Held, ist Haupt- und Mittelpunkt aller Händel’schen
0030Oratorien. Die Sologesänge stehen daneben in zweiter Reihe.
0031Die Geschichte der Juden bot dem Tondichter große Volks-
0032bewegungen, wunderbare Begebenheiten, in welchen das
0033Schicksal der Nation mit dem ihrer Helden sich verknüpft.
0034Außerdem mochte die Vorliebe der Engländer für das Alte
0035Testament ihn in der Wahl dieser Stoffe bestärkt haben. 
0036Die Engländer, die heute noch ihren christlichen Kindern gern
0037alttestamentarische Namen geben (Esther, Rahel), wachsen in
0038intimer Vertrautheit mit allen Begebenheiten jener Vorzeit auf
0039und sehen die jüdischen Kriegshelden Josua, Saul etc. so lebendig
0040vor Augen, wie wir etwa den Blücher oder Wellington.
0041Auch der protestantische Norden ist tiefer eingelebt in die
0042Persönlichkeiten des Alten Testaments, als wir katholische
0043Süddeutsche oder gar die romanischen Völker. Trotzdem
0044dürfte allenthalben wahrzunehmen sein, daß jenes Stoffgebiet
0045in der Kunst einem stetig abnehmenden Interesse begegnet.
0046Packte uns nicht Händel’s gewaltige Musik, der stereotype
0047Wechsel von Siegen und Niederlagen des jüdischen Heeres
0048würde uns heute leidenschaftlichen Antheil kaum abgewinnen.
0049Diese Geschichten sind uns mehr ehrwürdig, als interessant;
0050wir fühlen sie, nur schwach mitvibrirend, wie einen weit ent-
0051fernten Ton, sehen sie vielleicht gar durch die Brille moderner
0052Forschung. Händel, der mit der Andacht unerschütterlichen
0053Glaubens zu seinem biblischen Helden emporblickte — was für
0054Augen würde er gemacht haben, wenn er ein Buch wie Renan’s 
0055vortreffliche „Histoire du peuple d’Israël“ erlebt hätte!
0056Von seinem frommen Josua heißt es darin: „Ich weiß
0057nicht, ob Josua mehr geschichtliche Wirklichkeit hat, als Jacob.
0058Aber gewiß würde der sanfte Jacob sich empört haben, hätte
0059er eine Menge Handlungen Josua’s sehen können, die später
0060für ruhmvoll galten. Jacob soll auf seinem Sterbebette
0061Simeon und Levi wegen Missethaten verflucht haben, die
0062im Vergleich mit Josua’s Eroberungszug als geringfügige
0063Recriminationen erscheinen.“ Moses selbst, der Vorläufer
0064und Beschützer Josua’s, ist für Renan „beinahe ein Egyp-
0065tier“, und seine Rolle „mehr die eines Häuptlings à la
0066Abd-el-Kader, als die eines Offenbarers (révélateur) von der
0067Art Mahomed’s“. Moses’ Erlebniß auf dem Sinai nennt
0068Renan „eine grandiose Legende, welche in den folgenden 4- 
0069bis 500 Jahren gleich einer Seifenblase anschwoll, um so
0070glänzender und farbiger, je leerer sie ist“. Heute muß ein
0071armes Menschenkind, das von modernen Bildungselementen
0072erfüllt und von dem Athem einer gewaltigen Wirklichkeit an-
0073geweht ist, sich selbst einen sanften Ruck geben, will es für
0074die Thaten Josua’s dieselbe Wärme aufbringen, welche 
0075Händel beseelt hat. Ja, das biblische Oratorium dünkt uns
0076eine halbverstorbene Kunstgattung: ihre lebendige Hälfte ist
0077die Vergangenheit, ist Bach und Händel — ihre todte Hälfte:
0078Heute und Morgen. Wir verstehen, warum Brahms
0079der einzige lebende Tonsetzer, welcher die Form des großen
0080Oratoriums zu bewältigen und beleben vermöchte — davon
0081trotz aller Aufforderungen fern bleibt.


0082Die Handlung von Händel’s „Josua“ hat sein Text-
0083dichter Thomas Morell in folgenden Hauptzügen gestaltet:
0084Josua hat die Israeliten eben durch den Jordan geführt, und
0085das Volk singt Jehovah ein Loblied. Jerichos Zerstörung wird
0086durch einen Engel befohlen und von Josua beschlossen. Unter
0087dem Schalle seiner Posaunen stürzen die Mauern von Jericho:
0088der Sieg wird mit Lobgesängen gefeiert. Der Krieg gegen die
0089Stadt Aï beginnt unglücklich, endet aber mit Sieg. Adonizedet 
0090wird unter dem von Josua bewirkten Stillstande der Sonne
0091geschlagen. Der Jüngling Othniel, welcher Achsah, die
0092Tochter des Stammesfürsten Kaleb, liebt, erobert für ihn
0093die Stadt Debir und erwirbt sich dadurch seine Braut.
0094Ein Dank- und Preislied macht den Schluß. Diesen
0095Stoff hat Händel in demselben Geiste und in gleicher Form
0096behandelt, wie seine übrigen Oratorien, d. h. zum Theil mit
0097genialer Schöpferkraft und Kunst, zum Theil in der flüch-
0098tigen, dem Zeitgeschmack nachgebenden Manier, die von seiner
0099fabelhaften Productivität unzertrennlich war. Wer heute irgend
0100ein Händel’sches Oratorium zum erstenmal zu hören be-
0101kommt (wie jetzt die Wiener den „Josua“), der ist sicher,
0102Großes und Schönes zu erleben. Aber er darf nicht er-
0103warten, in diesem neuen Oratorium auch überall Neues zu
0104hören. Vielleicht wird er behaupten, es sei diese und jene
0105Arie ihm vorher schon bekannt gewesen, und doch vernimmt
0106er sie thatsächlich zum erstenmal. Händel wiederholt sich eben
0107häufig, er kennt gar nicht das Bedürfniß, immer etwas
0108Neues zu sagen. Dieselben stereotypen Wendungen, Figuren,
0109Schlüsse kehren immer wieder. Es lag in der Anschauungs-
0110weise der älteren Meister, mit der größten Unbefangenheit
0111Anlehen bei sich selbst (und auch bei Anderen) zu machen.


0112Das Schwergewicht der Josua-Partitur liegt in den
0113Chören. Hier findet Händel’s Kunst die reichste Entfal[2]-
0114tung, die vollste Blüthe. Wir nennen nur einige davon, die,
0115unter einander sehr verschieden, alle auf gleicher Höhe musi-
0116kalischer Meisterschaft und unwiderstehlicher Wirkung stehen.
0117Da ist zuerst der Klagechor der geschlagenen Israeliten in
0118E-moll („Wie bald die stolze Hoffnung sank“), ein Gesang
0119von tiefschmerzlichem und doch ungemein würdigem Ausdruck.
0120Zwei Flöten — nur selten sind sie in dem Oratorium an-
0121gewendet — hauchen einen eigenartig weichen, elegischen Ton
0122über diese rührende Volksscene. Den stärksten Gegensatz dazu
0123bildet der berühmte Triumphgesang in der dritten Abthei-
0124lung: „Seht den Sieger!“ Die erste Strophe wird von einem
0125dreistimmigen Knabenchor gesungen und blos von der Orgel
0126(„tasto solo“) begleitet. Hierauf singt ein Frauenchor, von
0127zwei Flöten begleitet, die zweite Strophe.*) Endlich steigert sich der
0131Gesang im vollen Chor zur mächtigsten Wirkung; die be-
0132gleitenden Streichinstrumente erhalten eine glänzende Ver-
0133stärkung durch Oboën, Flöten, Hörner und Pauken. Dieser
0134Preisgesang, mit dem das Volk den heimkehrenden Sieger
0135begrüßt, wirkt durch seine ungemeine Einfachheit und Volks-
0136thümlichkeit. Händel hat das Stück später seinem Orato-
0137rium „Judas Maccabäus“ einverleibt; componirt ward es
0138für „Josua“. Nächst dem „Hallelujah“ aus dem „Messias“
0139genießt wol kein Stück von Händel eine solche Popularität in
0140England, als dieses „Seht den Sieger!“, das bei festlichen
0141Aufführungen selten fehlt. Ein Prachtstück ist der Lobgesang
0142der Israeliten in H-moll („Allmächt’ger Herr im Himmels-
0143kreis“), dessen Thema zuerst Josua nach Art eines Vor-
0144beters intonirt, um es hierauf dem Chor zu kunstvollster
0145contrapunktischer Behandlung zu überantworten. Von
0146Glanz und Kraftgefühl überströmt der Chor „Ehre
0147sei Gott!“ Der Mittelsatz „Die Völker beben“ bietet
0148ein merkwürdiges Beispiel von Tonmalerei, zu welcher nicht
0149blos die Instrumente, sondern auch die das „Beben“ aus-
0150drückenden Singstimmen herangezogen werden. Ein genialer
0151Zug musikalischer Malerei erglänzt auch in dem Chor, wel-
0152chen Josua’s Ausruf einleitet: „Du Licht des Tages, das
0153hoch am Himmel thront, hemm’ deinen Lauf!“ Nach einem
0154majestätischen Aufschwunge des Orchesters hält das Wort
0155Josua’s die Violinen auf dem hohen A fest. Sie behaupten 
0156hartnäckig diesen Ton; ein zweiunddreißigtactiger Orgel-
0157punkt, innerhalb dessen sich eine lange Reihe kämpfender
0158Accorde bewegt. Was die Arien im „Josua“ betrifft, so
0159sind die meisten mit ihrem steifen, vom Orchester in gleich-
0160mäßigen Abständen unterbrochenen Gesang und ihren Colo-
0161ratur-Passagen für uns rettungslos veraltet. Die erste Arie
0162des Kaleb („Du Held der Weisheit“), Josua’s Arie „Wie
0163Kidron’s Bach“, die beiden letzten Arien der Achsah sind in
0164der Wiener Aufführung ohne Schaden weggeblieben. Auch
0165manche von den athemversetzenden Singübungen, mit welchen
0166Josua seine Heldengefühle ausdrückt, würden einige Kürzung
0167vertragen. Von echt patriarchalischer Würde ist hingegen die Arie
0168des greisen Kaleb: „Sollt’ ich in Mamre’s Segensauen“,
0169von schlichter Empfindung die Arie Achsah’s: „All’ irdischer
0170Stolz“; lieblich und nicht ohne Zärtlichkeit Othniel’s Reci-
0171tativ und Arioso in der ersten Abtheilung. Eine hier weg-
0172gebliebene Arie des Othniel ist mir immer merkwürdig er-
0173schienen durch ihre nackte Einfachheit und ihre ganz volks-
0174thümliche, an englische Nationalweisen erinnernde Melodie:
0175die „tempo di Gavotta“ überschriebene F-dur-Arie: „Kämpft
0176der Held, nach Ruhm begehrend“. Vielleicht stieß sich der
0177Dirigent an ihrem vom Styl des Ganzen abstechenden
0178Charakter; aber gerade das macht sie interessant.


0179Die von Herrn Hof-Capellmeister Richter dirigirte Auf-
0180führung verdient alles Lob. Der „Wiener Singverein“ und
0181das Orchester hielten sich durchwegs sehr tapfer. Ein unrichtiger
0182Einsatz in dem Chor „Seht den Sieger!“ war schnell ver-
0183tuscht. Die Solopartien betreffend, ist es männiglich be-
0184kannt, daß heute selbst die besten Opernsänger dem Händel’-
0185schen Styl entfremdet sind und nur mit einiger Mühe seine
0186reich colorirten Arien bewältigen. Dies vorausgeschickt, ge-
0187bührt den Leistungen unserer Solosänger im „Josua“ die
0188wärmste Anerkennung. Der Vortrag der Recitative erschien
0189uns jedoch zu starr und monoton; sie werden (fast in allen
0190unseren Oratorien) in Tact und Tonstärke zu gleichmäßig
0191gesungen, überhaupt zu sehr gesungen. Wir vermißten die
0192rhetorische Belebung, die wechselnde Beleuchtung, welche sich
0193dem verschiedenen Inhalt des Recitativs anzuschmiegen hat.
0194Die meisten Recitative im Josua sind ja dramatisch oder
0195lyrisch, die wenigsten blos erzählend, und Erzählen heißt noch
0196immer nicht Predigen. Der um die Mannigfaltigkeit des
0197Inhalts unbekümmerte, immer gleich starke und gleich schlep-
0198pende Vortrag der Recitative wird zu einem Bleigewicht für
0199die Composition und zu einer Geduldprobe für den Zuhörer.
0200Am wenigsten schien uns Frau Papier in diesen Fehler
0201zu verfallen; sie hat auch durch ihren beherzten Vortrag der
0202Schlacht-Arie im dritten Theil das Publicum aus bereits
0203drohender Lethargie glücklich aufgerüttelt. Die Sopranpartie
0204(Achsah) war einer jungen Sängerin, Fräulein Leonore
0205Bach, anvertraut, die zum erstenmal vor einem größeren
0206Publicum auftrat. Sie ist eine sehr musikalische Natur mit
0207einer Intonation und vortrefflicher Oekonomie des Athems, und
0208hat durch ihre helle, jugendfrische Stimme, wie durch ihren unge-
0209künstelten Vortrag den besten Eindruck erzielt. Wir können nur
0210wünschen, Fräulein Bach als Oratorien-Sängerin wieder zu be-
0211gegnen. Der Heldengestalt des Josua kam der kräftige Tenor
0212Herrn Winkelmann’s wohl zu statten. Als Kaleb war Herr
0213Weiglein maßvoll und correct wie immer. Elegische Par-
0214tien, wie diese, machen es freilich doppelt fühlbar, daß Herr
0215Weiglein seiner Stimme weichere Modulationen, über-
0216haupt Modulationen, nicht abzugewinnen vermag. Die
0217kleine Episode des Engels sang Fräulein Tschampa 
0218befriedigend. Das Publicum verfolgte die erste Hälfte des
0219Oratoriums sehr aufmerksam und beifallslustig; nach 2 Uhr
0220begann die gewöhnliche Flucht in größeren oder kleineren
0221Rotten. Dem ist, wie schon so oft gesagt, nur dadurch ab-
0222zuhelfen, daß man umfangreiche Aufführungen schon um
0223zwölf statt um halb Ein Uhr beginnen läßt. Dann wird der
0224Dirigent auch nicht genöthigt sein, ein Oratorium von an-
0225geblich „drei Abtheilungen“ ohne Pause als Ein ununter-
0226brochen fortlaufendes und dadurch doppelt ermüdendes Stück
0227abzuspielen.


0228Die Aufführung des „Josua“ ist trotz ihrer Verspätung
0229um 140 Jahre ein hochzuschätzendes Verdienst der Concert-
0230Direction und des Hof-Capellmeisters Richter. Es wäre be-
0231trübend für uns und beschämend für die „Gesellschaft der
0232Musikfreunde“, zu deren frühesten Traditionen ja der Händel-
0233Cultus gehört, wenn eines der großen Oratorien dieses
0234Meisters in Wien niemals eine Aufführung erlebt hätte.
0235Den „Josua“ wird Jeder von uns als ein werthvolles musi-
0236kalisches Erlebniß im Gedächtniß bewahren — als ein Kunst-
0237werk, das uns seinen Schöpfer, wenn auch nicht von einer
0238neuen, doch vielfach von seiner stärksten Seite gezeigt hat.

Fußnoten
  • *)In der Wiener Aufführung vermißten wir die Knabenstim-
    men und mit deren scharf abstechendem Timbre den von Händel be-
    absichtigten Contrast.