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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9193. Wien, Freitag, den 28. März 1890

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Concerte.


0002Ed. H. Karl Goldmark hat im Laufe von drei
0003Monaten zwei große Erfolge errungen: zuerst mit seiner
0004Frühlings-Ouvertüre“ und jetzt mit der „Ouvertüre zum
0005Gefesselten Prometheus des Aeschylos“. Letztere
0006wurde im Philharmonischen Concert unübertrefflich gespielt
0007und mit lautem, einstimmigem Beifall aufgenommen. Die
0008Ouvertüre, eine der besten, reifsten Compositionen Gold-
0009mark’s, reizt nicht blos durch die heiße Energie des Aus-
0010drucks, sie hat auch musikalischen Gehalt und über-
0011sichtliche Form. Es geht darin wirklich etwas vor, in
0012musikalischem Sinn, nicht in dem mißverständlichen
0013einer dramatischen Nachmalerei. Die Ouvertüre beginnt wie
0014feierliche Meeresstille mit einem Adagio in C-moll; dasselbe
0015drängt allmälig zu der heftigeren Bewegung, die in dem
0016Allegro-Satz (gleichfalls C-moll) in vollen Fluß geräth. Auf
0017das trotzige, scharf markirte Hauptthema folgt ein zweites in
0018C-dur von auffallend sanftem, fast idyllischem Ausdruck;
0019eine einzelne Oboë, dann eine Clarinette intonirt diese, von
0020leisen Accorden getragene Melodie. Mancher soll Anstoß ge-
0021nommen haben an dem friedlichen Ton dieses Seiten-
0022motivs. Ob es die Erinnerung an früheres Glück oder
0023die Hoffnung auf Erlösung andeute, überlasse ich
0024den Auslegekünstlern. Mir aber scheint es geradezu
0025Verdienst des Componisten, daß er die Folterqualen des
0026angeschmiedeten Prometheus vorübergehend unterbricht und
0027beschwichtigt, ihn und uns gleichsam Athem schöpfen läßt.
0028Dieser Contrast war musikalisch nothwendig; in einem
0029Orchesterstück verlangen wir zuerst Musik und dann erst Tra-
0030gödie, so weit sie in ersterer lösbar ist. Bald bricht die
0031Energie des ersten Themas wieder hervor und steigert sich
0032zu stürmischer Empörung. Man bemerke die von vier Posaunen
0033durch eine Octave chromatisch heraufgeführten verminderten
0034Septimen-Accorde. Ein von allen Streichinstrumenten in
0035stärkstem Fortissimo ausgeführtes anhaltendes Tremolo —
0036der Höhepunkt der tragischen Situation — schwächt sich all-
0037mälig ab; immer langsamer und leiser nähert sich das Ende:
0038ein ruhiges Ausathmen auf einem langen, verhallenden C-dur-
0039Accord. Die Prometheus-Ouvertüre bedeutet eine weitere be-
0040wußte Klärung von Goldmark’s starkem, aber turbulentem
0041Talent; erfreuliche Anzeichen waren schon in der „Frühlings-
0042Ouvertüre“, sowie in den neuesten Liedern wahrzunehmen,
0043welche von dem declamatorischen Princip der modernen
0044Liederkunft sehr merklich wieder zum Melodischen einlenken.
0045Man weiß, daß Goldmark vorzugsweise tragische Stoffe,
0046leidenschaftliches, unversöhntes Ringen liebt und daß
0047er im Ausdruck dieser Liebe nicht schüchtern ist.
0048Ich konnte mich deßhalb einiger Besorgniß nicht erwehren,
0049als Goldmark sich gerade den „gefesselten Prometheus“ aus-
0050suchte. Wird der scheußliche Geier, der an Prometheus’
0051Leber hackt, sich nicht zugleich in unsere Ohren verbeißen?
0052Wird nicht statt des Helden unversehens sein Bruder Epi-
0053metheus auftauchen und aus der berüchtigten Büchse der
0054Pandora Alles auffliegen machen, was die Musik an bösen
0055Stechfliegen besitzt? Nichts von alledem ist geschehen. Trotz
0056der einschneidenden, im Feuer des stärksten Orchesters heiß-
0057geglühten Tragik dieser Composition habe ich geradezu Ab-
0058stoßendes, Häßliches nicht darin bemerkt. Mit reinen Drei-
0059klängen läßt sich freilich ein Prometheus ebensowenig machen,
0060wie eine Revolution mit Rosenwasser. Aber Goldmark’s
0061Verdienst ist es, daß er sich nicht in kleinlich ausmalendes
0062Detail verloren, sondern stets das große Ganze im Auge
0063behalten und aus seinem gefährlichen Stoffe ein musikalisches
0064Kunstwerk geschaffen hat. Um vollkommen zu verstehen, was
0065mit diesen Worten gemeint ist, brauchte man im Philharmo-
0066nischen Concert nur noch ein Weilchen nach Goldmark’s
0067Ouvertüre sitzen zu bleiben und sich die „Dante-Symphonie“
0068von Liszt anzuhören. Wo die Nothwendigkeit steckte, diese
0069Großthat einer ausartenden Impotenz neuerdings vorzuführen,
0070obendrein wenige Tage nach dem „Fegefeuer“ des Berlioz’schen
0071Requiems, ist schwer zu enträthseln. Um meinen ganz indi-
0072viduellen Eindruck zu schildern: es ist mir diese Liszt’sche
0073Hölle“ wieder genau so komisch vorgekommen, wie vor zehn
0074Jahren. Kann wirklich Jemand ernsthaft bleiben, wenn gleich
0075anfangs nach je acht Tacten sich die satanischen Schläge
0076von Becken und Tantam entladen, oder wenn die Fagotte
0077mit der auf ihren allertiefsten Tönen trillernden Clarinette
0078die Stelle zu meckern beginnen, welche die Partitur (S. 89)
0079für „lästerndes Hohngelächter“ erklärt? Liszt’s „Hölle“, in
0080welcher der Programmverfasser Richard Pohl mit unbewuß-
0081ter Satire „chimärenartige Accente einer wüthenden
0082Ohnmacht
“ erblickt, läßt man sich übrigens noch immer
0083lieber gefallen, als sein „Fegefeuer“. Es ist wenigstens Leben
0084darin und einiger Spaß. Die Schrecken dieser Hölle ver-
0085schwinden gegen die trübselige Langweile des Liszt’schen
0086Fegefeuers. Es dauert unendlich lange, bis uns Liszt end-
0087lich doch in das „Paradies“ hineinsehen und die gereinigten
0088Seelen auf symbolischer Leiter, nämlich (nach Pohl) „in
0089mächtiger, palestrinischer, sozusagen dogmatischer Scala
0090zum Himmel aufsteigen läßt. Wenn es im Himmel wirklich
0091so langweilig sein sollte, dann wird der frömmste Christ gern
0092auf der „dogmatischen“ oder irgend einer anderen Leiter
0093wieder herabzusteigen versuchen.


0094Vor der Liszt’schen Symphonie spielte Frau Hopekirk 
0095mit den Herren Rosé und Kukula ein Concert für Cla-
0096vier, Violine und Flöte von S. Bach. Trotz der guten
0097Ausführung vermochte das Stück nicht sehr anzusprechen.
0098Schon das erste Allegro — ein erweitertes Präludium, in
0099welchem sich ohne Pause und ohne contrastirende Gegen-
0100sätze unablässig dieselben Figuren abrollen — ermüdete durch
0101seine lange Ausdehnung. Weder hier noch in dem fugirten
0102Finale vermag die äußerste contrapunktische und harmonische
0103Kunst viel auszurichten gegen den Druck der Monotonie.
0104Das von den drei Solo-Instrumenten ohne Orchester aus-
0105geführte Adagio klingt sehr leer, weil dem Clavierpart zwi-
0106schen der hochliegenden Melodie und dem durchaus ein-
0107stimmig fortschreitenden Baß die harmonisch füllende
0108Mitte fehlt. In der Ausgabe der Bach-Gesellschaft fehlt
0109allerdings jede Bezifferung über dem Baß, trotzdem ist es
0110schwer zu glauben, daß hier das Clavier nicht zugleich die
0111Aufgabe des Generalbaß-Instruments zu übernehmen hätte.
0112Für die herrlich ausgeführte Manfred-Ouvertüre von Schu-
0113mann verdient Hofcapellmeister Richter einen besonderen
0114Dank. Sie war die Krone des ganzen Concerts.


0115Unter den Concertgebern der letzten Woche haben sich
0116die Pianistin Fräulein Marie Prentner und der Violin-
0117Virtuose Fritz Kreisler besonders hervorgethan. Fräulein
0118Prentner, die wir bei ihrem ersten Auftreten als ein bedeu-
0119tendes, vielversprechendes Talent begrüßt haben, ist nach einer
0120längeren, zu erfolgreichem Studium verwendeten Pause
0121wieder vor das Publicum getreten. In dem Vortrag
0122Liszt’scher und Rubinstein’scher Stücke entfaltete Fräulein [2]
0123Prentner eine weit vorgeschrittene Technik. Darauf legen wir
0124jedoch weniger Gewicht, als auf die selteneren Vorzüge einer
0125eminent musikalischen Auffassung und Empfindung. Und diese
0126Eigenschaften der hochgebildeten jungen Dame adeln jede ihrer
0127Leistungen. Mit Schubert’s B-dur-Trio (in welchem die
0128Herren Winkler und Fimpel trefflich mitwirkten), dann
0129mit einigen weniger bekannten Stücken von Weber und
0130Schumann hatte Fräulein Prentner eine gute Wahl und
0131zugleich den Geschmack ihres kunstsinnigen, dankbaren Publi-
0132cums getroffen. — Herr Kreisler, ein junger Mann und
0133noch vor Kurzem Zögling des Wiener Conservatoriums,
0134darf heute schon ein Meister seines Instrumentes heißen.
0135Sein reiner, süßer, freilich nicht machtvoller Ton, seine be-
0136deutende Technik und geschmackvolle Vortragsweise machten
0137sich in dem Bruch’schen Violin-Concert, der Polonaise von Laub 
0138und in Wieniawski’sAirs russes“ auf das erfreulichste gel-
0139tend. — Bei dichtgefülltem Saal und unter stürmischem Beifall
0140gaben die Herren Rosé, Loh, Bachrich und Hummer 
0141einen außerordentlichen „Beethoven-Abend“. Das Rosé’sche
0142Quartett nimmt unter den Wiener Quartettvereinen un-
0143streitig den ersten Rang ein; es hat denselben in seinen
0144diesjährigen Productionen fester als je behauptet und ein
0145außerordentlich zahlreiches Publicum nicht blos angelockt,
0146sondern ständig erhalten. An dem Erfolg des Beethoven-
0147Abends hatte auch die Pianistin Fräulein Olga Segel 
0148reichlichen Antheil. Das Publicum im Großen und Ganzen
0149hat die pikante, zarte Russin stets geliebt, nun ist dies auch
0150einem Einzelnen, und zwar so nachdrücklich widerfahren, daß
0151Olga Segel als Fräulein zum letztenmal gespielt hat.
0152Ob für immer zum letztenmal? Das ist kaum zu besorgen;
0153sangen doch die meisten Virtuosinnen erst recht zu concertiren
0154an, wenn sie verheiratet sind.


0155Einen interessanten, nur etwas zu langen Concert-Abend
0156bereitete uns das Preisgericht der Wiener Beethoven-
0157Stiftung. Diese aus dem Jubiläumsjahr 1870 stammende
0158und von der Gesellschaft der Musikfreunde verwaltete Stiftung
0159ertheilt jedes Jahr einen Preis von 500 fl. für die beste
0160eingesendete Composition eines am Wiener Conservatorium
0161ausgebildeten Musikers. Bisher haben den Beethoven-Preis
0162erhalten: Hugo Reinhold für seine Suite op. 7,
0163Robert Fuchs für sein Clavierconcert und ein zweitesmal
0164für die C-dur-Symphonie, endlich Victor Herzfeld für 
0165die Musik zu „Traum ein Leben“. Nachdem im Jahre
01661887 keine völlig entsprechende Composition vorlag, sind
0167jetzt zwei Preise ertheilt worden, und zwar an Julius
0168Zellner
und Emanuel Tjuka. Als diesen zunächst-
0169stehend und „preiswürdig“ wurde ein Sextett von Ludwig
0170Thuille
(in München) proclamirt. Eine sehr lobenswerthe
0171und meines Wissens neue Einführung ist es, daß unseren
0172Siegern im musikalischen Wettkampf nicht blos ihr Geld
0173ausbezahlt, sondern auch ihre Compositionen aufgeführt wer-
0174den. Herrn Julius Zellner brauchen wir unseren Lesern
0175nicht erst vorzustellen; er ist ihnen seit Jahren als ein
0176tüchtiger, seine Kunst ernst und gründlich betreibender
0177Componist bekannt. Als solcher hat er sich in seinem neuen
0178Clavier-Quintett (D-dur) bewährt, das mit aufrichtigem
0179Wohlgefallen, wenngleich ohne besondere Aufregung ange-
0180hört wurde. Neu war uns Herr Thuille, dem wir es
0181zum Verdienst anrechnen, das ehedem so beliebte, jetzt
0182beinahe verschollene Zusammenwirken von Blasinstrumenten
0183wieder benützt zu haben. Die Instrumente seines B-dur-
0184Sextetts (op. 6) sind: Flöte, Oboë, Clarinette, Horn,
0185Fagott und Clavier. Die beiden ersten Sätze, die daraus ge-
0186spielt wurden, haben zwar nicht durch Originalität über-
0187rascht, wol aber durch ihre anmuthige Klarheit sehr freundlich
0188angesprochen. Die „Gavotte“ mußte wiederholt werden. Im
0189Gegensatz zu diesen beiden Preisconcurrenten hat Herr
0190Tjuka (Doctor der Rechte und Notariats-Candidat in
0191Wien) sich in seiner sechssätzigen „Suite für Streichorchester“
0192mehr dem älteren Styl genähert. Das Präludium wie das
0193fugirte Finale verrathen den Einfluß Seb. Bach’s, Andante
0194und Menuett jenen Haydn’s. Die Suite ist ein durchaus
0195respectables Werk, ja eine Art Merkwürdigkeit in unserer
0196Zeit, wo die jüngsten Conservatoristen schon wagnerischer als
0197Wagner componiren. Wenn Herr Tjuka künftig darauf be-
0198dacht sein wollte, nicht blos durch strenge contrapunktische
0199Verarbeitung, sondern auch durch den Reiz der Themen selbst
0200zu wirken, ferner das allzu lange, monotone Fortspinnen der-
0201selben Figur zu vermeiden, dann dürfen wir uns auf seine
0202nächsten Arbeiten freuen. Etwas Schales, Leichtfertiges wird
0203er schwerlich bringen.


0204Zwei unserer vornehmsten Chorvereine, der „Wiener
0205Männergesang-Verein
“ und der „Schubertbund“,
0206haben nach einander ihr getreues Stammpublicum im großen 
0207Musikvereinssaal versammelt. Das Programm des erstge-
0208nannten Vereins bot nicht viel Hervorragendes. Anerkennens-
0209werth ist die Pietät, mit welcher der Männergesang-Verein
0210— leider nur dieser — das Andenken des kürzlich ver-
0211storbenen Franz Lachner feierte, der trotz seiner vieljährigen
0212Wiener Thätigkeit und seiner Freundschaft mit Schubert 
0213hier gänzlich vergessen scheint. Der Lachner’sche Chor selbst
0214(„Kriegsgesang“) erhebt sich freilich nicht hoch über die Mehr-
0215zahl jener gesungenen Herausforderungen, deren „Blutdurst“
0216sich im Stoff geirrt zu haben scheint. Ein Männerchor von
0217Adolph Kirchl: „Es muß ein Wunderbares sein“, hat durch
0218seinen schönen, vollen Klang die Zuhörer gewonnen. Sonderbar
0219wirkt es immerhin, wenn über hundert bärtige Männer mit
0220aller Kraft ihrer Lungen unaufhörlich wiederholen: Es muß
0221ein Wunderbares sein, es muß ein Wunderbares sein —
0222um’s Lieben zweier Seelen! Das bekannte kleine Lied von
0223Liszt — sein bestes, weil sein einfachstes — macht uns
0224einen unvergleichlich tieferen Eindruck, als dieser Landsturm
0225von sich wundernden Männerstimmen. Die ganze zweite
0226Abtheilung des Concertes füllten die „Frithjof-Scenen“ von
0227Max Bruch. Die Composition, theils vollständig, theils
0228bruchstückweise hier wiederholt aufgeführt, hätten wir gern
0229gegen eine interessante Novität eingetauscht. Max Bruch 
0230selber hat ja seither so viel Neues geschrieben. Seine Ge-
0231schicklichkeit in effectvollem Chorsatz kann uns doch nicht schad-
0232los halten für die marklose, schleppende Erfindung. Herr
0233L. v. Bignio, bei der ersten Wiener Aufführung (1865)
0234ein ausgezeichneter Frithjof, war leider diesmal heiser gewor-
0235den und hat nur aus besonderer Gefälligkeit die anstrengende
0236Partie ausgeführt. Es versteht sich, daß das Publicum die
0237Opferwilligkeit des geschätzten Künstlers dankend anerkannte.
0238Fräulein Claus, eine talentvolle Schülerin des Conser-
0239vatoriums, wirkte als Ingeborg sehr erfreulich durch ihre
0240umfangreiche, klangvolle Sopranstimme, welcher nur der letzte
0241Schliff noch fehlt. Herr Chormeister Reim, welcher den
0242Frithjof“ dirigirte, hat eine sehr unangenehme, übertrieben
0243geschäftige Art, zu tactiren, welche trotzdem nicht immer die
0244beabsichtigte Wirkung erzielt. Wir begreifen noch immer
0245nicht recht, weßhalb man Herrn Kremser, dem langjähri-
0246gen bewährten Chormeister des Vereins, diesen zweiten Consul
0247an die Seite gesetzt hat. Zwischen den beiden Abtheilungen
0248spielte Herr Emil Baré das Adagio, und Finale des [3]
0249Mendelssohn’schen Violin-Concertes mit reinem Ton
0250und großer Fertigkeit, nur etwas farblos im Ausdruck.


0251Der „Schubertbund“ schmückte sein Programm mit
0252sehr beifällig aufgenommenen Liedervorträgen der Frau Bertha
0253Gutmann und zwei Violinpiecen des jungen Bachrich.
0254Außerdem brachte er mehrere Chornovitäten, die freilich mehr
0255gezählt als gewogen sein wollen. Ein Herr Edner hat
0256Uhland’s Refrain „Jetzt muß sich Alles wenden“ zu einem
0257Gedicht von vier langen Strophen ausgeweitet, welche Herr
0258Wilhelm Sturm mit großer Emsigkeit durchcomponirte.
0259Ein schwach concipirtes und fehlerhaft declamirtes Stück,
0260worin die Musik den einzelnen Worten nachläuft und dar-
0261über die Stimmung des Ganzen aus den Augen verliert.
0262Als neu war ferner angezeigt: „Meeresstille, Männer-
0263chor mit Harfenbegleitung von Franz Schubert“. Wir
0264waren nicht wenig neugierig, eine bisher völlig unbekannte
0265Composition Schubert’s zu hören. Das Räthsel löste sich
0266sehr einfach. Die Dirigenten des „Schubertbund“ ließen das
0267altbekannte Lied „Meeresstille“ vom ganzen Chor unisono 
0268singen und die Clavierbegleitung dazu von zwei Harfen
0269arpeggiren. Gewiß eine originelle, aber kaum nach-
0270ahmenswerthe Methode, sich neuen Schubert zu verschaffen.
0271Wohlklingend und anspruchslos ist Stoiber’sStille
0272Nacht“. Wir sind schon so weit gebracht, daß wir uns mit
0273diesen beiden Eigenschaften eines neuen Männerchors zufrieden-
0274geben. Keine Frage, daß die ganze Compositions-Gattung
0275immer mehr verdorrt und im selben Maß das öffentliche
0276Interesse daran. Für die harmlose Gemüthlichkeit von
0277Schubert’s „Dörfchen“ fehlt uns der Enthusiasmus unserer
0278Großeltern, und Etwas das innerhalb der Schranken unbe-
0279gleiteten Männerchors doch zugleich originell und geistig an-
0280regend wäre, wird nicht mehr geschaffen. Zu dem Besten aus
0281neuerer Zeit gehören noch immer die Chöre von Engels-
0282berg
, dessen „Wunderbrücke“ auch diesmal herzlichen Beifall
0283fand. Zu früh ist uns dieser hochbegabte, liebenswürdige
0284Mensch genommen worden. Er lebt fort in den Gesang-
0285vereinen und im Herzen seiner Freunde. Von allen Novi-
0286täten des „Schubertbund“ war „Mein Liedel“ von Ernst
0287Schmid die beste. Dieser Chor hat eine hübsche, bewegte
0288Stimmführung und ist durchaus piano gehalten — also ein
0289weißer Rabe unter seinen Brüdern, welche in der Regel das
0290kleinste Liedel mit großem Geschrei erledigen.