Zoom inZoom inZoom inZoom in
Zoom outZoom outZoom outZoom out
Go homeGo homeGo homeGo home
Previous pagePrevious pagePrevious pagePrevious page
Next pageNext pageNext pageNext page
Unable to open [object Object]: Error loading image at https://iiif.acdh.oeaw.ac.at/iiif/images/hsl-nfp/1895.03.08-0001.jp2/full/full/0/default.jpg
Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10969. Wien, Freitag, den 8. März 1895

Concerte.

Ed. H. Tschaikowsky’sSymphonie pathétique “ hat im letzten Philharmonischen Concert lebhaften Beifall errungen. Mag auch ein starker Antheil davon auf die wahrhaft großartige Leistung des Orchesters unter Hanns Richter entfallen — der Erfolg der Composition war mächtig genug, um nun auch anderen Werken dieses fruchtbaren Tondichters den Weg nach Wien zu bahnen. Man kennt hier nur wenig von ihm, und die Bekanntschaft war obendrein nicht glücklich eingeleitet. Die ersten, zugleich einzigen größeren Orchester-Compositionen Tschaikowsky ’s, welche man in Wien aufgeführt hat — die Ouvertüre zu „Romeo und Julie “ und ein Violinconcert — sie sind beide entschieden abgefallen. Wirklichen Erfolg errang nur das von Rubinstein so entzückend gespielte „Lied ohne Worte “ in F-dur — eine Kleinigkeit, aber eine reizende — und das anmuthige Streichquartett in D-dur. Nun ist, noch schwerer wiegend, als dritter Erfolg die H-moll-Symphonie  hinzugekommen. Sie frappirt zunächst durch ihre eigenthümliche Form. Der erste Satz, der nach einem düstern einleitenden Adagio sich in ein nervöses, leidenschaftliches Allegro stürzt, bleibt nicht bis zum Ende in diesem Tempo, sondern weicht bald einem schwärmerischen Andante in D-dur, das sich ausbreitet, nach kurzer Unterbrechung wieder das Wort ergreift und bis zum Schluß behauptet. So geschieht es denn, daß in diesem ersten, dem „Allegro“-Satz, das langsame Tempo weitaus den größten Raum einnimmt. Eine Sonderbarkeit anderer Art ist das Scherzo, welches durchaus im Fünfvierteltact geht. Diese unangenehme Tactart, eigentlich ein fortwährendes Schwanken zwischen geradem und ungeradem Tact, kommt bekanntlich sehr selten und dann nur episodisch vor (wie in der „Weißen Frau “, in Delibes ’ „Le roi l’a dit “, im dritten Act von „Tristan und Isolde “). Consequent festgehalten durch einen ganzen langen Symphoniesatz, beunruhigt der Fünfvierteltact Hörer und Spieler. Das Gehör substituirt stets die ihm bequemeren Maße, zersetzt den Fünfvierteltact in zwei und drei Glieder oder in drei und zwei — eine Procedur, die, durch längere Zeit fortgesetzt, bis zur Unerträglichkeit unbequem wird. Für das Tschaikowsky ’sche Scherzo scheint mir obendrein dieser Störenfried ganz überflüssig, denn ohne den mindesten Nachtheil läßt sich das Stück leicht in den Sechsachteltact einlenken. Die beiden folgenden Sätze stellen wieder die bisher allgemein festgehaltene Ordnung auf den Kopf. Der dritte Satz der Symphonie (Allegro molto vivace) hat vollständig den Charakter eines Finale: rauschend, heroisch, im Verlauf zu immer heftigerem Sturm, zum äußersten Aufgebot aller Orchestermittel anschwellend. Und nun der vierte Satz, das Finale? Ein „Adagio lamentoso“! Wir sind nicht so pedantisch, uns daran zu stoßen. Die gewöhnliche Aufeinanderfolge der vier Sätze einer Symphonie ist zwar psychologisch begründet und historisch anerkannt, immerhin aber keine eiserne Schranke, welche für ewige Zeiten jede Ausnahme oder Umwandlung verböte. Entscheidend bleibt immer, ob die gewählte Anordnung einen psychologischen Grund, einen inneren Zusammenhang nicht vermissen läßt. Der Tschaikowsky ’schen Symphonie liegt offenbar ein verschwiegenes poetisches Programm zu Grunde; gleich der erste Satz mit seinem rhapsodischen Wechsel von Adagio und Allegro, von Dur und Moll deutet auf eine leidenschaftliche Herzenstragödie. Den meisten Zuhörern wäre wahrscheinlich ein Programm erwünscht, das sie des Rathes überhebt; ich erblicke darin eher einen Beweis für die musikalische Natur des Componisten, daß er seine Musik für sich sprechen und uns lieber rathen läßt, als durch eine gebundene Marschroute sich selbst und uns zu vergewaltigen. Die „Symphonie pathétique “ nimmt unter den uns bekannten Werken von Tschaikowsky auch dadurch eine eigene Stelle ein, daß sie gar kein national-russisch es Colorit aufweist. Welch traurige triviale Kosakenlustigkeit mußten wir uns in den Finales seiner Serenade op. 48, seines Violinconcert s, seines D-dur-Quartett s oder im dritten Satz seiner Suite op. 53 gefallen lassen! Nichts dergleichen in seiner Symphonie, welche, im Charakter durchaus westeuropäisch , eine edlere Gesittung und innigeren Herzensantheil verräth. Insbesondere der erste und der letzte Satz, die mir weitaus die besten scheinen, enthalten Momente von rührender Empfindung und reiner Schönheit. Im zweiten Satz ist nichts außerordentlich, als der leidige Fünfvierteltact; der dritte, glänzend und feurig in seiner größeren ersten Hälfte, verliert leider gegen den Schluß hin jedes Maß dafür, was ein normales Ohr an Lärm und Ausdehnung eines Stückes ertragen kann. Liszt und Rubinstein sind nicht ohne Einfluß darauf geblieben. Jedenfalls danken wir Herrn Hofcapellmeister Richter für die Bekanntschaft mit diesem originellen und geistreichen Werk, welches trotz vieler unschöner, rein opernmäßiger Züge und einer erbarmungslosen Länge doch eine starke Wirkung hervorgebracht hat. Der Erfolg, den Tschaikowsky ’s Oper „Pique-Dame “ auch außerhalb Rußland s erzielt, dürfte das Hofoperntheater auf diese Novität aufmerksam machen.

Aus Rußland , woher uns die Tschaikowsky ’sche Symphonie gekommen, stammt auch der kleine fünfzehnjährige Pianist Markus Hamburg, der unmittelbar darauf zum erstenmale vor das Wien er Publicum getreten ist. Er spielte Chopin ’s E-moll-Concert mit außerordentlichem Talent und ebensolchem Erfolg. Das Stück erheischt bekanntlich nicht blos eine zur Meisterschaft ausgereifte Technik, sondern auch die feinste Empfindung. Ich erinnere mich nicht, es schöner gehört zu haben, als von diesem Knaben. Zu seinen auffallendsten Vorzügen gehört ein klangvoller Anschlag, der im leisesten Verklingen wie im Fortissimo immer den schönsten Ton aus dem Instrumente zieht; sodann sein ungemein lebhaftes rhythmisches Gefühl. Er brachte in die Chopin ’sche Musik, die so leicht zu sentimentaler Verschwommenheit und Ueberfeinerung verleitet, kräftigere Accente, lebhaftere Farben, ohne je die Grundstimmung des Werkes zu alteriren. Man darf dem jungen Künstler eine große Zukunft prophezeien. Ganz merkwürdig ist doch der jüngste Nachwuchs an außerordentlichen Virtuosen: gleichzeitig erscheinen hier zum erstenmale Joseph Hoffmann und Markus Hamburg, Willy Burmester und Bronislaw Hubermann. Die Lücken, welche der Tod in die Reihen unserer größten Pianisten und Geiger gerissen hat, beginnen sich wunderbar schnell zu füllen.

Während im Philharmonischen Concert Dvořak mit seinen neuen Ouvertüren „In der Natur “ und „Carneval “ triumphirte, haben gleichzeitig zwei Quartettvereine uns mit Novitäten dieses hochbegabten Componisten erfreut. Diese Compositionen haben einen starken inneren Zusammenhang mit Amerika , wo Dvořak seit 1891 als Director des Newyork er Conservatoriums lebt. Gerade in dem Lande, dessen praktisch geschäftliche Atmosphäre die künstlerische Phantasie so leicht austrocknet, entwickelt Dvořak eine erstaunliche Fruchtbarkeit. Nachdem er daheim mehrere Jahre geschwiegen, sendet er auf einmal ganze Schiffsladungen Musik herüber: Orchester- und Kammer-Compositionen, Clavierstücke, Duos, Gesänge. Die interessantesten daraus bereiten uns eine große Ueberraschung: sie zeigen nicht mehr die Einwirkung slavischer Volksmelodien wie Dvořak ’s frühere Werke, sondern die eines viel unmusikalischeren fremden Elementes: der Negerlieder. Es ist merkwürdig, wie Dvořak diese burlesken Melodienbrocken, die ihn in dem fremden Welttheil wahrscheinlich bis zum Ueberdruß umschwirren, künstlerisch zu verwerthen und zu gestalten weiß. Naturlaute, die der Europäer zu verachten pflegt, sind ihm zu ergiebigen künstlerischen Motiven geworden. Damit hat er seinen Compositionen ein ganz neues originelles Element eingeimpft, welches reizt und anregt. Ausdrücklich wollen wir die Hoffnung aussprechen, daß diese „amerikanisch en Compositionen, so reizend sie sind, nur eine Episode in Dvořak ’s Künstlerleben bedeuten, und daß er, heimgekehrt, wieder Musik ohne Transfusion von Negerblut schaffen werde. Vorläufig geben wir uns diesem neuen wildfremden Zauber mit rückhaltlosem Vergnügen hin. Schade, daß uns die Philharmoniker nicht Dvořak’ s E-moll-Symphonie bescheert haben, eine seiner originellsten Schöpfungen, welche schon durch ihren Titel „Aus der neuen Welt “ ihren exotischen Charakter andeutet. Dafür sind wir von Herrn Rosé auf dem Gebiet der Kammermusik entschädigt worden. Man spielte vorgestern Dvořak ’s Streichquartett in F-dur, op. 96. Wem wären nicht diese neuen Themen und Motive aufgefallen, auch die neue Art der Verarbeitung? Nach einer Mittheilung des Musikforschers Mr. Krehbiel in Newyork sind diese fremdartigen Motive dem Volksgesang der Neger des amerikanisch en Südens nachgebildet; Eingeweihte wollen in diesen Negerliedern aus der alten Welt importirte, hauptsächlich dem Schottisch en verwandte Volksweisen wiederfinden. Ungeheuer ist der Erfolg dieses Quartetts in Amerika . Zum erstenmal in Boston  im Neujahrstage 1894 aufgeführt, ist es von dem Kneiselschen Quartettverein binnen Jahresfrist fünfzigmal gespielt worden. Im ersten Satz waltet ein gutmüthiges Behagen, das sich im Scherzo und im Finale zu einer kindlichen, ja komischen Lustigkeit steigert. Die monotone Klage des Adagios, mehr Trägheit als Trauer, droht ermüdend zu werden, aber Dvořak weiß sie durch reizende Klangeffecte und wechselnde Begleitungsfiguren geschickt zu beleben. Das Finale hat bei außerordentlicher Einfachheit der Themen einen hinreißenden rhythmischen Zug. Ein naher Verwandter dieses F-dur-Quartetts und mir noch sympathischer ist das Streichquartett in Es-dur, op. 97. Die glückliche Idee, dieses köstliche Stück zuerst aufzuführen, hatte Herr Fitzner, dessen neugegründeter, sehr strebsamer Quartettverein sich bereits ein dankbares Auditorium geschaffen hat. Der erste Satz ist nur leicht amerikanisch angehaucht, klingt sehr musikalisch und bewegt sich in festeren Formen. Das Scherzo hingegen, das effectvollste Stück, ist auf ein echtes Negermotiv von gleichen Viertelnoten aufgebaut, zu welchem die acht Bässe die originelle rhythmische Begleitung einer Handpauke imitiren. Wer in London die „Christy’s Minstrels“ gesehen hat, wie sie allabendlich in St. James-Hall tanzen und singen, der sieht hier die komischen schwarzen Kerle leibhaftig vor sich. Aber mit welcher genial einfachen Kunst ist dieses naturwüchsige Thema behandelt, umgestaltet, von einem gemäßigteren Mollsatz unterbrochen und schließlich in reicherem Schmuck wieder zurückgeführt! Es folgen Variationen über ein elegisches Thema im Dreiachteltact, voll köstlicher Einfälle und schöner Klangeffecte. Das Finale, ein lustig einherspringendes Allabreve, ähnelt in Haltung und Charakter dem Finale des früher genannten F-dur-Quartett s. Es ist die einfachste, naivste, zufriedenste Musik, die vielleicht seit Haydn componirt wurde; das sorglose Ohr vergnügt sich daran, ohne daß unser Geist sich einen Augenblick langweilt. Tiefere Saiten unseres Gefühlslebens werden freilich nicht berührt, Seelenkämpfe und Leidenschaften haben kein Wort dareinzusprechen. Man wird auch keine philosophischen Offenbarungen aus dieser Musik heraufholen können, wie es jetzt Mode ist. Die Wagnerianer finden bekanntlich in jeder Oper ihres Meisters den ganzen Schopenhauer ; ja in neuester Zeit entdeckte sogar ein geistreicher Nietzscheaner — geistreich sind sie Alle — in Chopin den Vorläufer — Friedrich Nietzsche’s! Herr Przybyszewski (so lautet sein melodischer Name) beweist dies in einer eigenen Abhandlung , worin es heißt: Nietzsche ist die Uebersetzung Chopin ’scher Musik in die philosophische Sprache; Analyse und Deduction aus dem Material, das Chopin geliefert hat. Wo Chopin aufhört, setzt Nietzsche an.“ Nein, auf die Ehre als Ahnherr oder als Vollender eines philosophischen Systems gefeiert zu werden, darf Dvořak nicht hoffen. Seine Quartette lehren keine Philosophie, am wenigsten eine pessimistische. Sie werden Manchem zu einfach und gesund erscheinen, nicht tief, nicht bedeutend genug. Ich halte es mit Ehlert, der vor nahezu zwanzig Jahren über Dvořak ’s „Slavische Tänze“ schrieb: „So etwas Erfreuliches thut uns recht noth. Die Männer, welche uns in der Musik gegenwärtig am meisten interessiren, sind so furchtbar ernst. Wir müssen sie studiren, und nachdem wir sie studirt haben, einen Revolver kaufen, um unsere Meinung über sie zu vertheidigen. Ich denke es mir wonnig, wenn wieder einmal ein Musiker käme, über den man sich ebensowenig zu streiten brauchte, wie über den Frühling.“

Noch eine andere Novität von Dvořak bekamen wir jüngst bei Rosé zu hören: ein aus sechs kurzen Stücken bestehendes Clavier-Trio (op. 90), „Dumky “, benannt. Darüber weht noch nicht das amerikanisch e Sternenbanner; schon der Titel bekennt die südslavischen Farben. Dumky ist die Mehrzahl von „Dumka“, was beiläufig Elegie oder Klagelied bedeutet. Wir kennen diese fremdartig klagenden, langgezogenen Töne, in die sich Dvořak förmlich verliebt hat. Eine solche „Dumka“ steht schon in seinem schönen Sextett op. 48, dann in dem E-dur-Quartett op. 80 u. A. an Stelle des Adagio. Das neue Clavier-Trio, welches kürzlich unsere treffliche Marie Baumayer mit den Herren Rosé und Hummer so erfolgreich gespielt hat, besteht aus sechs solchen „Dumky“. Es sind ganz reizende Nummern darunter; aber ihre Anzahl läßt eigentlich keinen Totaleindruck zu. Da jede solche Dumka in sich zwiespaltig ist, aus der Schwermuth plötzlich in Fröhlichkeit überspringt, so muß der Hörer im Verlauf der sechs kurzen Stücke zwölfmal diesen jähen Stimmungswechsel durchmachen. Wir vermissen die innere Nothwendigkeit für die Vereinigung dieser sechs Dumky, denn sie stehen keineswegs wie die vier Sätze einer Sonate in einem Verhältniß des Gegensatzes oder der Steigerung zu einander. Ihre Verbindung zu einem Trio scheint mehr einer Laune entsprungen, mit der wir jedoch nicht hadern wollen, daß sie in wunderlicher Form uns so Liebliches und Charakteristisches dargeboten hat. ... Als Kunstwerk höher stehend und aus edlerem Material geformt als seine amerikanisch en Kammermusiken ist Dvořak ’s bekanntes Clavier-Quintett in A-dur, welches jüngst gleichfalls bei Rosé , unter rühmenswerther Mitwirkung Alfred Grünfeld’s, mit glänzendem Erfolg gespielt wurde. ... Die neue Claviersonate von Ignaz Brüll in D-moll (op. 73) hat bereits ein anderer Referent gewürdigt. Die Aufnahme dieser von Brüll selbst vorgetragenen brillanten Composition im letzten Rosé -Quartett war überaus schmeichelhaft. Als classischer Virtuose zeigte sich Brüll hier in seiner ganzen Größe; der Componist wollte sich aber diesmal doch etwas größer strecken, als er gewachsen ist.