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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11290. Wien, Mittwoch, den 29. Januar 1896

[1]

Zur Biographie Franz Liszt’s. II.

(Schluß.)


0003Ed. H.*) So lange Franz Liszt als Virtuosen-Schmetter-
0006ling rastlos durch Europa flatterte, war er nicht so leicht
0007einzuholen und zu haschen. Als er aber in Weimar seß-
0008haft geworden und allmächtig am großherzoglichen Hofe, da
0009überschüttete ihn tagtäglich die Post mit Briefen von Freunden,
0010Bewunderern und — Bittstellern. „Du solltest eigentlich
0011Helferich statt Franz heißen,“ schreibt ihm Adolph Stahr 
0012(dessen jetzt noch in Weimar lebende Töchter Liszt’s be-
0013sonderen Schutz genossen), „denn eine hilfsbereitere Menschen-
0014seele als dich habe ich in meinem Leben nie kennen gelernt!“
0015Zunächst hatte der „Helferich“ viel seufzende Sehnsucht nach
0016dem Weimarischen Falken-Orden zu stillen. „Ich fliege dem
0017Vogel nach,“ bekennt Dingelstedt, und er hat durch
0018Liszt den „Vogel“ erhalten, ebenso wie Mosenthal,
0019Dessauer, E. Devrient, Dawison, Tichatschek 
0020und noch manche Andere, von welchen keine Briefe vorliegen.
0021So viele Orden wie Liszt hat wol noch kein Künstler verschafft,
0022Wagner ausgenommen, der gelegentlich seiner Festspiele
0023bayrische Auszeichnungen vertheilte wie ein Souverän. Der
0024Musik-Theoretiker C. Weitzmann begnügt sich mit dem
0025Doctordiplom, das ihm Liszt von der Universität Jena er-
0026wirkte. Dann kommen die Bitten von Robert Franz,
0027Ferdinand David und Anderen um Annahme von
0028Dedicationen oder Befürwortung dieses Ansuchens bei kaiser-
0029lichen und königlichen Hoheiten. Minna Wagner wünscht,
0030daß eine Nichte Richard Wagner’s in Weimar als Schau-
0031spielerin engagirt werde. Marie Seebach bestürmt Liszt 
0032um eine melodramatische Musik zu Bürger’s „Leonore“ und
0033Des Sängers Fluch“ von Uhland. („Ich hätte mögen auf 
0034den Knien am liebsten vor Ihnen liegen und beten!“
0035Berlioz hofft durch Liszt auf einen Verleger für seinen
0036Faust“; Capellmeister C. Krebs auf die Aufführung
0037seiner Oper „Agnes“. Johanna v. Beethoven (die
0038Witwe des „Neffen Karl“) bittet in großer Bedrängniß
0039um eine wiederholte Geldunterstützung, indem sie sich für
0040bereits empfangene hundert Gulden bedankt. Aber eines
0041der allerinteressantesten Anliegen kommt von dem 73jährigen
0042Rossini. Er berichtet dem neugeweihten Abbé von seiner
0043kürzlich componirten und in Privatkreisen gesungenen vier-
0044stimmigen Vocalmesse: „Man wollte, daß ich die Messe
0045instrumentire, um sie sodann in einer Pariser Kirche auf-
0046führen zu lassen. Doch widerstrebte mir’s, da ich all mein
0047geringes musikalisches Wissen an dies Werk gelegt und es
0048mit wahrhaft religiöser Hingebung geschaffen habe. Es
0049existirt, wie man mir versichert, von einem früheren Papste
0050her eine beklagenswerthe Bulle, die ein Zusammen-
0051wirken beider Geschlechter in der Kirche verbietet. Könnte
0052ich jemals zugeben, meine armen Noten von den mißtönen-
0053den Knabenstimmen singen zu hören, statt von Frauen, die
0054für die geistliche Musik herangebildet sind und, um musika-
0055lisch zu sprechen, mit ihren wohllautenden, lichten Stimmen
0056gleichsam Engel des Himmels darstellen? Wäre es mir,
0057gleich Ihnen, vergönnt, im Vatican zu wohnen, ich würde
0058mich zu den Füßen meines angebeteten Pius IX. nieder-
0059werfen, um seine Gnade für eine neue Bulle anzurufen,
0060die den Frauen gestattet, vereint mit den Männern in der
0061Kirche zu singen. Diese Maßregel würde der in völligem
0062Niedergang befindlichen Kirchenmusik neues Leben verleihen.
0063Als wackerer Abbé vereinigen Sie sich, Theuerster, mit mir
0064und versuchen wir es, bei Sr. Heiligkeit eine Gnade zu er-
0065langen, die Ihnen als Diener der Kirche wie als Musiker
0066doppelt am Herzen liegen muß.“


0067Auch in ernsten politischen Fällen mußte Liszt 
0068mitunter den Vermittler spielen; so für zwei Oesterreicher:
0069Moriz Hartmann und Eduard Reményi.
0070„Moriz Hartmann ist gefangen,“ schreibt Adolph Stahr im
0071October 1854 an Liszt. „Seine Freunde in Paris schreiben
0072mir, daß, wie sie aus Wien erfahren, ein Theil der dor-
0073tigen Minister es aus Furcht vor Scandal selbst für poli-
0074tischer halte, den Dichter wieder in Freiheit zu setzen, der 
0075seit sechs Jahren ohne politische Thätigkeit, rein nur seinen
0076schriftstellerischen Arbeiten gelebt hat. Es sei Alles noch im
0077ersten Stadium der Untersuchung und eben noch Zeit, für
0078den Dichter thätig zu sein. Auch ohne Auftrag von Paris 
0079her würde ich dazu deine Mitwirkung, deinen Einfluß, deine
0080Verbindungen in Anspruch nehmen, denn es gilt einem
0081Freund, einem edlen Charakter, einem Dichter, einem Un-
0082glücklichen. Je mehr von allen Seiten Bitten und Befür-
0083wortungen nach Wien kommen, um so eher ist Aussicht
0084dazu da, daß Kaiser Franz Joseph und seine Räthe thun
0085werden, was menschlich und politisch das Klügste ist, zumal
0086in einem Augenblick, wo ein Louis Napoleon einen Bar-
0087bès
begnadigt und wo Oesterreich durch einen solchen Act
0088die Stimmung von ganz Deutschland gewinnen kann.“ Was
0089den jungen Geiger Reményi betrifft, so hatte er sich nach
0090der Besiegung der ungarischen Revolution geflüchtet und
0091durfte nicht nach Oesterreich zurück. Wiederholt hatte Liszt 
0092ihn ermahnt, Schritte für seine Rehabilitirung zu thun;
0093der Trotzkopf wollte nichts davon wissen. Nun wendet er
0094sich (1854 aus London) doch an seinen mächtigen Beschützer,
0095damit dieser ihm die Erlaubniß zur Rückkehr nach Oester-
0096reich erwirke.


0097So von allen Seiten von Einzelnen und für Einzelne
0098in Anspruch genommen, hat Liszt doch ununterbrochen
0099daran gedacht, wie er im Großen für deutsche Kunst und
0100Bildung wirken und Weimar durch ein monumentales Werk
0101zu neuem Glanze erheben könne. Er plante eine großartige
0102„Goethe-Stiftung“, welche ihren Sitz und Mittelpunkt in
0103Weimar haben sollte. Zweck und Einrichtung dieser Stiftung
0104erklärte Liszt in einer (sonderbarerweise französisch ge-
0105schriebenen) Broschüre: „De la fondation — Goethe“, die er
0106noch vor ihrer Veröffentlichung verschiedenen Künstlern und
0107Schriftstellern zur Beurtheilung schickte. Die meisten Freunde
0108und Verehrer Liszt’s, auch Stahr und Dingelstedt, haben
0109seinen Entwurf in Pausch und Bogen gepriesen. Eine Aus-
0110nahme macht Gutzkow, der in einem ausführlichen, sehr
0111verständigen Briefe manchen unpraktischen Ideen Liszt’s ent-
0112gegentritt. „Allgemeine, vague, blind ins Leere hinausge-
0113schriebene Preisaufgaben halte ich für keine Förde-
0114rung der Kunst. Sehen Sie nur das klägliche Resultat der
0115Laube’schen Concurrenz in Wien! Talent wird nicht ge[2]-
0116weckt durch Preise, im Gegentheile, statt zu encouragiren,
0117decouragirt die Concurrenz. Wie mancher talentvolle junge
0118Mann ist über seinen Durchfall in einer Concurrenz halb
0119verrückt geworden! Aber lassen Sie noch mehr wegfallen! Die
0120Krönungs-Ceremonie, die ganze Richard Wagner’sche Kunst-
0121Zukunfts-Volks-Universal-Acclamation. Das ist Bombast! Das
0122Wesen der Kunst im 19. Jahrhundert ist — die Individualität.“
0123Ein anderes Schriftstück, das Liszt auf dem Herzen lag,
0124war die Dichtung des „Nibelungenring“, die Wagner be-
0125kanntlich noch vor der Musik selbstständig veröffentlicht hatte.
0126Liszt wünscht zuerst das Urtheil der Brüder Grimm und
0127wendet sich deßhalb an Bettina. Diese antwortet: „Ich
0128habe die Söhne aufgefordert, den Nibelungentext den beiden
0129Grimm von deiner Seite zu übergeben; sie haben mir es
0130abgeschlagen und mir betheuert, daß sich kein gutes Resultat
0131daraus erwarten ließe. Ich möchte auch nicht, daß Schaden
0132daraus erwüchse, da dein Eifer für diesen Freund doch
0133immer etwas Heiliges hat, das weit schöner ist als das,
0134worum es sich handelt.“ Noch schlimmer ergeht es den
0135Nibelungen bei Adolph Stahr, welcher doch von Wagner’s
0136früheren Werken eingenommen war. „Um es kurz zu sagen,“
0137schreibt Stahr, „ich weiß kein anderes Urtheil über diese Pro-
0138duction als dasjenige, welches in dem Dilemma enthalten ist:
0139entweder bin ich unfähig, zu verstehen und zu empfinden, was
0140möglich, darstellbar und dramatisch wirksam, was tragisch und
0141die Menschen ergreifend ist — oder: diese Dichtung
0142ist von Anfang bis zu Ende ein einziger un-
0143geheurer Mißgriff
. Einen genialen Menschen so ver-
0144irrt zu sehen, daß man kaum noch das Wort des Polonius 
0145(Wenn das Wahnsinn ist, so ist doch Methode darin) auf
0146ihn anwenden kann, das ist geradezu ein Schmerz. Dies
0147Gedicht ist in Allem ein Abfall von seiner ganz früheren
0148Weise, nur insofern nicht, daß alle Mängel und Fehler der
0149früheren Dichtungen hier zu riesiger, überwuchernder Höhe
0150aufgeschwellt sind, während die schönen menschlich poetischen
0151Eigenschaften fast ganz in den Hintergrund treten. Hier ist
0152eine Sprache, die kein Lebender spricht, eine Rhythmik 
0153und ein Versbau, die meinem Ohre fremd sind; der
0154Wortsinn schwer verständlich, sogar für den ruhig auf-
0155merksamen Leser; die Reden lang und überlang, der
0156Gang der Fabel ohne Gelehrsamkeit und Wissen geradezu
0157unverständlich, und das ganze über- und untermenschliche 
0158Wesen dieser ganzen Welt in Motiven, Ansichten, Thaten,
0159Schicksalen im höchsten Grade interesselos, ja — lang-
0160weilig
!“


0161In Liszt’s Weimarer Zeit (1855 bis 1861) fällt die
0162lebhafteste Correspondenz mit seinen Lieblingsschülern
0163Tausig, Cornelius und Bülow. Die Briefe des
0164Letzteren stehen nicht in der Sammlung von La Mara,
0165sondern sind selbstständig in zwei Bänden erschienen, auf
0166die wir auch einmal zurückkommen. Alle drei Jünglinge
0167sind von der aufrichtigsten Begeisterung für Liszt und seine
0168Werke erfüllt — fast möchte man sagen: besessen. „Be-
0169greift man erst Ihre Musik,“ schreibt Tausig, „so wird
0170erst dann Bach verstanden werden!“ Und später: „Ist
0171Ihr Dante erschienen? Ich habe großes Bedürfniß nach
0172echt classischer Musik, und bis ich nicht wieder eine
0173neue Partitur von Ihnen vor mir sehe, bekomme ich
0174nicht meine Herzensruhe.“ Dem armen Tausig ging es
0175lange Zeit recht übel. Aus den verschiedensten Städten
0176wiederholen seine Briefe dieselbe Klage, daß seine Eltern
0177ihm jede Unterstützung entziehen und er die nächsten Monate
0178werde „von der Luft leben müssen“. Da hat denn „Helfe-
0179rich“ immer wieder geholfen. Auf Liszt’s Rath geht Tausig 
0180Ende 1860 nach Wien, wo er bekanntlich mehrere Orchester-
0181concerte zu dem Zwecke veranstaltet hat, um für Liszt’s
0182symphonische Dichtungen Propaganda zu machen. Das
0183Unternehmen fand wenig Anklang und verursachte große
0184Unkosten. Dennoch bleibt Tausig auf Liszt’s Wunsch in
0185Wien. „So leicht ist mir der Entschluß, in Wien zu bleiben,
0186keineswegs geworden, und ich habe überwinden müssen.
0187Wien ist mir unausstehlich, und meine Stellung, wenn ich
0188überhaupt darauf ausgehe, jetzt oder später eine einzunehmen,
0189ist zu aller Welt eine schiefe, unangenehme und höchst un-
0190entwickelte.“ Bei allem Enthusiasmus für Liszt benimmt
0191er sich doch nicht so herausfordernd wie Bülow, der in Berlin 
0192(1859) als Dirigent von Liszt’s „Idealen“ einige Zischende
0193laut aufforderte, den Saal zu verlassen. „Ich hätte es für
0194würdiger gehalten,“ schreibt Tausig, „wenn er hätte die
0195Leute zischen lassen. Diese Schroffheit verdirbt Alles. Wie
0196will er, daß die Leute in seine Concerte gehen, wenn er
0197ihnen verbietet, ihre Meinung zu sagen? Es bleibt ihm
0198nichts übrig, als sich mit Jedem, der nicht seiner Meinung
0199ist, zu duelliren.“ Noch entschiedener äußert sich die berühmte 
0200Sängerin Pauline Viardot gegen Liszt: „Gewiß wird
0201das Publicum stets günstig aufnehmen, was ihm von
0202Ihnen selbst, persönlich vorgeführt wird, aber ich habe
0203jedesmal Angst, wenn Bülow und die anderen Fanatiker 
0204sich hineinmischen. Sie schädigen die Sache, welcher sie dienen
0205wollen, indem sie andere als musikalische Mittel zur Ueber-
0206redung anwenden. Sie sind exaltirt, ungeduldig und heftig
0207bis zur Grobheit; sie suchen Streit und schreiben Kampf-
0208artikel gegen Alle, die nicht geneigt sind, ihnen aufs Wort zu
0209glauben, und nicht gewillt, einer neuen Musik zuliebe auf
0210jene zu verzichten, die das Glück ihres Lebens gewesen ist.
0211Das ist absurd. Sie allein können, ja Sie müssen die
0212Hitze Ihrer jungen Leute mäßigen! Die heftigen oder scan-
0213dalösen Scenen, die sie hervorrufen, werfen einen Schein
0214von Lächerlichkeit auf Ihre Sache. Bringen Sie also alle
0215die verrückten und ungeschickten Thoren zum Schweigen
0216und sprechen Sie!“


0217Sehr bemerkenswerth sind die Briefe von zwei aufrichtigen
0218Freunden und Verehrern Liszt’s, welche inmitten der fanatischen
0219Propaganda für dessen Compositionen sich verpflichtet fühlten,
0220aufrichtig ihre Bedenken dagegen auszusprechen: Ferdinand
0221Hiller und Joachim. „Ich hätte dir,“ schreibt Hiller,
0222nach dem Aachener Musikfest, „mit dem besten Willen nicht
0223viel Freundliches sagen können, ohne Comödie zu spielen.
0224Wenn auch meine Sympathie für dich immer die gleiche ist,
0225so muß ich doch hinzufügen, daß es sich mit einem Theil
0226deiner musikalischen Bestrebungen ganz anders verhält, daß
0227ich nicht allein in denselben nicht mit dir übereinstimme,
0228sondern es nachgerade für Pflicht halte, dir mit allen Kräften
0229entgegenzutreten, so schwach sich dieselben auch deiner Stellung
0230und deinem Einfluß gegenüber erweisen mögen.“ Mit schöner
0231Offenheit betont Joachim, indem er die Einladung zu
0232dem Musikfest in Weimar ablehnt: „Was hilft es, wollte
0233ich noch länger zaudern, auszusprechen, was ich empfinde!
0234Ich bin deiner Musik gänzlich unzugänglich; sie widerspricht
0235Allem, was mein Fassungsvermögen aus dem Geist unserer
0236Großen seit früher Jugend als Nahrung zog. Ich kann euch
0237kein Helfer sein und darf dir gegenüber nicht länger den
0238Anschein haben, die Sache, die du mit deinen Schülern ver-
0239trittst, sei die meine.“


0240Einmal kommt es doch vor in dieser Sammlung
0241von 240 Briefen, daß Liszt selber eine Gefälligkeit von [3]
0242Jemandem ansucht. Er bittet Berlioz, in Paris seine Wahl
0243zum Membre de l’institut (nach Spohr’s Tod) anzuregen,
0244was Berlioz gerne und mit Erfolg thut. Berlioz berichtet
0245auch, daß R. Wagner sich in London durch seine Gering-
0246schätzung Mendelssohn’s sehr geschadet habe. „Wagner hat Un-
0247recht,“ schreibt Berlioz, „den Puritaner Mendelssohn nicht als
0248eine reiche und schöne Individualität anzuerkennen. Wenn
0249ein Meister ein Meister ist, und wenn dieser Meister immer
0250und überall die Kunst geehrt und hochgehalten hat, dann
0251muß man ihn gleichfalls ehren und hochhalten, mag auch
0252unsere Richtschnur von der seinen abweichen.“ Wie mühsam
0253es Berlioz geworden, seine Oper „Die Trojaner“ zur Auf-
0254führung in Paris anzubringen, illustrirt er Liszt durch
0255folgende kleine Erzählung: „Der Kaiser hatte mich auf-
0256gefordert, ihm das Libretto zu bringen, und gewährte mir
0257eine (wie ich glaubte) besondere Audienz: es waren unser
025842. Kaum war es mir möglich, ihm ein paar Worte zu
0259sagen. Er hatte seine Miene von 25 Grad unter Null, ver-
0260sprach, mein Buch zu lesen, falls er einen Augenblick der
0261Muße finden könnte, und seitdem habe ich nichts mehr davon
0262gehört. Die Sache war abgethan. Das ist so alt wie die
0263Welt. Ich bin gewiß, daß der König Priamus sich ganz
0264ebenso benommen hat.“


0265Von Rubinstein finden sich nur wenige Briefe in
0266der Sammlung, aber sie sind nicht ohne Interesse. Es
0267erging dem jungen Virtuosen anfangs ganz so miserabel,
0268wie seinen beiden Collegen Tausig und Bülow. Und doch
0269bildeten diese Drei die herrlichste Blüthe der nachliszt’schen
0270Clavier-Virtuosität. Zuerst eine bittere Klage aus Berlin 
0271(1855), wo Rubinstein für sein erstes Concert 160 Thaler
0272aus eigener Tasche zuzahlen mußte, um seine Ocean-
0273Symphonie durchfallen zu sehen. Dann im selben Jahre
0274Wien, wo das Vergnügen, ein Concert zu geben, ihn
0275bare 260 Gulden kostete. Einen leeren Saal gibt es frei-
0276lich nicht in Wien nach Rubinstein’s Versicherung, da drei
0277Viertheile der Plätze von Freibilletten verschlungen sind.
0278Auch die Kritik, welche für Wilhelmine Clauß schwärme,
0279habe ihn schlecht behandelt, besonders Hanslick. Dieser sage:
0280„Sie hat das ästhetisch Schöne in der Kunst mit Löffeln
0281aufgefressen, so daß für die Anderen nicht mehr als ein
0282Leck für einen Groschen übrig bleibt.“ Dieser mir zuge-
0283schriebenen Albernheit stehe ich vollständig fremd und un-
0284schuldig gegenüber. Auch ist es nicht ganz mein Styl. Von
0285da an klafft eine breite Lücke in der Correspondenz zwischen
0286Rubinstein und Liszt bis zum Jahre 1871, wo Rubinstein 
0287seine Trauer um den früh heimgegangenen Tausig aus-
0288spricht. Dieser sei mit Bülow und Nikolaus Rubinstein der
0289letzte große Pianist gewesen. „Die Instrumental-Musik,“
0290sagt Rubinstein, „kann aber nur verlieren mit dem Ver-
0291schwinden der Virtuosität; die „guten Musiker
0292sind es nicht, durch welche die Kunst vorwärts kommt.
0293Man hat gut sagen, der „gute Musiker“ sei der Deputirte
0294der Rechten, oder des Centrums, oder der Linken — die
0295Kunst verlangt aber einen Dictator, einen Imperator.“


0296Die weit überwiegende Mehrzahl der uns vorliegenden
0297Briefe Liszt’s datirt aus seiner Weimarer Zeit; da waltete auch
0298die sorglich hütende Hand der Fürstin Wittgenstein über den
0299Schriftstücken. Aus Liszt’s römischen Jahren und seinem
0300Pester Aufenthalte haben wir nur eine spärliche Ausbeute.
0301Im Jahre 1871 benachrichtigt ihn der Minister-Präsident Graf
0302Julius Andrassy, daß der Kaiser seine Ernennung für
0303Pest mit dem Titel eines königlichen Rathes und einem
0304Gehalt von 4000 Gulden genehmigt habe. In Erwartung
0305eines seinem Genie entsprechenden Amtes werde Liszt durch
0306seine bloße Anwesenheit Pest zu einem musikalischen
0307Mittelpunkt machen. Die Briefe seiner ungarischen Verehrer
0308übertreffen in schwärmerischer Huldigung Alles, was Liszt 
0309in diesem Artikel sonst erlebt hat. „Welch tiefen Gehalt,“
0310schreibt E. v. Mihalovich, „welch unvergleichlichen Werth
0311soll das Leben wieder für mich gewinnen, wenn es mir ver-
0312gönnt sein wird, in der elektrischen Sonnennähe des Gött-
0313lichen
zu leben, aus dessen geflügelten Worten und er-
0314habenen Mienen u. s. w. u. s. w.“ Und Cornel
0315v. Abranyi: „Seitdem ich denke, und gar seitdem ich
0316musikalisch denke, habe ich nur eine einzige Idee: diese
0317Idee concentrirt sich in Ihrem unsterblichen Genie!“ Ein
0318Brief des berühmten Theologen Karl v. Hase in Jena an den
0319(damals erkrankten) Liszt beschließt die Sammlung; er
0320endet mit den hübschen Worten: „Ich würde selbst den
0321heiligen Franciscus für Ihre Genesung anrufen, wenn mir’s
0322nicht am Glauben fehlte.“ Es war der Anfang vom Ende:
0323mit Einemmale kam das Alter über ihn, dessen er bisher zu
0324spotten schien. Fünf Jahre später (1886) war Liszt nicht
0325mehr unter den Lebenden.

Fußnoten
  • *)Vergl. Nr. 11259 der „Neuen Freien Presse“ vom 28. De-
    cember 1895.