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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10094. Wien, Freitag, den 30. September 1892

[1]

Italienische Oper.


0002Ed. H. So hätten wir denn rasch nach einander die
0003vier allerneuesten italienischen Opern gehört: „Pagliacci“,
0004Il Birichino“, „La Tilda“ und „Mala vita“. Die Com-
0005ponisten Leoncavallo, Mugnone, Cilèa und Gior-
0006dano
— bisher ganz unbekannten Namens — sollen uns
0007das Beste des jungen Italien repräsentiren, wie es sich
0008heute um die aufgehende Sonne Mascagni schaart. Von
0009dieser Sonne haben die Vier unstreitig den stärksten Theil
0010des Lichtes, das sie nun unter verschiedenen Farbenbrechungen
0011wieder ausstrahlen. Der Einfluß Mascagni’s zeigt sich nicht
0012blos in zahlreichen musikalischen Einzelzügen, harmo-
0013nischen und rhythmischen Sonderbarkeiten, sondern haupt-
0014sächlich in dem autonomen Vorherrschen des dra-
0015matischen
Accentes. Die Annäherung beginnt natürlich
0016gleich beim Textbuch. Die tragische Dorfgeschichte als Opern-
0017genre, so neu und erfolgreich in der „Cavalleria“, reizte
0018unwiderstehlich zur Nachahmung; ihr Einfluß durchdringt
0019mehr oder minder jede der vier neuen Opern. Auch die
0020Pagliacci“ sind eine Dorftragödie von gewaltiger elek-
0021trischer Spannung, die sich in zwei Mordthaten aus Liebe
0022und Eifersucht entladet. „Il Birichino“ endet nicht so
0023schauerlich — die unglückliche Familiengeschichte lamentirt
0024sich nämlich zu einem „glücklichen Ausgang“ durch — aber
0025die Exposition, der Selbstmordversuch der Mutter, ist schlimm
0026genug und alles Weitere eitel Familienjammer, wie aus
0027Kotzebue’s weinerlichster Periode. Auf die Bajazzos und
0028den Gassenjungen folgt „La Tilda“, die Straßen-
0029sängerin, eine mordlustige und schließlich selbst ge-
0030mordete Furie. Den Zug beschließt in „Mala vita
0031die Dirne Cristina, die in einem Knäuel von Gemeinheit
0032unter dem Druck eigenen und fremden Lasters zusammen-
0033bricht. Also, so weit wir nur blicken, Unglück aller Art,
0034Verbrechen, Selbstmord und Todtschlag. Das göttliche
0035Lachen, das einst aus der italienischen Opera buffa über
0036ganz Europa schallte, es ist verstummt, vielleicht für immer
0037verstummt. Nachdem die Oper in Deutschland und Frank-
0038reich gesunde Heiterkeit nicht mehr kennt, war unsere letzte 
0039Hoffnung Italien, insbesondere Neapel, diese einst unerschöpf-
0040liche Goldgrube musikalischen Witzes und Frohsinnes.
0041Merkwürdigerweise sind die vier jungen Componisten,
0042deren Opern wir eben in Wien gehört, sämmtlich Nea-
0043politaner und im Conservatorium von Neapel ge-
0044bildet. Einer von ihnen, so dachten wir, wird uns
0045vielleicht mit einer komischen Oper überraschen, schon seiner
0046Vaterstadt zu Ehren, welche zu Ende des vorigen Jahr-
0047hunderts gleichzeitig die drei größten Meister der Opera
0048buffa besaß: Piccini, Cimarosa und Paësiello.
0049Von ihnen überging die Herrschaft auf Rossini und
0050Donizetti, welche ganz Europa mit den köstlichsten musi-
0051kalischen Possen und Lustspielen versorgten. Seither ist dieses
0052segenspendende Feld so gut wie verödet. Für Bellini’s senti-
0053mentale und für Verdi’s eminent pathetische Natur existirte
0054keine Opera buffa. So ist denn seit dem Tode Donizetti’s
0055diese hellste Saite der italienischen Lyra wie abgeschnitten.
0056Wo gibt es noch in dieser allgemeinen Traurigkeit herzhaft
0057lustige komische Opernmusik? Unsere Operetten können wir
0058doch nicht ernst nehmen, dazu sind sie zu wenig komisch.


0059Vielleicht ist es gerade Mascagni vorbehalten, uns
0060eines Tages mit einer Opera buffa zu überraschen. Im
0061Freund Fritz“ hat er das Komische mit leichter Hand ge-
0062streift und genug innere Heiterkeit besessen, um die elsässische
0063Idylle freizuhalten von falscher Tragik. Mascagni’s nächste
0064Oper, „Die Rantzau“, gehört demselben Boden, dem-
0065selben Stoffkreise an, ist aber ungleich ernster, stärker und
0066leidenschaftlicher. Der gegenseitige Haß der beiden feindlichen
0067Brüder, die hoffnungslose Liebe ihrer Kinder hüllt die
0068Handlung in ein Düster, durch welches kaum ein heiterer
0069Lichtstrahl den Weg findet. Ich hatte jüngst das Vergnügen,
0070die ganze Oper kennen zu lernen. Mascagni hat sie einem
0071kleinen Kreis von Freunden von Anfang bis zu Ende auf
0072dem Clavier vorgespielt und vorgesungen, die beiden (bereits
0073gestochenen) ersten Acte aus Noten, die beiden letzten
0074ganz auswendig, ohne auch nur bei einem Wort, einem Ton
0075zu stocken. Er sang sich mit seiner jugendlich kreischenden
0076Componistenstimme in solches Feuer hinein, daß er die
0077Ströme von Schweiß kaum bemerkte, die über sein Gesicht
0078flossen. Hatte das Clavier ein oder zwei Tacte Pausen, so
0079agirte Mascagni zu seinem Gesang wie auf der Bühne. 
0080Wer mit solchem Enthusiasmus seine Oper in Einem großen
0081Zuge vorsingt, ohne die Hörer mit Erläuterungen oder
0082Nebendingen aufzuhalten, der lebt voll und glücklich in seiner
0083Kunst, der ist kein Grübler — diesen individuellen Eindruck
0084nahm ich mit fort aus dieser merkwürdigen Production. Die
0085Wiener sollen „Die Rantzau“ im Monate Februar unter
0086Jahn’s Direction zu hören bekommen; sie dürfen auf sehr
0087Interessantes gefaßt sein. Mehr aus der Schule zu schwatzen,
0088scheint mir nicht schicklich. Einer ganz anderen poetischen
0089Sphäre gehört eine vierte Oper Mascagni’s an, die
0090auch der Hauptsache nach fertig ist: „William
0091Ratcliff
.“ Diese Jugenddichtung Heine’s, ein Nachtstück von
0092verwegenster Romantik, hat den jungen Mascagni schon vor
0093Jahren zur Composition gereizt. „Hier haben Sie das Text-
0094buch!“ ruft Mascagni und reicht mir ein in Mailand ge-
0095drucktes Buch: „Guglielmo Ratcliff. Tragedia di Enrico
0096Heine; Traduzione di Andrea Maffei.“ Das ist ja kein
0097Operntext, bemerkte ich, sondern eine vollständige, wie mir
0098scheint, sehr getreue metrische Uebersetzung des deutschen
0099Originals. „Ich habe es so componirt, wie es dasteht,“ ver-
0100sichert Mascagni. Ein merkwürdiger Fall, den sich Heine 
0101gewiß nicht hätte träumen lassen. Mascagni hat nichts hinzu-
0102gethan, nichts weggelassen; nur die Eintheilung der (bei
0103Heine einactigen) Tragödie in vier Acte ist von ihm.
0104Diese Eintheilung macht sich fast von selbst, entsprechend dem
0105viermaligen Scenenwechsel: Schloß des Mac Gregor, Diebs-
0106herberge, wilde Gegend am Schwarzenstein, Mac Gregor’s
0107Schloß. Mit Mascagni’s Musik darf die wunderliche Heine’sche
0108Tragödie gewiß auf einen besseren Erfolg hoffen als bei
0109jener Aufführung im Teatro Manzoni, deren A. Maffei in
0110seinem Vorwort recht betrübt gedenkt.


0111Wir kehren zurück zu den Novitäten im Ausstellungs-
0112Theater. Die Oper „La Tilda“ ist eine Verquickung von
0113modern realistischer Poesie mit der kindischesten Räuber-
0114Romantik der Zwanziger-Jahre. Beispiellos ist gleich die Un-
0115wahrscheinlichkeit der Exposition. Die Straßensängerin Tilda 
0116sinnt auf Rache an ihrem ungetreuen Liebhaber, der sich mit
0117einem angesehenen Fräulein verlobt hat. Zu diesem Zweck
0118besticht sie einen Gefangenhaus-Aufseher, daß er einen eben
0119zur Hinrichtung abgeführten Räuber entwischen lasse — bei
0120hellichtem Tag, vor allem Volk, mitten in Rom! Nach solchen [2]
0121Vorgängen dürfen wir uns gar nicht wundern, Tilda alsbald
0122ganz gemüthlich bei den Räubern im Walde installirt zu finden;
0123sie flickt die zerrissene Jacke des edlen Banditen, wofür
0124er ihr zerrissenes Herz mit einer Tarantella-Production be-
0125schwichtigt. Der ungetreue Liebhaber Gaston, auf der Hoch-
0126zeitsreise begriffen, wird sammt seiner jungen Frau von
0127den Räubern gefangen und herbeigeschleppt. Tilda geht mit
0128dem Dolch auf ihre Rivalin los, wird aber gerührt, als
0129diese zu beten anfängt; sie betet mit und läßt sich
0130dann von ihrem Gaston erstechen. Diese blutig dumme
0131Handlung rückt äußerst schwerfällig vom Fleck; jede
0132Scene wird durch langwierige, meist sentimentale, weich-
0133liche Musik hingehalten. In mancher Nummer verräth
0134der Componist, Cilèa, ein hübsches lyrisches Talent
0135und eine musikalisch geübte Hand; so in dem langsamen
0136Vorspiel zum dritten Act, in dem Ave Maria für drei
0137Frauenstimmen u. A. Als die Oper anfängt, langweilig
0138zu werden, kommt zu rechter Zeit ein Tänzerpaar mit einer
0139feurigen Tarantella hereingesprungen, welche das Publicum
0140angenehm erfrischt. Diesmal wurde das Da capo ausnahms-
0141weise wirklich verlangt. Auch sonst gab es in der „Tilda“
0142ziemlich viel Applaus und Hervorrufe, ohne daß man von
0143einem richtigen Erfolge sprechen könnte. Mit einer hinreißen-
0144den Darstellerin wie die Bellincioni in der Titelrolle hätte
0145die Oper allerdings ein ganz anderes Gesicht bekommen.
0146Signora Torresella, die personificirte Milde und
0147Mäßigung, ist nicht dazu geschaffen, uns die rasende Leiden-
0148schaft dieser Tilda glaublich zu machen.


0149Ein viel lebhafteres Interesse hat die dreiactige Oper
0150Giordano’s „Mala vita“ gefunden. Sie wirkte schon
0151durch den prickelnden Haut-goût ihres gewagten Stoffes.
0152Man hat von der Oper bisher das Verfänglichste und
0153Schmutzigste des Alltagslebens mit Recht ferngehalten, denn
0154die Musik bleibt immer ein ideales Reich, in welchem selbst
0155die stärksten Leidenschaften eine gewisse Grenze gegen das
0156Gemeine einhalten müssen. In den wenigen existirenden
0157Demimonde-Opern, wie „Traviata“, suchte man die an-
0158stößigen Personen mindestens durch das malerische Costüm
0159einer früheren Zeit in etwas idealere Umgebung zu rücken.
0160Die Traviata tritt in reichem Brillantschmuck auf und
0161credenzt ihrer noblen Gesellschaft Champagner. In „Mala 
0162vita“ sehen wir die Traviata, welche hier Cristina 
0163heißt, im Hauskleide Wasser vom Brunnen holen.
0164Moralisch gelten sie Beide ganz gleich, aber ihr ästheti-
0165sches Milieu ist ein Anderes. Der Alfredo unserer
0166Cristina ist ein ganz gemeiner junger Färber, Namens
0167Vito, welcher Blut hustet. Das kommt, wie uns mit großer
0168Aufrichtigkeit in der Introduction erzählt wird, von seiner
0169Liederlichkeit und diese wieder von seinem Liebesverhältnisse
0170mit einer koketten verheirateten Frau Amalia. Herrn Vito 
0171wird angst und bang vorm Sterben; er gelobt vor einem
0172Madonnenbild (das auf der Bühne durch eine lächerliche
0173leere Nische vertreten ist), die nächstbeste Dirne zu heiraten,
0174damit sie tugendhaft und er wieder gesund werde. Er sieht
0175Cristina am Brunnen und macht der Ueberglücklichen einen
0176Heiratsantrag. Lange soll ihr Glück nicht dauern. Das
0177arme Ding wird erst von Madame Amalia gereizt,
0178verhöhnt und beleidigt, dann von Vito, der wieder
0179in die alten Liebesnetze gefallen ist, schnöde ver-
0180lassen. Verzweifelt sinkt sie an der Thür des Hauses
0181zusammen, aus dem sie anfangs herausgekommen.
0182Damit endet die Oper, in welcher sich noch der nichtsnutzige
0183Gatte der Amalia mit einigen Saufbrüdern breit macht,
0184damit das Ganze hübsch auf dem Niveau der ordinärsten
0185Liederlichkeit bleibe. Die „Mala vita“ ist in ihrer dem Leben
0186abgelauschten unbarmherzigen Wahrheit spannend und ab-
0187stoßend zugleich, wie ja die meisten dieser realistischen Stücke.


0188Die Musik des Maëstro Giordano wirkt durch derb
0189zutreffenden starken Situations-Ausdruck, auch hie und da
0190durch eine zartere Stelle, wie z. B. das erste Auftreten
0191Cristina’s. Der dramatische Geist ist bedeutender an ihm,
0192als die musikalische Erfindung, das Temperament stärker,
0193als die Kunst. Die „Mala vita“ besteht fast aus lauter klei-
0194nen Stückchen Musik von verschiedenen Hitzegraden. Selbst-
0195ständig geformte, aus sich selbst sich musikalisch entwickelnde
0196Gedankenreihen vermissen wir hier, wo die Musik
0197nur als gehorsamer, ja übereifriger Diener des
0198Dialogs auftritt. Für einige Chöre und Strophenlieder
0199hat der Componist neapolitanische Volksweisen benützt und
0200dadurch frisches Blut in sein Werk geleitet. Freilich ohne
0201musikalische Blutvergiftung geht das bei der modernen Schule
0202nicht ab. Was für schauerlich mißlingende Bässe sind nicht 
0203dem Volkslied zu Anfang des dritten Actes unterlegt! („Va
0204porta a lei.“ Das Trinklied Antiello’s im zweiten Act
0205(„Le moglie“) bringt durch viele Tacte, obendrein in mäßigem
0206Tempo, einen G-dur-Satz, in welchem regelmäßig die
0207Quarte Cis statt C gesungen wird; Vito singt in der
0208ersten Scene („O Gesù mio“) eine langsame Me-
0209lodie in F-dur auf den consequent im Orchester
0210festgehaltenen D-moll-Dreiklang; wenn auf den guten Tact-
0211theil das accentuirte C der Melodie mit dem Grundton D
0212des Basses zusammentrifft, macht sich das besonders gut.
0213Wenn der Componist solche haarsträubende Dissonanzen für
0214einen Ausnahmsfall dramatischer Charakteristik verwendet,
0215dann läßt sich etwa darüber sprechen. Allein bei unseren
0216modernen Italienern werden derlei Dissonanzen und Modu-
0217lationen ohne solche Motivirung, als etwas an und für sich
0218Häßliches und durch diese bewußte Häßlichkeit Interessantes und
0219Neues hingestellt, das uns als genial imponiren soll. Es würde
0220uns, offen gestanden, viel mehr imponiren, wenn einer dieser
0221jüngsten Maëstri uns mit einer edlen Gesangsmelodie von
0222dem langen Athem der „Casta Diva“ überraschte. Allein
0223unsere italienischen Componisten scheinen sich der musikali-
0224schen Tradition ihres Landes zu schämen und suchen das
0225Geheimniß dramatischer Wirkung nur im einseitig Charak-
0226teristischen, Zerrissenen und Dissonirenden. Wenn Bizet in
0227Carmen“ dergleichen Kühnheiten vorbringt, so stehen diese
0228doch in tiefem Zusammenhange mit den harmonischen Grund-
0229gesetzen und beleidigen nicht als etwas schlechthin Willkür-
0230liches. Wie durchaus neu und doch zugleich schön klingt es,
0231wenn Verdi am Schluß von Rhadames’ B-dur-Romanze
0232die Tonart G-dur berührt! Die harmonischen und modula-
0233torischen Kühnheiten der Mascagni-Schule beklagen wir nicht
0234etwa, weil sie gegen Verbote der Harmonielehre sündigen — weit
0235gefehlt! Die alte Harmonielehre konnte Dinge nicht verbieten,
0236auf die man überhaupt nicht gefaßt war. Nun sind diese
0237harmonischen Kunststückchen (die Mischung von Dur und
0238Moll in derselben Melodie, der vertiefte Leitton u. s. w.)
0239überdies sehr leicht zu machen, sie scheinen bereits recht
0240billig zu sein, und in kurzer Zeit wird man sie satt haben.
0241Es ist ein unheilvoller Irrthum der neuesten Componisten,
0242auf diese geistreichen Nebendinge das größte Gewicht zu
0243legen; die entscheidende und nachhaltige Wirkung einer Oper [3]
0244wird immer in der Melodie liegen. Die Strömung des
0245Zeitgeistes nach der Richtung des einseitig Dramatischen hat
0246nun auch die Italiener erfaßt, das auserwählte Volk der
0247Melodie. Es wäre nutzlos, sich — schaffend oder kritisirend
0248— dieser Strömung entgegenzustellen. Sie wird sich wahr-
0249scheinlich noch steigern und dann einer entgegengesetzten
0250Platz machen. Schon Vieles in der Musik hat sich als eine
0251Mode erwiesen, was eine zeitlang für ein Dogma gehalten
0252wurde.


0253Ein abschließendes Urtheil steht uns über keinen der
0254vier genannten jungen Componisten zu, da wir Jeden von
0255ihnen nur aus einem einzigen Werke kennen. Sie Alle sind
0256jugendlich vordringende begabte Anfänger, die sich erst zu
0257einer festen, bestimmten Physiognomie herausarbeiten wer-
0258den. Eine von den Anderen scharf abstechende Individualität
0259konnten wir zur Stunde noch an Keinem von ihnen wahrnehmen.
0260Im Gegensatze zu der Goethe-Schiller’schen Sentenz: „Kei-
0261ner sei gleich dem Andern, doch gleich sei Jeder dem Höch-
0262sten“, gilt für Jung-Italien eher der Wahlspruch: „Keiner
0263sei gleich dem Höchsten, doch gleich sei Jeder dem Andern!“
0264Jedenfalls verdanken wir der Ausstellung die Bekanntschaft
0265von vier talentvollen jungen Operncomponisten, deren wei-
0266tere Entwicklung wir mit Theilnahme verfolgen wer-
0267den. Für die deutsche Bühne dürften sich höchstens
0268die „Pagliacci“ von Leoncavallo eignen. Dem Talent
0269nach steht Giordano mit seiner „Mala vita“ zunächst.
0270Diese Oper jedoch wird schon des Textbuchs wegen in
0271Deutschland verschlossene Thüren finden. Und dann: wo
0272gibt es für die Rolle der Cristina in Deutschland eine Dar-
0273stellerin wie Gemma Bellincioni? Sie hat eigentlich
0274nur drei Scenen in der ganzen Oper: die erste Begegnung
0275mit Vito am Brunnen, das Gespräch mit Amalia und die
0276kurze Schlußscene. Es wäre schwer zu sagen, in welcher von
0277diesen Scenen die Bellincioni mehr Geist, mehr Empfindung,
0278mehr überwältigende Wahrheit offenbart. Ich bekenne,
0279Vollendeteres nicht gesehen zu haben. Wenn Herr Giordano 
0280beim Componiren seiner „Mala vita“ die Cristina so vor
0281sich gesehen und gehört hat, wie die Bellincioni sie ver-
0282körpert, dann ist er ein echter Dichter, Musiker und Maler
0283in einer Person.