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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10195. Wien, Dienstag, den 10. Januar 1893

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Hofoperntheater.

Die Rantzau“, Oper in vier Acten von P. Mascagni.


0003Ed. H. Man hat nicht mit Unrecht den „Freund Fritz“
0004einen ungünstigen Opernstoff genannt. „Die Rantzau“ sind
0005es noch mehr. Eine dürftige, freudlose, auf ein einziges
0006Motiv gebaute Handlung entwickelt sich hier in schnurgerader
0007Linie, ohne reizvolle Episoden, ohne interessante Nebenfiguren.
0008Mascagni’s Textbuch folgt, die Exposition ausgenommen,
0009getreu der Erzählung von Erckmann-Chatrian oder vielmehr
0010dem daraus gezogenen Schauspiel, das ehedem im Wiener
0011Stadttheater eine vorzügliche Darstellung gefunden. Die
0012Brüder Johann und Jacob Rantzau befehden sich in un-
0013gerechtem, leidenschaftlichem Haß. Die Ursache dieser unnatür-
0014lichen Feindschaft hat der Librettist zu erzählen vergessen,
0015eine Unterlassung, welche sich dadurch rächt, daß wir für
0016keinen der beiden Brüder eine mildernde Empfindung in
0017uns vorfinden. Johann’s einzige Tochter Luise und Jacob’s
0018einziger Sohn Georg lieben einander, heimlich und stolz
0019verschlossen. Diese Neigung kommt erst ans Tageslicht, als
0020Johann seiner Tochter einen ihr widerwärtigen Freier, den Ober-
0021förster Lebel, aufzwingen will. Das Mädchen fällt in eine lebens-
0022gefährliche Krankheit; Georg verläßt, vom Alten verstoßen, zür-
0023nend das väterliche Haus. Die Liebe der Kinder scheint den Haß
0024der Väter zu verdoppeln, und umgekehrt. Endlich entschließt
0025sich Johann, um seine todtkranke Tochter zu retten, zu einem
0026Besuche bei Jacob. Dieser sieht sich jetzt gegen den Bittenden
0027im Vortheil und knüpft seine Zustimmung zur Verheiratung
0028der Kinder an schwere, demüthigende Bedingungen. Worin
0029diese bestehen, wird uns in der Oper nicht erzählt, sondern
0030nur flüchtig gestreift. Johann unterwirft sich, Georg aber
0031verweigert seine Unterschrift unter dem Vertrag, welcher die
0032Feindschaft der beiden Familien aufs neue entfachen müßte.
0033Mit warmen Worten bewegt er die feindlichen Brüder,
0034Frieden zu schließen; sie sinken einander versöhnt in die Arme.


0035Diese übermäßig einfache Handlung wird, auf vier Acte
0036vertheilt, nur von vier Personen getragen, von denen je zwei 
0037und zwei genau dieselbe Leidenschaft verkörpern: hier die
0038heimliche Liebe, dort den offenen Haß. Für die Liebe des
0039Jünglings und des Mädchens beschafft die Musik zur Noth ver-
0040schiedene Farbentöne; schwerlich für den Haß zweier verstockter
0041alter Bauern. Sie unterscheiden sich in der Oper thatsächlich nur
0042darin, daß Johann viel, Jacob wenig zu singen hat. Schade,
0043daß der Textdichter es nicht verstand, aus zwei Nebenfiguren,
0044welche die Handlung wohlthuend beleben konnten, gehörigen
0045Vortheil zu ziehen: aus dem geckenhaften Freier Lebel und
0046dem gutmüthigen Schulmeister Florentius. Sie sind in dem
0047Schauspiel schärfer charakterisirt und reichlicher verwendet;
0048Lebel singt sogar, von Luise am Clavier begleitet, eine zärt-
0049liche Romanze. Beide Figuren gestatten, ja verlangen einen
0050komischen Anstrich; das brächte in das finstere Gewölk des
0051ganzen Dramas zeitweilig einen willkommenen Lichtstrahl.
0052Wird doch dieses Düster der Handlung nicht einmal land-
0053schaftlich aufgeheitert, wie wir es in Bauerncomödien mit
0054Recht erwarten. Einen wesentlichen Reiz der Dorfgeschichten
0055bildet ja das sympathische Mitleben der Natur, der stete Zu-
0056sammenhang der Landleute mit Feld, Wald und Garten,
0057mit dem lebendigen Athem der Jahreszeiten. Welch an-
0058muthiges Behagen strömt nicht aus der Scenerie des zweiten
0059Actes im „Freund Fritz“ über das ganze Stück: Garten-
0060stimmung, Kirschenpflücken, Gäste auf ländlichem Fuhrwerk!
0061In den „Rantzau“ nichts von alledem. Dumpfe Stubenluft
0062das halbe Stück hindurch; es könnte ebensogut in einer
0063Fabriksstadt spielen.


0064Dieses Libretto bietet dem Componisten wenig frucht-
0065bare Gelegenheit zu psychologischer Individualisirung noch auch
0066zur Entfaltung neuer, musikalisch reizvoller Wirkungen. Ich
0067möchte lieber annehmen, daß die neue Dorfgeschichte das
0068Talent Mascagni’s gebunden, als daß dieses Talent selbst
0069abgenommen habe. Das wäre doch zu früh. Wie „Freund
0070Fritz“ so enthalten auch die „Rantzau“ Stücke, die eine feinere
0071musikalische Zeichnung aufweisen, als die Partitur zur
0072Cavalleria“, freilich ohne deren leuchtende Farbenkraft. Zwei
0073bis drei Nummern in den „Rantzau“ beweisen ein unge-
0074schwächtes Talent; daneben aber dehnt sich Unbedeutendes und
0075Langweiliges, melden sich Reminiscenzen aus dem früheren 
0076Mascagni und aus Verdi, theatralische Gewohnheitsphrasen
0077und derb aufgeschminkte Empfindungen, die erkältend wirken.
0078So haben wir denn das Theater keineswegs mit einem über-
0079wiegend günstigen oder reinen Eindruck verlassen. Für den
0080Drang seiner jugendlich gährenden Productionskraft und Pro-
0081ductionslust konnte Mascagni augenscheinlich nicht genug
0082Textbücher zur Hand haben; er greift, nicht allzu glücklich,
0083rasch zum „Freund Fritz“, und da er eben Erckmann-
0084Chatrian kennen gelernt, nimmt er auch gleich ohne
0085Zeitverlust „Die Rantzau“ her. Einige Scenen scheinen
0086ihn zu reizen, zu erwärmen; die übrigen fertigt er mit
0087fliegender Hand ab. Ein recht großer Theil dieser Oper ist
0088mit einem Minimum von Erfindung bestritten. Allerdings
0089besitzt der Componist Hilfsmittel, gute und schlimme, um
0090auch ödere Strecken seiner Partitur nicht gerade leer und
0091reizlos erscheinen zu lassen. Da wirkt vor Allem Mascagni’s
0092hauptsächlichste Kraft: der leidenschaftlich dramatische Zug,
0093der als glühender Athem seine Musik durchströmt; auch solche
0094Stellen, die, musikalisch angesehen, nichts als phrasenhaftes
0095Allgemeingut sind. Hat er sich in den Gesangspartien eine
0096zeitlang mit solchen Gewohnheits-Melodien beholfen, so
0097fallen ihm meistens zu rechter Zeit kleine geistreiche Orchester-
0098Ritornelle, pikante Instrumental-Effecte, harmonische und
0099rhythmische Kühnheiten ein, welche das Ohr reizen und Lang-
0100weile nicht aufkommen lassen. Mit diesen Kühnheiten betreibt
0101Mascagni in den „Rantzau“ einen noch ausgedehnteren Miß-
0102brauch als im „Freund Fritz“. Das sind dann die „schlimmen
0103Hilfsmittel“: die consequente Erniedrigung des Leittons,
0104das unvermittelte Aneinanderfügen gräßlich mißklingender
0105Accorde, der beständige Tactwechsel auf jeder Seite der
0106Partitur u. s. w. Dieses Durcheinanderschütteln der Tactarten,
0107obendrein mit fortwährendem Alteriren des Tempos, macht
0108die Mascagni’sche Musik durchwegs unruhig, schaukelnd
0109und flimmernd. Das Ohr sehnt sich nach Ruhepunkten,
0110aber der nervöse Componist flieht sie. Ein echt Mascagni’-
0111scher Rattenkönig von Dissonanzen, ähnlich der Einleitung
0112zum „Freund Fritz“, eröffnet die Introduction zum dritten
0113Act der „Rantzau“. Dergleichen mag, einmal gebracht, als
0114pikanter Einfall, als musikalischer Witz gelten; Mascagni [2]
0115behandelt es als tägliches Brot. Mißklänge können durch eine
0116außerordentliche dramatische Situation motivirt sein, wie in
0117der Wolfsschlucht des Freischützen; wenn jedoch Weber mit
0118solchen Mißklängen und Querständen die Arien Agathens
0119oder Aennchens aufputzen wollte, würden wir uns bedanken.
0120Mascagni thut das aber, thut dies mit Vorliebe in einfach
0121lyrischen Gesängen, wo die Empfindung rein und ungekün-
0122stelt ausströmen soll. Man höre nur zum Beispiel das
0123Andantino Luisens im vierten Act: „Alter Freund, ihr
0124warnt vergebens.“ Uebrigens konnten wir in den „Rantzau“
0125die Erfahrung machen, daß solche zum System erhobene
0126Abnormitäten ihre Strafe in sich selbst tragen: sie inter-
0127essiren nicht mehr, wie sie als etwas noch Neues in der
0128Cavalleria“ und „Freund Fritz“ interessirt hatten. Jetzt
0129berühren uns diese künstlich verbogenen Melodien und ver-
0130krüppelten Harmonien nur unangenehm, ohne den Reiz des
0131Neuen, Ueberraschenden.


0132Folgen wir dem Verlaufe der Oper. Die Ouver-
0133türe
, welche mit all ihrem leidenschaftlichen Pathos nichts
0134Originelles oder musikalisch Erfreuliches bringt, beweist, daß
0135Mascagni in seiner Melodien-Gestaltung wie in seiner
0136Harmonisirung bereits der Manier verfallen ist. Es sind
0137durchaus Melodien aus der Oper und gewiß nicht die un-
0138bedeutendsten; hier, wo sie uns, abgezogen vom dramatischen
0139Beiwerk, also rein musikalisch entgegentreten, fällt uns schon
0140auf, wie dürftig Mascagni’s melodische Erfindung ist. Im
0141Verlaufe der Oper, wo immer dieselben leidenschaftlich auf-
0142steigenden Linien (meist mit der Triole am Ende) sich wieder-
0143holen, von dem Unisono der Geigen oder Violoncells auf-
0144dringlich unterstrichen, wird dieser Mangel noch deutlicher.
0145Erfreulich wirkt das Vorspiel zum Introductionschor durch
0146seine reizende Instrumentirung: pizzikirte Accorde der
0147Violinen-, dazwischen eine leuchtende Piccolo-Figur und sanfte
0148Terzengänge der Flöten, Oboen, Clarinetten. Der Chor
0149selbst, anklingend an sicilianische Volksweisen, gewinnt uns
0150durch seine fremdartige Weichheit und Grazie. Dem Leser
0151möge gleich die erste Textstrophe ein Bild der muster-
0152haften, echten poetischen Uebersetzung von Max Kalbeck 
0153geben:


0154Sonne scheint mit hellem Strahle /
0155Auf die grüne Flur hernieder, /
0156Veilchen blüh’n versteckt im Thale, /
0157Knospen trägt der blaue Flieder. /
0158Zu dem altgewohnten Neste /
0159Kehrten Storch und Schwalbe wieder, /
0160Frühling rüstet frohe Feste — /
0161Zeit der Liebe! Zeit der Lieder! /


0162Voll sanft schmerzlicher Empfindung ist das Andante
0163Luisens: „Nicht rufe mir die Zeit zurück!“ — einer der
0164besten Einzelgesänge, vielleicht der beste, in der ganzen Oper.
0165Es folgt ein stürmisch aufgeregter, charakteristischer Chor der
0166von der Licitation zurückkehrenden Männer. Luise mischt
0167ein „Andante tormentato“ (wirklich qualvoll) mit Harfen-
0168begleitung ein; darauf baut sich einer jener breiten, zum
0169Fortissimo gesteigerten Finalsätze auf, in welchen die frühere
0170italienische Oper sich gern hervorthat. Es ist ein Vorzug der
0171Rantzau“ vor dem „Freund Fritz“, daß sie mehr Chöre
0172und größere Ensembles bringen. Der erste Act schien im
0173Publicum wenig Anklang zu finden; mir will er musikalisch
0174reicher und gehaltvoller erscheinen, als der zweite. Diesen
0175eröffnet Luise allein. Mit einer Handarbeit beschäftigt, singt
0176sie eine traurige Ballade von bizarr verkünstelter Compo-
0177sition und unechter Empfindung. Situation und Musik
0178erinnern zu ihrem Nachtheile an Gounod’s Margarethe am
0179Spinnrad. Die folgende Scene bot dem Componisten eine
0180sehr glückliche Gelegenheit, seine Kunst als Contrapunktiker zu
0181bewähren und ein heiter erfrischendes Lüftchen in den all-
0182gemeinen Jammer zu leiten. Johann singt nämlich mit
0183seinen Gästen zum Harmonium ein „Kyrie eleison“ (auch
0184eine sonderbare Unterhaltung); gleichzeitig erschallt von
0185unten auf Jacob’s Anstiften ein derbes Volkslied mit Be-
0186gleitung von Dreschflegeln. Mascagni hat die Scene ohne
0187allen Humor componirt, den Kirchengesang geistlos, das
0188Volkslied barbarisch; er läßt sich sogar den Haupteffect ent-
0189gehen, beide Themen schließlich zu vereinigen. Was hätte
0190ein guter deutscher Componist daraus gemacht! „Verbirg
0191deine Gelehrsamkeit!“ müßte man ihm wahrscheinlich rathen.
0192„Zeige sie!“ rufen wir Mascagni zu. Folgt eine lange
0193Unterredung des Schullehrers mit Luisen, der sie 
0194zur Heirat mit dem ihr verhaßten Oberförster bereden soll.
0195Ihr klagendes Andante: „Wär’ ich lieber geblieben!“, ist
0196nicht hervorragend, aber wenigstens natürlich empfun-
0197den. Auf das Lamento der Tochter folgt das Lamento
0198des Vaters: drei sich steigernde Strophen in an-
0199gestrengt hoher Baritonlage, an Verdi’sche Vorbilder
0200lehnend, voll theatralischer Exaltation, dabei ziemlich gehalt-
0201los. Der stürmische Beifall, welcher diesem Verzweif-
0202lungs-Monolog folgte, hat wol hauptsächlich dem meister-
0203haften Vortrag des Herrn Ritter gegolten. Je weiter die
0204Oper vorrückt, desto leidenschaftlicher steigert Mascagni diese
0205geschwollene Ueberkraft, die uns musikalisch abstößt, ganz ab-
0206gesehen von dem Mißverhältniß, in welchem solches Pathos
0207zu den Personen und der Stimmung einer Dorfgeschichte
0208steht. Viel erfreulicher läßt der dritte Act sich an. Ein
0209südlich angehauchter Chor der Mädchen am Brunnen klingt
0210fein und originell, einigermaßen dem im ersten Act ver-
0211wandt. Zum Text paßt diese klagende Weise allerdings nicht:
0212„Wie klar, so rein und helle, munt’re Quelle“ — diese
0213Worte wird keine Mädchenschaar so gepreßten Herzens vor-
0214tragen. Mascagni gefällt sich eben gerade hier im Melancho-
0215lischen. Der nun folgende „Plauderchor“, das einzige durch-
0216aus heitere und schön abgerundete Stück in den „Rantzau“,
0217ist allerliebst natürlich und klangschön, das Thema hübsch
0218geführt und gewendet, am wirksamsten über dem Basso
0219continuo der Fagotte. Als Musikstück die Perle der Oper.
0220Hierauf kommt endlich der Liebhaber zu Wort: Georg, der,
0221vom Vater verstoßen, zürnend das Haus verläßt. Nun ist
0222die Reihe an Jacob, in einem kläglichen Andante über den
0223Kindesundank zu jammern. Das Thema hat Mascagni für
0224die Ouvertüre benützt, desgleichen das darauf folgende „Eh’
0225uns’re Häuser sich trennten im Zwiespalt“. Dieser Gesang
0226Georg’s wirkt hauptsächlich durch einige dankbare hohe Tenor-
0227töne; die große Familien-Aehnlichkeit aller sentimentalen
0228Melodien in der Oper wird immer schädlicher. Nun erscheint,
0229an Leib und Seele gebrochen, Johann und pocht an die
0230Thür des verhaßten Bruders. Es ist dies eine Scene von
0231erschütternder, echter Wirkung, auch im Schauspiel — ohne
0232alle Musik. Mascagni hat sie mit Liebe und Verständniß [3]
0233componirt. Nur das wüthende Orchester-Nachspiel will uns
0234nach dem stimmungsvollen Ausklingen dieser Begegnung nicht
0235passen; ein Toben, als sollte alles Unglück erst jetzt angehen.
0236Vor dem vierten Acte: ein „ Intermezzo“, und zwar —
0237man traut seinen Ohren kaum — ein ungarischer Lassan!
0238Wie kommt nur der Zigeuner aus „Freund Fritz“ in diese
0239Gesellschaft? Den Act eröffnet eine Unterredung des Schullehrers
0240mit Luisen. Ihr Andantino „Alter Freund“ mit seinem
0241pendelnden Rhythmus von lauter gleichen Viertelnoten ist von
0242einer unbegreiflich leiernden Monotonie. Schließlich singen
0243Florentius und Luise zu unserer namenlosen Ueberraschung
0244ganze anderthalb Tacte zusammen in Terzen! Ist das nicht
0245ein Attentat gegen die Satzungen des modernen Musik-
0246dramas? Nur gemach; diese Terzen mit dem Hohn des
0247Veralteten zu ächten, wird dem Radicalismus nicht gelingen.
0248Eine spätere Zeit wird wieder darauf zurückgreifen, verwun-
0249dert, wie ein so kostbarer, im musikalischen Schönheits-
0250bedürfniß tief begründeter Kunsterwerb jemals verleugnet
0251und verpönt sein konnte. Ein langes Liebesduett zwischen
0252Georg und Luise beginnt recht ausdrucksvoll, verkünstelt
0253sich später und übergeht dann in ein zartes Andante im
0254Styl des Klosterduetts aus „Manon“ („Sprich zu mir!“).
0255Das Ganze endet leider mit den üblichen theatralischen
0256Schreicadenzen. Georg’s pathetische Ansprache an die Väter:
0257„So also glaubt ihr“, würde uns wenig Eindruck machen,
0258lenkte sie nicht unmittelbar in die kurze, ergreifende Schluß-
0259scene hinein. Wenn die beiden Brüder einander versöhnt in
0260die Arme sinken, so ist die Wirkung so sicher wie bares Geld.
0261Man sieht alle Schnupftücher in Bewegung, mit ansteckender
0262Kraft verpflanzt sich die Rührung durch sämmtliche Räume
0263des Theaters, und der Componist hat gewonnenes Spiel.


0264Die Rantzau“ hinterlassen uns die Erinnerung an
0265gelungene, ja reizende Einzelheiten, bei schwacher schöpferischer
0266Kraft im Ganzen. Gewachsen ist Mascagni in der Beherr-
0267schung aller technischen Mittel und raffinirten Effecte; eine
0268reichgestickte Hülle, unter welcher nur selten ein kräftiger,
0269schöner Körper sichtbar wird. Wir vermissen diesmal nicht
0270blos die reiche Mannigfalt der Erfindung, sondern in dieser
0271auch Unbefangenheit des Schaffens, die Natürlichkeit des 
0272Ausdrucks. Durch ihre erschütternden dramatischen Wende-
0273punkte erlangen „Die Rantzau“ eine stärkere Macht über
0274die Gemüther, als der leichtlebige „Freund Fritz“; die
0275Musik geht jedoch, mit etwas stärkerem Dampf, ganz im
0276Kielwasser des Freund Fritz; man hört nur noch vernehm-
0277licher das Arbeiten der Räder an dem Dampfschiff.


0278Von der glänzenden Aufführung der „Rantzau“ haben
0279wir bereits in Kürze berichtet. Was hier von Seiten des
0280Directors Jahn und seiner Künstler für die Novität ge-
0281schehen ist, dürfte schwerlich an einer andern Bühne erreicht
0282werden. Den lyrisch-sentimentalen Partien, Luise und Georg,
0283leihen Fräulein Renard und Herr Schrödter die
0284wärmsten, quellendsten Töne; der glühende, wie der schließlich
0285aufthauende Haß der beiden Brüder gelangt durch die Herren
0286Ritter und v. Reichenberg zu charakteristischem, er-
0287greifendem Ausdruck. In der Schlußscene des dritten und
0288des vierten Actes bieten diese beiden Künstler schauspiele-
0289rische Leistungen, wie sie in der Oper zu den Seltenheiten
0290gehören. Auch Herr Horwitz bringt in der Rolle
0291des Schulmeisters seine bewährten Vorzüge als guter
0292Sprecher und Darsteller neuerdings zur Geltung. Den
0293am kärglichsten bedachten Rollen, Lebel und Julie,
0294widmen Herr Schittenhelm und Frau Warnegg 
0295die löblichste Sorgfalt. Welche Heldenthaten endlich das
0296Orchester und die Chöre in den „Rantzau“ verrichten,
0297weiß vollständig nur derjenige, der einen Blick in die von
0298offenen und trügerischen Hindernissen starrende Partitur ge-
0299than. So haben denn Talent und aufopfernde Mühe aller
0300Mitwirkenden „Die Rantzau“ zu einem glänzenden Sieg ge-
0301führt. Dem glücklichen Componisten, dessen Zukunft uns
0302am Herzen liegt, wünschen wir, er möchte sein schönes Talent
0303zwei Jahre lang ruhen und seine Werke ausreifen lassen.
0304In Wien wird man gewiß Mascagni’s nächsten Opern mit
0305jener warmen Sympathie entgegenkommen, welche seine liebens-
0306würdige Persönlichkeit sich hier erobert hat. Aber nach so
0307überglücklichen Anfängen wird er wohl daran thun, die Sache
0308etwas weniger leicht zu nehmen. Insbesondere möchten wir
0309ihm Goethe’s Mahnung zurufen: Eigenheiten bleiben
0310von selber haften — du, cultivire deine Eigenschaften!