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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9033. Wien, Donnerstag, den 17. October 1889

[1]

Die beiden Schützen“ von Lortzing.

Erste Aufführung im Hofoperntheater am 15. October 1889.)


0003Ed. H. Unsere Freunde im deutschen Reich dürften es
0004mit einigem Erstaunen lesen, daß Lortzing’s komische Oper
0005Die beiden Schützen“ jetzt im Wiener Hofoperntheater zum
0006ersten-, zum allererstenmal gegeben wurde — volle 52 Jahre
0007nach ihrer Première in Leipzig! Dort hatte das lustige
0008Stück, mit welchem sich Lortzing als Operncomponist ein-
0009geführt, glänzende Aufnahme gefunden und bald darauf einen
0010sicheren Platz auf allen deutschen Opernbühnen. Die Haupt-
0011rollen waren den beliebtesten Leipziger Darstellern genau an-
0012gepaßt, Lortzing selbst gab den dummen Peter. Was hat der
0013vielseitig begabte Mann, der nebenbei Operncomponist, Text-
0014dichter, Capellmeister gewesen, nicht Alles gesungen und ge-
0015spielt während seines Engagements in Leipzig! Heute sang
0016er den Masetto oder Papageno, morgen spielte er den Fritz
0017Hurlebusch oder den Tischler im „Lumpazivagabundus“,
0018am nächsten Abend den Valentin im „Verschwender“
0019oder den Peter Ivanow in seiner eigenen Oper „Czar
0020und Zimmermann“. Und das Alles gleich liebenswürdig,
0021gleich lebendig in Spiel und Gesang. Lortzing war damals
0022bildhübsch, mit dunklen Locken und ausdrucksvollen braunen
0023Augen, stets gut gelaunt und voll lustiger Einfälle. Wie
0024sehr verändert, früh gealtert erschien er uns, als er im
0025Februar 1849 seine letzte Oper „Zum Großadmiral“ im
0026Josephstädter Theater dirigirte! Nur die leuchtenden Augen
0027unter den grauen Locken und der gefurchten Stirne ließen
0028den einst so lebensfrohen Mann wiedererkennen. Die thea-
0029tralischen Mißjahre, welche der Revolution von 1848 folgten,
0030hatten Lortzing in sorgenvolle Lage versetzt; hier in Wien,
0031als Capellmeister des Josephstädter Theaters, durchlebte er
0032den unheilverkündenden vorletzten Act seines Lebensdramas, 
0033dem in Berlin schnell der letzte folgen solle. Der Aermste
0034hat die Zeit der Tantièmen nicht erlebt. Das Josephstädter
0035Theater, das Lortzing’s letztes Werk ins Leben rief, hat auch
0036die meisten seiner früheren Opern in Wien zuerst gebracht:
0037im August 1842 den „Czar und Zimmermann“, im folgen-
0038den Jahr den „Wildschütz“ und „Die beiden Schützen“.
0039Mit dem „Waffenschmied“ und „Undine“ war 1846 
0040das Theater an der Wien dem Hofoperntheater weit
0041vorangegangen. Die Wiener Hofoper hat sich eigentlich um
0042Lortzing sehr wenig gekümmert; sie gab zwar den „Czar“
0043schon im Jahre 1842, ließ aber dann volle achtzehn Jahre
0044verstreichen, ehe sie den „Wildschütz“, und weitere fünf Jahre,
0045bevor sie den „Waffenschmied“ zum erstenmal aufführte.
0046Undine“ erschien auf dieser Bühne erst 1881, und jetzt erst,
0047ganz zuletzt, Lortzing’s erste Oper „Die beiden Schützen“.
0048Zunächst erklärt sich diese Verspätung wol aus der rasch vor-
0049greifenden Concurrenz der beiden genannten Vorstadttheater,
0050ebensosehr aber aus dem reichen Zufluß von Novitäten, die
0051in dem Jahrzehnt 18371847 unserer Großen Oper sich
0052darboten. Neue Werke von Donizetti und Verdi, von
0053Meyerbeer, Auber, Adam, A. Thomas erschienen
0054in rascher Folge, und da bei dem Publicum des Kärntner-
0055thor-Theaters italienische und französische Musik in höherer
0056Gunst stand, als die deutsche, so glaubte die Direction,
0057den anspruchslosen Lortzing leicht entbehren zu können. Hatte
0058sie doch sogar Spohr und Marschner auffallend ignorirt.
0059Heute ist das Verhältniß fast umgekehrt, im Guten wie im
0060Schlimmen. Sinn und Werthschätzung deutscher Musik haben
0061sich in Wien ungemein erhöht und verbreitet, das ist die
0062gute Seite. Das Uebel hingegen, welches jetzt der Wieder-
0063aufnahme Lortzing’s zu statten kommt, ist die außerordent-
0064liche Armuth an wirksamen neuen Opern, sowol aus Deutsch-
0065land wie aus Frankreich und Italien. Jede Opernbühne
0066sieht sich heute genöthigt, ältere Werke wieder aufzufrischen,
0067um einige Abwechslung in das Repertoire zu bringen.
0068Director Jahn hat diesen Weg von Anfang an eingeschlagen
0069und consequent fortgesetzt; ihm verdanken wir die zweite 
0070Neubelebung der bereits halbvergessenen Opern „Wildschütz“
0071und „Waffenschmied“, die erste Aufführung der „Undine“
0072und jetzt der „Beiden Schützen“.


0073Lortzing hat die Handlung einem französischen Vaude-
0074ville: „Les deux grenadiers“, entnommen, den Schauplatz
0075und die Personen jedoch in sein geliebtes kleinbürgerliches
0076Deutsch übertragen. Der Gastwirth Busch erwartet seinen
0077Sohn Gustav, der nach zehnjähriger Abwesenheit aus einem
0078langen Feldzug heimkehren soll. Aber vor dem Erwarteten
0079trifft ein anderer Soldat desselben Schützenregiments in dem
0080Städtchen ein, ein übermüthiger Geselle, Namens Wilhelm.
0081Er hat sich augenblicklich in Suschen, die Tochter des Gast-
0082wirths, verliebt und läßt es sich gefallen, für Gustav Busch 
0083gehalten und von seinem vermeintlichen Vater ins Quartier
0084genommen zu werden. Im zweiten Act kommt der wirkliche
0085Gustav Busch. Da der Vater ihn durchaus nicht erkennen
0086will und nach der Polizei schickt, beruft sich Gustav auf seine
0087im Tornister aufbewahrten Legitimations-Papiere. Man finde
0088aber in dem zufällig verwechselten Tornister nur eine Anzahl
0089Liebesbriefe und einen auf ganz andern Namen lautenden
0090Militärpaß. Dadurch in seinem Verdacht bestärkt, läßt
0091Busch seinen Sohn als Betrüger einsperren. Glücklicherweise
0092hat dieser das Herz Carolinens, der Tochter des Amtmannes
0093Wall, erobert, mit deren Hilfe er aus dem Arrest ent-
0094kommt. Nun tritt auch Wilhelm dazu, bekennt die von
0095ihm verübte Mystification und löst die ganze Ver-
0096wirrung. Das Stück endet lustig zu allgemeiner Zu-
0097friedenheit mit einer Doppelheirat. Wie man sieht,
0098bewegt sich Lortzing hier auf seinem eigensten Boden. Ein
0099kleines deutsches Städtchen mit seinen gutmüthigen Spieß-
0100bürgern, welche durch allerlei Verwechslungen und Miß-
0101verständnisse in ungewohnte Aufregung und in einen
0102Wirrwarr gerathen, bei dem es natürlich ohne Prügel und
0103Arretirungen nicht abgeht. Ein eingebildeter Amtmann, ein
0104bornirter Gastwirth, ein fluchender Dragoner, ein furcht-
0105samer dummer Junge — das sind die komischen Figuren,
0106zwischen denen zwei Liebespärchen, ein muthwilliges und [2]
0107ein mehr empfindsames, ihre harmlose Intrigue spinnen.
0108Lauter Typen, mit deren Charakteristik unser Componist
0109gründlich vertraut ist und die in leicht veränderter Form
0110uns auch sonst bei ihm begegnen. Die gut geführte Handlung
0111ergibt Scenen von unwiderstehlicher Komik, ohne dem Ver-
0112stande Zeit zu lassen, über Unwahrscheinliches tiefer nach-
0113zudenken. Die Hand des Textdichters Lortzing ist in dem
0114geschickten Ausbau der komischen Ensemble-Nummern nicht zu
0115verkennen, leider auch nicht in der Trivialität des Dialogs
0116und der Liedertexte.


0117Die neue alte Oper besitzt alle Vorzüge und Schwächen
0118Lortzing’scher Musik — wer könnte über diese noch etwas
0119Neues sagen! Mit dem „Wildschütz“ und dem „Waffen-
0120schmied“ stehen die „Beiden Schützen“ nicht auf gleicher
0121Höhe der musikalischen Erfindung und formellen Ausfüh-
0122rung; noch weniger erreichen sie den in seiner Weise classi-
0123schen „Czar und Zimmermann“. Sie klingen veralteter
0124durch allerlei zopfige Passagen, durch ihre Gesangstücke in
0125Polonaisenform, ihre häufigen Rosalien und langen Wieder-
0126holungen. Aber wir begegnen darin manchem Musikstück,
0127das wir zu den gelungensten des so liebenswürdigen Lortzing 
0128zählen müssen. Da ist vor Allem die drollige große Solo-
0129scene des dummen Peter, der, zugleich tanzend und meist auf
0130Einem Tone singend, seine Abenteuer erzählt. Sie ist voll
0131Leben, voll gesunder, natürlicher Komik; dieses einzige Stück,
0132das originellste in der ganzen Oper, würde hinreichen,
0133Lortzing zum Meister seines Fachs zu stempeln. Die
0134übrigen Einzelgesänge sind weit schwächer; die beiden
0135Strophenlieder Peter’s und Schwarzbart’s mit ihren
0136Possen-Refrains wollen uns heute nicht mehr in den
0137Rahmen einer Oper passen. Ungleich wirksamer sind
0138die Ensemblestücke, namentlich das erste Finale, in welchem
0139Busch irrigerweise den Wilhelm als seinen Sohn begrüßt,
0140dann das Quartett („Ihm Trost zu bereiten“) und das
0141Septett im dritten Acte („Stille Nacht“), in welchem die
0142„Comödie der Irrungen“ der im Dunklen einander suchen-
0143den, findenden und wieder verfehlenden Personen ihren er-
0144götzlichen Höhepunkt erreicht. Auch das mit der Verhaftung
0145Gustav’s endende zweite Finale wirkt durch dramatische
0146Lebendigkeit bei schön abgerundeter Form. Diese Nummern
0147ragen siegreich aus der Partitur hervor. Dennoch legen wir 
0148nicht geringen Nachdruck auf den einheitlichen, stets heiteren
0149und natürlichen Ton, welcher das Ganze beherrscht. Selbst
0150die sentimentalen Stellen Gustav’s und Carolinens treten
0151niemals durch übertriebenen Ausdruck aus dem Rahmen des
0152Lustspiels. In ernsten Momenten ist Lortzing’s Musik warm
0153und herzlich, aber niemals pathetisch. Es ist etwas Anderes,
0154ob Liebessehnen und Abschiedsschmerz in einer heroischen
0155großen Oper oder in einer kleinen komischen zu schildern
0156sind. Ein Genrebild darf nicht mit den Mitteln und For-
0157men des Historienbildes wirken. Das Hauptmotiv kann das
0158gleiche, der Styl muß ein anderer sein. Und diesen Grundsatz
0159hat Lortzing stets festgehalten. Seine durchwegs anspruchslose
0160Haltung und gesunde Natürlichkeit können allen seinen Nach-
0161folgern in der deutschen komischen Oper und vollends in der
0162Operette zum Muster dienen. Diese Eigenschaften wirken auf den
0163Hörer mit einer einschmeichelnd überzeugenden Kraft selbst
0164dort, wo sie unbedeutenderen Musikstücken anhaften, die ja
0165in keiner Lortzing’schen Oper ganz fehlen. Bei mancher gar
0166zu selbstverständlichen Melodie oder allzu kindlichen Scene
0167überfliegt uns wol ein Lächeln, das ungefähr sagen will:
0168Unbegreifliche Zeiten, welche sich an dergleichen ergötzen
0169konnten! Aber in dieses moderne Selbstbewußtsein mischt sich
0170doch ein bischen Neid auf unsere Voreltern, denen „Die bei-
0171den Schützen“ einen genußreichen, frohen Abend bedeuteten.
0172Sind jene „unbegreiflichen“ Zeiten nicht auch glücklichere ge-
0173wesen? Etwas wie ein Hauch aus jenen Tagen naiver Genüg-
0174samkeit schleicht sich doch in unser eigenes Herz, und wir
0175leihen den einfachen Melodien und harmlosen Spässen
0176ein freundliches Ohr, weil sie naiv und anspruchslos sind.
0177Wir sitzen vor der Bühne fast wie vor einem trauten
0178Kaminfeuer und wärmen uns, früherer Zeiten gedenkend,
0179an dem derben Humor der Handlung und der gemüthvollen
0180Fröhlichkeit der Musik.


0181Aber nicht blos den Zuhörern, auch den Opernsängern
0182von heute ist die bürgerliche gesunde Heiterkeit und Unbe-
0183fangenheit der Vorfahren abhanden gekommen; sie müssen
0184schon eine kleine Anstrengung machen, aus Eigenem dazu-
0185thun, durch den Reiz ihrer Persönlichkeit und die Kraft ihres
0186Talents nachhelfen, wo die Farben des Bildes verblaßt sind.
0187In diesem Sinne hat insbesondere Fräulein Renard, für
0188welche die „Beiden Schützen“ leider keine geeignete Rolle 
0189darboten, die Wirkung von Lortzing’s „Waffenschmied“ und
0190Wildschütz“ erheblich gesteigert. Die Aufführung der „Beiden
0191Schützen“, im Hofoperntheater war in allen Rollen tüchtig,
0192in einigen ganz vortrefflich. Zu diesen gehört vor Allem der
0193Peter“, des Herrn Stoll, der das Publicum außer-
0194ordentlich ergötzte. Herr Stoll producirte die auf einer
0195großen Bühne doppelt anstrengende Tanz-Arie mit Vir-
0196tuosität und bewährte sich in der ganzen Rolle als
0197ausgezeichneter Komiker. Herr Schrödter singt und
0198spielt den Gustav Busch mit der ihm eigenen herz-
0199gewinnenden Natürlichkeit und Frische. Schwarzbart, der
0200lustige Kamerad, ist Herr v. Reichenberg — „einen
0201besseren find’st du nicht“. In der Rolle des feurigen Mädchen-
0202jägers Wilhelm bewährte Herr Horwitz neuerdings das
0203schauspielerische Talent und die Vielseitigkeit, die ihn zu einer
0204der werthvollsten Stützen des Repertoires machen. Leider for-
0205dert diese Liebhaberrolle eine jugendlich frischere Stimme. Auch
0206von Suschen, die an allen Ensemble-Nummern wichtigen An-
0207theil hat, erwartet selbst der Bescheidenste etwas mehr Ton,
0208als Frau Anna Baier zu bieten vermag. Die bedeutendere
0209von den beiden Mädchenrollen gibt Fräulein Forster, die
0210als Caroline reizend aussieht und stets mit musika-
0211lischer Empfindung, rein und maßvoll singt. Ihr Spiel
0212würde durch eine ruhigere, natürlichere Haltung noch
0213gewinnen. Diese gutgemeinte Beflissenheit, mit Kopf,
0214Schultern und Armen lebhaft zu agiren, macht gerade
0215bei Fräulein Forster den Eindruck des Gekünstelten. Ihre
0216ruhelosen Bewegungen strömen nicht von Innen heraus,
0217nicht aus einem übersprudelnden Temperament, sondern er-
0218scheinen als ein äußerlich Angeheftetes. Warum wirkte ihr
0219Duett mit Gustav so besonders erfreulich? Weil die Hal-
0220tung Fräulein Forster’s da im schönsten Einklange stand
0221mit den ruhigen sanften Linien ihres Gesanges und ihrer
0222ganzen Persönlichkeit. Fräulein Ida Baier hat als
0223Jungfer Lieblich ihre berühmte Galerie alter Jungfern mit
0224einem neuen werthvollen Exemplar bereichert. Der Wirth,
0225der Amtmann und der Unterofficier werden von den Herren
0226Felix, Frey und Hablawetz mit guter Charakteristik
0227wiedergegeben. Uneingeschränktes Lob verdienen das exacte,
0228rasche Zusammenspiel und die discrete Begleitung des von
0229Herrn J. N. Fuchs dirigirten Orchesters.