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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9132. Wien, Sonntag, den 26. Januar 1890

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Concerte.


0002Ed. H. Sonntag Mittags sind im Gesellschaftsconcert
0003Schumann’sScenen aus Goethe’s Faust“ vollständig
0004gegeben worden. Nachdem unser Publicum das ganze Werk
0005in mehreren Wiederholungen bereits kennen gelernt, würde
0006es sich empfohlen haben, von den drei Abtheilungen, die ja
0007kein nothwendiger Zusammenhang verbindet, blos die dritte
0008aufzuführen. Sie ist nicht nur die weitaus schönste, sie ist
0009die einzige, welche unverkümmerten Genuß gewährt und uns
0010dem echten Schumann entgegenführt, wie wir ihn verehren
0011und lieben. Die Ouvertüre und die erste Abtheilung machen
0012einen geradezu betrübenden Eindruck; die zweite einen nur
0013stellenweise befriedigenden, in den Scenen nämlich, wo die
0014schöpferische Kraft des Meisters sich vorübergehend aus
0015schwerer Ermattung erhebt. (Die vier grauen Weiber, Faust’s
0016Tod.) In dieser ersten Hälfte seiner Faust-Musik waltet nicht
0017Schumann’s blühende Phantasie, sondern seine spätere Ma-
0018nier, jene Manier, die nicht weniger stereotyp und noch
0019verschwommener, unsinnlicher ist, als die Spohr’sche. Also
0020ermüdet und beinahe voreingenommen gelangt der Hörer an die
0021dritte Abtheilung, welche (bekanntlich mehrere Jahre früher,
0022in Schumann’s bester Zeit concipirt) von Anfang bis zu
0023Ende in hehrer, eigenartiger Schönheit strahlt. Uebereinstim-
0024mend mit unserem bereits vor mehreren Jahren gemachten
0025Vorschlag hatte Herr Hofcapellmeister Hanns Richter ur-
0026sprünglich nur den dritten Theil, „Faust’s Verklärung“, auf
0027das Programm gesetzt. Liszt’sSieben Seligkeiten“, welche
0028vorangehen sollten, hätten wir allerdings nicht als Einleitung
0029dazu verlangt; wozu uns durch sieben magere Jahre zu dem
0030einen fruchtbaren durcharbeiten? Die vollständige Faust-Auf-
0031führung, zu welcher man aus mir unbekannten Gründen
0032dennoch zurückgekehrt war, hat meine Ansicht nur bestätigt.
0033Durch lauter trübe, declamatorisch verschwommene Halbmusik
0034durch lauter Andantes und Adagios, die merkwürdigerweise
0035erst beim Eintritt der Lemuren, also gespenstischer Leichen,
0036einem Allegro Platz machen, gelangten wir gar spät zu dem
0037Schlußtheil, welcher nicht blos die Krone, sondern der Kern, 
0038das Wesentliche und Ewige des ganzen Werkes ist. Die Auf-
0039führung gelang tadellos von Seite des Orchesters und des „Sing-
0040vereins“; hingegen entsprach das sehr wichtige Frauenquartett
0041nur mäßigen Anforderungen an Klangschönheit, wie an Reinheit
0042der Intonation. Das scharfe, spitze Stimmchen des ersten
0043Soprans war hier gar nicht am rechten Platz und contra-
0044stirte schlimm gegen die voll und kräftig vortretende Alt-
0045stimme der Frau Gisela Körner. Das Soloquartett stand
0046übrigens viel zu weit, nämlich hinter das Orchester postirt,
0047während es doch unmittelbar hinter die Solosänger gehört.
0048Unter den Letzteren ragte Herr Peron vom Leipziger
0049Stadttheater hervor. Seine Stimme, ein Bariton von
0050mäßiger Kraft und schwacher Tiefe, wirkt sympathisch durch
0051jugendliche Frische und feine Schulung. Herr Peron dürfte
0052aus Stockhausen’s Schule stammen, jedenfalls nahm er
0053sich dessen unvergeßlichen Faust-Vortrag bis ins Kleinste zum
0054Vorbild. Sein durchdachter und warmer Vortrag gipfelte in
0055dem Monolog des sterbenden Faust. Auch als Doctor Ma-
0056rianus in der dritten Abtheilung erinnerte er an Stockhausen;
0057nur blieb dieser auch im Tone verklärten Entzückens männ-
0058licher, während Herr Peron hier den Ausdruck überfeinerte
0059und verweichlichte. Ohne Frage haben wir in Herrn Peron 
0060einen gebildeten, vornehm gearteten Sänger kennen gelernt,
0061einen Künstler, dessen Erfolg wohlverdient heißen muß. Die
0062übrigen Partien wurden von Fräulein v. Ehrenstein,
0063den Herren v. Reichenberg und Schittenhelm mit
0064aller Sorgfalt ausgeführt.


0065Fräulein Hermine Spies ist wieder in Wien erschienen,
0066um das Publicum mit Liedern zu erfreuen und die Kritiker
0067in Verlegenheit zu setzen. Was könnten wir denn Neues über
0068diese Lieblingssängerin des deutschen Reiches sagen, die sich
0069in den Vorzügen ihrer Stimme und ihrer Kunst gleich-
0070geblieben ist? Ueberdies waren gerade ihre köstlichsten Gaben
0071uns bereits aus den früheren Concerten der Künstlerin be-
0072kannt; das von ihr so leidenschaftlich dramatisirte „Waldes-
0073gespräch“ und die „Widmung“ von Schumann, die schön-
0074sten Lieder von Brahms: „Mainacht“, „Feldeinsamkeit“,
0075Minnelied“, „Vergebliches Ständchen“, Schubert’sEin-
0076samer“, „Wohin?“, „Ungeduld“ — Alles mit prächtiger
0077Stimme und deutlichster Aussprache gesungen, voll natür-
0078licher Laune in den lustigen, voll Empfindung in den ernsten
0079Gesängen. Nur bei den langsamen, pathetischen Stücken
0080glaubten wir zu bemerken, daß Fräulein Spies mehr als 
0081früher ihre Tiefe anstrenge, sie durch starke, breite Tonbil-
0082dung gleichsam aufbausche, wie dies vornehmlich in Schubert’s
0083Kreuzzug“ auffiel. Zum erstenmal hörten wir zwei volks-
0084thümlich anklingende schöne Lieder von Brahms: „Der
0085Ueberläufer“ und „Des Liebsten Schwur“, dann ein aus-
0086drucksvolles Liebeslied, „O Sonne“, von R. Heuberger.
0087Die Uhr“ von Dr. Karl Loewe, dem Balladen-Com-
0088ponisten, und nicht von „Ferdinand Loewe“, wie das Pro-
0089gramm angibt, ist musikalisch unbedeutend, wird aber wegen
0090ihres frommen allegorischen Textes gern in gemüthlichen
0091Kreisen von älteren Bassisten gesungen. In dem ersten
0092Programm von Fräulein Spies schien mir die tändelnde
0093Liebeslyrik doch etwas stark bevorzugt. Ich weiß nicht, wie
0094oft das Liebchen, das herzige Liebchen, der Schatz, der Liebste,
0095dann der Mondenschein, das Veilchen, die Nachtigall, der
0096Fink, die Drossel und ähnliche lyrische Requisiten vorkamen.
0097Den überschwänglichsten Gebrauch davon machen die beiden
0098nicht eben werthvollen neuen Lieder von d’Albert und
0099B. Scholz. Aus ersterem erfahren wir zu unserer Ueber-
0100raschung und Rührung, wie schön die Blumen tanzen 
0101und wie der Fink diese Blumen „so gern hat“! In Scholz’ 
0102Abendreihen“ beauftragt der Dichter zuerst den Mond mit
0103Grüßen an das Liebchen, nimmt ihm aber die Commission
0104wieder ab, „denn thät’ der Mond ihr zu tief in’s Auge
0105seh’n, so könnt’ er ja nimmermehr untergeh’n“!
0106Dergleichen zierlicher Unsinn will sehr mäßig ge-
0107nossen sein. In ihrem zweiten Concert, das eine
0108vorwiegend ernstere Physiognomie zeigte, mußte Fräulein
0109Spies nicht weniger als fünf Lieder wiederholen. Darunter
0110waren „Die Kartenlegerin“ von Schumann und „Wohin?“
0111von Schubert, zwei Lieder, welche besonders dadurch so
0112reizend wirkten, daß Fräulein Spies die Fülle ihres Organs
0113bändigte und fast durchwegs mezza voce sang. Fräulein
0114Spies wurde am ersten Abend von Herrn Rottenberg 
0115vortrefflich begleitet und von Herrn Anton Rückauf mit
0116Claviervorträgen abgelöst. Herr Rückauf spielte drei Nummern
0117aus Schumann’sKreisleriana“ und drei charakteristische
0118Stücke eigener Composition. Letztere, theils träumerisch
0119sinnend, wie das „Albumblatt“, theils leidenschaftlich auf-
0120geregt, wie die „Novellette“, zählen zu jener Gattung
0121sehr subjectiv gefärbter Stimmungsbilder, die weit
0122eindringlicher auf einen kleinen, gewählten Hörer-
0123kreis wirken, als auf ein großes Concert-Publicum. [2]
0124Dahin gehören im Grunde auch Schumann’sKreis-
0125leriana“ und „Davidsbündlertänze“, die genialen Vorläufer
0126fast aller späteren, so zahlreichen Genrebilder, Charakterstücke
0127und dergleichen. Diese Schumann’schen Stücke sind auch that-
0128sächlich erst zwanzig Jahre nach ihrem Entstehen allmälig in
0129den Concertsaal gedrungen. Jetzt, da sie durch den Zeit-
0130verlauf und den Ruhm ihres Autors als classisch geprägt
0131sind, hört man sie in allen Concerten, meist von jungen
0132Mädchen, die keine Ahnung von dem Wesen dieser Musik
0133haben und nur äußerlich, virtuosenhaft daran herumfingern.
0134Aehnlich verhält es sich auch mit einer ganzen Classe
0135Chopin’scher Clavierstücke. Herr Rückauf, der sich in
0136Schumann und Chopin tief eingelebt hat, fand als Spieler
0137wie als Componist verdiente Anerkennung. Das zweite
0138Concert von Fräulein Spies vermittelte uns die Bekannt-
0139schaft des Clavierprofessors am Frankfurter Conservatorium,
0140Herrn James Kwast. Als Schwiegersohn Ferdinand Hiller’s
0141und Gatte der geistreichen Toni Hiller, die unter Laube eine
0142Zierde unseres Stadttheaters gewesen, erschien Herr Kwast 
0143unter doppelt günstiger Vorbedeutung. Er bewährte sich im
0144Vortrage mehrerer kleiner Stücke von Scarlatti, Brahms,
0145Hiller etc. als ein correcter und fertiger Spieler.


0146Den reinsten und höchsten Genuß in dieser musikalisch
0147überreichen Woche hat uns Joseph Joachim bereitet. Ein-
0148mal als Interpret des Beethoven’schen Concerts, das von
0149ihm ebenso meisterhaft gespielt, als vom Orchester schlecht
0150begleitet war, sodann an zwei Abenden als Quartettspieler.
0151Die drei Partner seines berühmten Quartetts waren aus
0152Berlin mitgekommen: die Herren de Ahna, Wirth und
0153Hausmann. Wenn das Ideal eines Quartettvereins
0154darin besteht, daß alle vier Spieler vortreffliche Künstler
0155und in ihrem Zusammenspiel von Einem Geiste, Einem
0156Gefühl, Einer Technik sind, dann kommt Joachim’s 
0157Quartett diesem Ideal so nahe, als es auf Erden möglich
0158ist. Von Joachim selbst braucht hier kaum mehr gesprochen
0159zu werden; sein Quartettvortrag athmet dieselbe künstlerische
0160Weihe und erquickende Gesundheit, dieselbe prunklose, durch
0161und durch musikalische Natur, wie sein Solospiel. Es wurde
0162vor Jahren einmal die Frage gestreift, ob Joachim, der große
0163Virtuose, der geborene Solist, sich auch vollständig für das
0164Quartett eignen werde? Gewiß ist seine musikalische Persön-
0165lichkeit eine so mächtige, daß er selbst am zweiten Pult die
0166allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zöge. Allein er fühlt
0167sich im Quartett immer nur als der Erste unter seines-
0168gleichen und tritt nicht um Haaresbreite aus dem Rahmen
0169des Ganzen. An mancher Stelle hatte ich sogar eine größere
0170Kraftentfaltung erwartet, als wir zu hören bekamen; sei es,
0171daß Joachim sich im Interesse des Ganzen besondere Mäßi-
0172gung auferlegte, sei es, daß die von ihm gewählte Geige
0173mehr durch Süßigkeit des Klanges, als durch mächtigen Ton
0174wirkt. Von seinen drei Mitspielern hat sich längst ein Jeder
0175selbstständig einen Namen gemacht. Den trefflichen Violon-
0176cellisten Robert Hausmann kennt Wien als einen der
0177ersten Meister seines Instruments; im Quartett ist er
0178Wurzel und Stamm des ganzen Baumes, wie Joachim dessen
0179Krone ist. Herr Emanuel Wirth entlockt der Bratsche jenen
0180resonanzvollen, dabei halbverschleierten Ton, der ihren Zauber
0181ausmacht. Herr de Ahna, früher der anerkannte Prim-
0182spieler eines eigenen Quartettvereins, weiß sich jetzt der ersten
0183Geige unterordnend, aber doch innerlich beziehungsvoll anzu-
0184schließen. Es muß eine ungewöhnliche Autorität sein, welcher
0185solche Männer sich willig unterordnen. Doch ist dies nicht
0186mehr das rechte Wort; anfangs mochte „Unterordnung“
0187sein, was jetzt, nach längerem Bestande des Quartetts, ein
0188vollkommenes Sicherstehen, ein musikalisches Ineinander-
0189leben geworden ist — vier Herzen und Ein Schlag. Unbe-
0190schadet der eigenen unschwer erkennbaren Individualität jedes
0191Einzelnen, wirken sie doch Alle im Sinne Joachim’s zu-
0192sammen zu einer bewunderungswürdig treuen, objectiven
0193Verkörperung der Ideen des Componisten.


0194Jedes von den sechs vorgetragenen Quartetten war im
0195Styl und Geist des Tondichters aufgefaßt und ausgeführt.
0196Mit hinreißender jugendlicher Frische wurde Haydn’s 
0197G-dur-Quartett gespielt, das in seiner köstlichen Einfachheit
0198genial genannt werden muß. Ein schärferer Gegensatz dazu
0199läßt sich kaum denken, als Beethoven’s Cis-moll-Quartett 
0200op. 131, und doch war dessen Ausführung ebenso styl- und
0201charaktervoll, wie der Vortrag des Haydn’schen. Nicht an der
0202Aufführung, sondern an der Composition lag es, daß mich
0203Joachim mit Beethoven’s E-moll-Quartett noch weit inniger
0204faßte. Die Rasumowsky’sche Trilogie, welcher das E-moll-
0205Quartett angehört, bildet bereits einen Uebergang, eine Brücke
0206zu den letzten Quartetten Beethoven’s; für mein Theil ge-
0207stehe ich unumwunden, daß mir der Weg lieber ist, als das
0208Ziel. So oft ich auch seit vierzig Jahren das Cis-moll-
0209Quartett gehört und gespielt habe, es ist mir noch immer
0210Studium und nicht Genuß, ein musikalisch-pathologisches
0211Phänomen und nicht ein beglückendes Kunstwerk. Um so 
0212beseligender klang mir Schumann’s A-moll-Quartett;
0213das Adagio ward Sphärenmusik unter Joachim’s Bogen.
0214Ebenso vollendet wie diese blaue Blume der Romantik trat
0215Mozart’s classisches C-dur-Quartett (Nr. 6 der Haydn 
0216dedicirten) in die Erscheinung. Wenn ich eine von den
0217Quartettleistungen Joachim’s als die relativ werthvollste be-
0218zeichnen sollte, ich würde die Aufführung von Brahms’ 
0219B-dur-Quartett nennen. Ein Werk voll Geist, Originalität
0220und höchster Kunst des Quartettsatzes, ist es durch seine häu-
0221figen rhythmischen Verschiebungen und Complicationen, durch
0222sein feines polyphones Geäder, wie durch seine wechselnden
0223Stimmungen sehr schwierig zu vollkommener Klarheit heraus-
0224zuarbeiten. Man wird mir einwenden, Beethoven’s Cis-
0225moll-Quartett sei noch schwieriger aufzufassen und darzu-
0226stellen. Zugestanden; aber es ist doch seit 40 Jahren all-
0227mälig von allen besseren Quartettvereinen aufgenommen,
0228wird heute bereits von der zweiten Generation gespielt und
0229häufig gespielt. Beethoven’s letzte Quartette sind unseren
0230jüngeren Geigern schon von den Vätern her bekannt und, so
0231weit sie überhaupt assimilirbar, in Fleisch und Blut über-
0232gegangen. Anders verhält es sich mit dem Brahms’schen
0233B-dur-Quartett, welchem Hörer und Spieler noch
0234sehr neu gegenüberstehen. Erst das Joachim’sche Quartett
0235hat diesem Werk jenes liebevolle, fleißige Studium
0236gewidmet, das nothwendig daran gewendet werden muß. Der
0237Vortrag war von einer Klarheit der Phrasirung, von einem
0238feinen Auseinanderhalten und wieder energischen Zusammen-
0239fassen der Stimmen, dabei von einer einheitlichen Wärme,
0240daß allen Verehrern dieser Composition der Ausruf ent-
0241schlüpfte: Heute haben wir das Brahms’sche B-dur-Quartett 
0242eigentlich zum erstenmale gehört! Diesen seltenen Genuß in
0243seine Einzelheiten zu zerlegen, muß ich mir versagen. Das
0244Joachim’sche Quartett wehrt sich gegen lange Recensionen.
0245Als das ältere Quartett der Gebrüder Müller in den
0246Dreißiger-Jahren Deutschland entzückte, schrieb ein Bewun-
0247derer desselben: „Wären unsere Kunstzustände im Allgemeinen
0248von der Vollkommenheit, wie die Leistungen jener vier
0249Männer waren, dann brauchte die Kritik einfach nicht zu
0250existiren; denn wo Einer der Vollendung in ihrer schönsten
0251Lichtgestalt entgegentritt, da hört die Reflexion auf. Kunst-
0252kennerschaft, Kritik, Lob, Tadel u. dgl. ist unnützer Wort-
0253ballast beim Genießen solcher Schönheit, die nur glückliche
0254Menschen
schafft.“