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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10178. Wien, Freitag, den 23. December 1892

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Concerte.


0002Ed. H. Mit gespannter Aufmerksamkeit und warmer
0003Theilnahme hat man jüngst das Verdi’sche Requiem wieder
0004gehört. Trotz mancher schwächeren, trockenen Stellen ist es
0005doch eine von Wohllaut getränkte, in klare musikalische Form
0006gefaßte Tondichtung, die selbst in ihrem dramatisch bewegtesten
0007Theile, dem Dies irae, nicht verletzend aus Styl und Zu-
0008sammenhang fällt. Ein seltsames Gegenstück zu dieser Frucht
0009Italiens brachten uns bald darauf die Philharmoniker in
0010einer ur- und neudeutschen Symphonie von Bruckner.
0011Sie ist die achte in der Reihe und seinen früheren in Form
0012und Stimmung sehr ähnlich. Diese neueste hat mich, wie
0013Alles, was ich von Bruckner’schen Symphonien kenne, in
0014Einzelheiten interessirt, als Ganzes befremdet, ja abgestoßen.
0015Die Eigenart dieser Werke besteht, um es mit Einem Worte
0016zu bezeichnen, in der Uebertragung von Wagner’s drama-
0017tischem Styl auf die Symphonie. Bruckner verfällt nicht
0018nur alle Augenblicke in specifisch Wagner’sche Wendungen,
0019Effecte, Reminiscenzen — er scheint sogar gewisse Wagner’sche
0020Stücke als Vorbild für seinen symphonischen Aufbau vor
0021Augen zu haben. So namentlich das Vorspiel zu „Tristan
0022und Isolde“. Bruckner setzt mit einem kurzen chromatischen
0023Motiv ein und wiederholt es auf immer höherer Tonstufe ins
0024Endlose, bringt es vergrößert, verkleinert, in Gegenbewegung,
0025so lange, bis wir von diesem monotonen Jammer trostlos
0026niedergedrückt sind. Neben diesen hinauflamentirenden Rosalien
0027oder „Schusterflecken“ sind es die hinablamentirenden (nach
0028dem Recept in der „Tannhäuser“-Ouvertüre), welche
0029Bruckner mit beharrlicher Vorliebe pflegt. Wagner’schen
0030Orchester-Effecten, wie das Tremolo der getheilten Violinen
0031in höchster Lage, Harfen-Arpeggien über dumpfen Posaunen-
0032Accorden, dazu noch die neueste Errungenschaft der Siegfried-
0033Tuben, begegnen wir auf Schritt und Tritt. Charakteristisch
0034auch für Bruckner’s neueste C-moll-Symphonie ist das un-
0035vermittelte Nebeneinander von trockener contrapunktischer 
0036Schulweisheit und maßloser Exaltation. So zwischen Trunken-
0037heit und Oede hin und her geschleudert, gelangen wir zu
0038keinem sicheren Eindruck, zu keinem künstlerischen Behagen.
0039Alles fließt unübersichtlich, ordnungslos, gewaltsam in Eine
0040grausame Länge zusammen. Jeder der vier Sätze, am
0041häufigsten der erste und dritte, reizt durch irgend einen inter-
0042essanten Zug, ein geniales Aufleuchten — wenn nur daneben
0043alles Uebrige nicht wäre! Es ist nicht unmöglich, daß diesem
0044traumverwirrten Katzenjammerstyl die Zukunft gehört —
0045eine Zukunft, die wir nicht darum beneiden. Vorläufig aber
0046wüßten wir gerne die Symphonie- und Kammermusik rein
0047gehalten von einem Styl, der nur als illustrirendes Mittel
0048für bestimmte dramatische Situationen relative Berechtigung
0049hat. Von der außerordentlichen „Tiefe“ der Bruckner’schen
0050C-moll-Symphonie liefen schon vorher so aufregende Gerüchte,
0051daß ich nicht unterließ, mich durch das Studium der Partitur
0052und den Besuch der Generalprobe gehörig vorzubereiten.
0053Gestehen muß ich dennoch, daß das Mysterium dieser welt-
0054umfassenden Composition sich mir erst entschleierte, als das
0055Verständniß mir in Gestalt eines erklärenden Programmes
0056in die Hand gedrückt ward. Der Verfasser desselben ist nicht
0057genannt, doch errathen wir leicht den Schalk, der seinem
0058Herrn am wenigsten verhaßt ist. Durch ihn erfahren wir denn,
0059daß das verdrießlich aufbrummende Hauptmotiv des ersten
0060Satzes „die Gestalt des aischyläischen Prometheus“ sei!
0061Eine besonders langweilige Partie dieses Satzes erhält den
0062verschönernden Namen: „Ungeheuerste Einsamkeit und
0063Stille“. Unmittelbar neben dem „aischyläischen Prometheus“
0064steht — „der deutsche Michel“. Wenn ein Kritiker
0065diese Blasphemie ausgesprochen hätte, er würde wahrschein-
0066lich von den Bruckner-Jüngern gesteinigt. Aber der Componist
0067selbst hat dem Scherzo den Namen des deutschen Michel 
0068beigelegt, wie Schwarz auf Weiß in dem Programm
0069zu lesen. Nun der Erklärer diese authentische Parole
0070hat, ist er nicht verlegen und findet in dem Michel-
0071Scherzo „die Thaten und Leiden des Prometheus 
0072parodistisch auf ein geringstes Maß reducirt“. Um so er-
0073habener ist alles Folgende. Im Adagio bekommen wir nichts
0074Geringeres zu schauen, als „den alliebenden Vater der 
0075Menschheit in seiner ganzen unermeßlichen Gnadenfüllen“!
0076Da das Adagio genau achtundzwanzig Minuten dauert, also
0077ungefähr so lang wie eine ganze Beethoven’sche Symphonie,
0078so wird uns für diesen seltenen Anblick gehörig Zeit ge-
0079lassen. Das Finale endlich, das uns mit seinen barocken
0080Themen, seinem confusen Aufbau und unmenschlichen Ge-
0081töse nur als ein Muster von Geschmacklosigkeit erschien, ist
0082laut Programm: „der Heroismus im Dienste des Gött-
0083lichen“! Die darin herumschmetternden Trompetensignale
0084sind „Verkünder der ewigen Heilswahrheit, Herolde der
0085Gottesidee“. Der kindische Hymnenton dieses Programms
0086charakterisirt unsere Bruckner-Gemeinde, welche bekanntlich
0087aus den Wagnerianern und einigen Hinzukömmlingen besteht,
0088denen Wagner schon zu einfach und selbstverständlich ist.
0089Man sieht, wie der Wagnerismus nicht nur musikalisch,
0090sondern auch literarisch Schule macht. Und die Aufnahme
0091der neuen Symphonie? Tobender Jubel, Wehen mit den
0092Sacktüchern aus dem Stehparterre, unzählige Hervorrufe, Lor-
0093beerkränze u. s. w. Für Bruckner war das Concert jedenfalls
0094ein Triumph. Ob Herr Hanns Richter auch seinen Abon-
0095nenten einen Gefallen damit erwiesen habe, ein ganzes Phil-
0096harmonisches Concert ausschließlich der Bruckner’schen Sym-
0097phonie zu widmen, ist zu bezweifeln. Dieses Programm
0098scheint doch nur einer geräuschvollen Minorität zuliebe ge-
0099macht worden zu sein. Irren wir, so ist die Gegenprobe
0100leicht zu machen: man gebe die Bruckner’sche Symphonie 
0101in einem Extraconcert, außer dem Abonnement. Damit
0102wird allen Parteien geholfen sein, nur schwerlich den Phil-
0103harmonikern.


0104In dem eben veröffentlichten Nachlasse Gottfried
0105Keller’s
finden wir die Beschreibung eines Männergesang-
0106festes und dabei folgende hübsche Bemerkung: „Bekanntlich
0107gibt es jetzt selten einen Liedercomponisten, der einen trivia-
0108len, gehaltlosen Text wählt, während eher das Gegentheil
0109vorkommt und manch mittelmäßiger Zeisig zu finden ist,
0110dem die Texte nicht tiefsinnig und pikant und zugleich wohl-
0111lautend genug sein können.“ Auch in den Concerten unseres
0112Wiener Männergesang-Vereins“ spiegelt sich das
0113immer bewußter aufkommende Streben, den Stoffkreis der [2]
0114Männerchöre möglichst zu erweitern, seine Aufgaben zu ver-
0115tiefen und zu erschweren. So lobenswerth diese Absicht,
0116so gefährlich wird ihre Ausführung manchem allzu kühnen
0117Componisten. Der Erfolg auch des letzten Concertes
0118bewies, daß die einfach lyrischen, besonders die ans
0119Volkslied anklingenden Chöre immer den aufrichtigsten Bei-
0120fall finden. Daran ist nicht etwa „schlechter Geschmack“ des
0121Publicums schuld, sondern die Natur des vierstimmigen
0122Männergesanges, dessen engbegrenzter Stimmumfang und
0123geringer Farbenreichthum ihn auf knappe übersichtliche For-
0124men und einfache Stoffe hinweist. In der That haben letzt-
0125hin die beiden anspruchslosesten Stücke den größten Anklang
0126gefunden: ein amerikanisches Volkslied „Der Alten Heim“,
0127dessen Bariton-Solo Herr Hell mit Empfindung vortrug,
0128und Engelsberg’s bekannter Chor „Im Maien“. In
0129der Wahl ihrer Liedertexte zeigten diesmal alle Componisten
0130einen auffallend guten Geschmack; es figurirten auf dem
0131ganzen Programme nur folgende Dichternamen: Mathisson,
0132Rückert, Geibel, Scheffel, Julius Wolff, Rodenberg, Gott-
0133fried Keller. Mit der Composition des Keller’schen Gedichts
0134Schlafwandel“ für Männerchor hat sich Friedrich Hegar 
0135eine um so schwierigere Aufgabe gestellt, als er auf die
0136stützende und malende Hilfe einer Clavier- oder Orchester-
0137begleitung verzichtet. In dieser Beschränkung vermag die
0138Musik dem langen erzählenden Gedichte kaum ganz gerecht
0139zu werden. Fein anschmiegend, maßvoll und musikalisch
0140interessant bleibt der Componist die ersten vier Strophen
0141hindurch; an der jähen Wendung der Schlußstrophe scheitert
0142er. Der fast komisch wirkende Aufschrei: „Ein Schuß!“ und
0143die ihm folgenden, bis zur Unverständlichkeit überhetzten
0144Zeilen sind von üblem Eindruck. Derselbe wird nur theilweise
0145dadurch gemildert, daß der Componist, freilich gegen die
0146Absicht des Dichters, eine frühere Strophe wiederholt, also
0147die Soldaten, kaum erwacht, schnell wieder einschlafen und
0148weiterträumen läßt. Immerhin zeigt sich Hegar in dem
0149Stücke als technischer Meister und Mann von Geist. Eine
0150Motette für Doppelchor (op. 93) von Schumann erfüllte
0151nicht die hohen Erwartungen, welche sich an diesen Namen
0152knüpfen. In den ersten Strophen („Verzweifle nicht“) durch-
0153dringt die Musik noch warm und innig das schöne
0154Rückert’sche Gedicht; je länger aber die ungebührlich aus-
0155gedehnte Composition sich fortspinnt, desto mehr machen
0156Erfindung und Innigkeit einem trockenen Fortsetzen Platz.
0157Die Monotonie eines fast immer gleich stark singenden und
0158von der Orgel stark begleiteten Männerchors wird drückend,
0159insbesondere wo die endlos wiederholten Worte „Harr’ aus
0160im Leid!“ sich zu dichtem harmonischen Gestrüpp verschlingen. An
0161den sehr schwierigen Schumann’schen Doppelcher hat Herr
0162Kremser und sein Verein ein gewaltiges Studium ge-
0163wendet. Der Name Schumann schwebte noch einmal leise
0164durch den Saal, als Fräulein Lola Beeth das
0165Brahms’sche Lieblingslied aller Sängerinnen: „Meine
0166Lieb’ ist grün“, vortrug; das Gedicht ist nämlich von Schu-
0167mann’s Sohn Felix, dem zu Ehren Brahms es verewigt
0168hat. Neben den Liedervorträgen von Fräulein Beeth 
0169fanden auch zwei virtuos gespielte Violin-Soli des Herrn
0170Lewinger verdienten Beifall.


0171Einige Concerte im Bösendorfer-Saale verdienen noch
0172Erwähnung. Der Pianist Herr Karl Prochaska, den wir
0173schon vor zwei Jahren rühmend genannt, hat neuerdings
0174gezeigt, daß er sein Instrument zu behandeln und zu be-
0175herrschen versteht. Sein Spiel ist klangschön, deutlich und
0176temperamentvoll. Sein Programm war das eines ernsten
0177Musikers: zwei Präludien und Fugen von Bach, die Phan-
0178tasie op. 77 von Beethoven, eine Schubert’sche Sonate,
0179zwei Balladen von Brahms, drei Clavierstücke von Dvořak.
0180Schließlich spielte er noch Stücke von Liszt und Rubinstein,
0181um zu zeigen, daß er das Virtuosenhandwerk auch los hat.
0182Prochaska’s Spiel berücksichtigt echt musikalisch mehr den
0183Inhalt der Composition als dasjenige, was äußeren Effect
0184machen kann, und er hat mehr Beifall gefunden, als man
0185bei dieser Richtung gewöhnlich erwarten darf. ... In dem
0186Concert der jungen Violin-Virtuosin Bianca Panteo waren
0187alle Geiger und Geigerinnen Wiens zu sehen, außerdem viele auf
0188anderem Gebiete anerkannte Künstler; ein sicheres Zeichen, daß
0189man Außergewöhnliches erwartete. In ihrem Benehmen
0190noch ganz kindlich, ist Bianca Panteo doch bereits eine
0191glänzende und dabei sympathische Erscheinung in der moder-
0192nen Virtuosenwelt. Mit ihrer mühelosen brillanten Tech-
0193nik und ihrem feurigen Temperament macht sie einen über-
0194raschenden Eindruck. Was Mark und Größe des Tones
0195betrifft, steht sie unter ihren Colleginnen einzig da. In
0196einigen Jahren, wenn ihr Empfinden sich geklärt und be-
0197reichert hat und das Kind zur reifen Künstlerin gediehen ist,
0198dürfte sie einen Platz neben den Ersten ihres Faches ein-
0199nehmen. Fräulein Nina Pollatschek, eine anmuthige
0200Schülerin unserer Dustmann, sang mit wohlklingender
0201Stimme und hübscher Technik die große Arie der Rose
0202Friquet und einige Lieder. ... Fräulein Adele Mandlick,
0203die wir dem Leser nicht erst als tüchtige Pianistin vorzu-
0204stellen brauchen, hatte die lobenswerthe Idee, zwei Clavier-
0205Quintette in ihr jüngstes Programm aufzunehmen: das in
0206F-moll (op. 34) von Brahms und ein neues in F-dur 
0207von Rückauf, das wir allen Quartettvereinen als ein
0208interessantes und dankbares Stück empfehlen können.
0209Großen Beifall fanden die ausgezeichneten Liedervor-
0210träge der Berliner Concertsängerin Fräulein Adelina
0211Herms
. ... Mit besonderer Wärme wurde eine graziöse
0212Clavierspielerin begrüßt, die wir öffentlich zu hören kaum
0213mehr erwartet hätten: Fräulein Olga Segel, die
0214jetzt als Frau Walter sich ein schönes, sorgloses Heim
0215gegründet hat. Ihr Erfolg war ein wohlverdienter. In dem
0216Vortrag des herrlichen G-moll-Quintetts von Brahms, noch
0217mehr in den ihrem feinen, nervösen Naturell besonders zu-
0218sagenden Chopin’schen Stücken hat Frau Segel-Walter be-
0219wiesen, daß sie seit ihrer Verheiratung viel gelernt und nichts
0220vergessen hat. Ihr Concert gab sie zum Besten der Poliklinik.
0221Mitwirkende waren das Winkler’sche Quartett, der Hof-
0222opernsänger Herr Ritter und eine junge Altistin, Fräulein
0223v. Jung, welche, im Besitz eines schönen Rohmaterials
0224und eines weniger schönen Rohvortrages, noch längere Zeit
0225fleißigen Studiums brauchen wird, um die ihr so reichlich
0226zugetragenen Blumenspenden wirklich zu verdienen. „Sie
0227muß wol eine große Künstlerin sein — oder viel Freunde
0228haben,“ so ungefähr könnte man die Auskunft Rocco’s über
0229Florestan für gewisse Concert- und Theater-Erfolge umkehren.