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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 32. Wien, Sonntag den 2. October 1864

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Meyerbeer und die Hugenotten.

(Kein Festbericht.)


0003Ed. H. Wenn ich ein großer Mann und todt wäre, nichts
0004könnte mich so sehr beunruhigen, als der Gedanke, etwa noch zu einer
0005Trauerfestlichkeit im Theater herhalten zu müssen. Insbesondere das
0006Wiener Hofoperntheater würde mich hierüber in einer peinlich langen
0007Ungewißheit lassen.


0008Soll eine Trauer-Festvorstellung (ein fatal zusammengesetzter
0009Begriff!) einen vernünftigen Sinn haben, so muß sie gleichsam un-
0010mittelbar aus dem allgemeinen Gefühle der Trauer und Verehrung
0011hervorbrechen, sie muß den Charakter des Improvisirten tragen.
0012So gab man in verschiedenen größeren Städten Frankreichs
0013und Deutschlands alsbald nach der Kunde von dem Hinscheiden
0014Meyerbeer’s sein Meisterwerk: die „Hugenotten,“ bekränzte dabei seine
0015Büste und sprach allenfalls einige Gelegenheitsverse. Das Publicum,
0016noch unmittelbar bewegt von der unerwarteten Todesnachricht, fühlte
0017das Bedürfniß, von dem Verstorbenen zu sprechen, ihn zu rühmen,
0018ihn auf dem Schauplatze seines Wirkens sich gleichsam persönlich
0019noch zu vergegenwärtigen. Also erregt, strömte man ins Theater, in
0020der feierlichen Stimmung, mit der man ein vornehmes Trauerhaus
0021betritt. Nur so und nicht anders scheinen uns derlei theatralische Exe-
0022quien gerechtfertigt. Auch jedes neue äußere Lockmittel dünkt uns
0023unpassend bei solchem Anlaß. Nur das erregtere Gefühl der ihr
0024Bestes aufbietenden Darsteller, die aus zwiefachem Quell zu einem
0025Strome der Theilnahme sich verdoppelnde Empfindung der Hörer
0026möge die Vorstellung von jeder gewöhnlichen unterscheiden. Die alten
0027Decorationen, das alte Costum, nichts darf neu sein, als der Schmerz
0028um den Verlust des Meisters.


0029Was nach drei Tagen ein rührendes Erinnerungsfest, wird
0030nach drei Monaten ein frostig gekünstelter, officieller Leichen-
0031schmaus. Und so lange hat sich unser Hofoperntheater zu seiner
0032Meyerbeerfeier bereits Zeit gelassen. Ein Vierteljahr in unserer Zeit,
0033die so wenig Zeit hat zur Trauer! Und noch immer kann dieser unglück-
0034liche „Hugenotten“-Festabend, den man bereits einige Dutzendmal ankün-
0035digte (in verflossener Woche allein dreimal), nicht ins Leben treten, er wird
0036zum Mythus, oder prosaischer gesagt, zur langweiligsten aller Zei-
0037tungsenten. An äußerem Glanze wird man es zwar dem dramatischen
0038Katafalk nicht fehlen lassen. Hugenotten und Katholiken, Hoffräuleins
0039und Zigeunermädchen, Soldaten und Mönche (nein „Rathsherren“),
0040alle sollen sie in funkelneuen Gewändern stolziren. Die Verschworenen
0041werden im vierten Act sitzen, anstatt zu stehen, und die Freitreppe, welche
0042Valentine im zweiten Act herabstürzt, wird jetzt links angebracht, an-
0043statt rechts. Das ist alles recht schön, wir fürchten nur das Eine, daß die
0044ganze Festvorstellung bald einem Glase Wein gleichen wird, das man
0045durch langes Stehen hat matt und abschmeckend werden lassen.


0046Während man in Wien, wo „Robert“ und die „Hugenotten“
0047sich so frisch und wirksam erhalten haben, wie vor 30 Jahren, eine
0048glänzende Erinnerungsfeier wenigstens vorbereitet, hat das Publicum
0049in den größten Städten Deutschlands, Frankreichs und Italiens seine
0050dankbare Verehrung für den verstorbenen Meister in herzlichster Weise
0051einhellig kundgegeben. Nicht in angenehmster Weise fiel uns hiebei
0052die Art oder vielmehr Unart ein, mit welcher die deutsche Kritik
0053Meyerbeer von jeher behandelt hat, und noch immer behandelt.
0054Der Verfasser der allerneuesten „Geschichte der Musik“ (Herr Joseph
0055Schlüter) versichert uns, Meyerbeer sei nichts anderes, als „der
0056von allen Nationen profitirende Jude, der Jude, welcher es dem
0057hochverehrten Publicum auf jede Weise recht zu machen weiß;“ —
0058die „Hugenotten“ und der „Prophet“ aber seien schlechtweg die Ten-
0059denz-Opern des modernen „Judenthums gegen den demselben verhaß-
0060ten Katholicismus.“ — Wer über Meyerbeer nichts anderes vorzu-
0061tragen weiß, der löscht sich eigentlich selbst aus der Reihe der musi-
0062kalischen Schriftsteller. Ganz analoge Urtheile, etwas länger oder kür-
0063zer formulirt, etwas milder oder geistreicher ausgedrückt, finden wir
0064zu Dutzenden in der deutschen gebundenen oder nichtgebundenen Musik-
0065Literatur, ja sie bilden die entschiedene Majorität. Diese stolze Ueber-
0066hebung musikalischer Nullitäten wäre mitunter hochkomisch, hätte nicht
0067ein Mann von ganz anderem Kaliber, ein Meister ersten Ranges, das
0068Signal zu dieser gehässigen Behandlung Meyerbeers gegeben. Schu-
0069mann
schrieb im Jahr 1837 über die „Hugenotten“: „er zähle seit
0070dieser Musik Meyerbeers gar nicht mehr zu den Künstlern, sondern zu
0071Franconi’s Kunstreitern.“ Nachdem er dem Componisten der „Hugenot-
0072ten“ alle, aber auch alle sittlichen und künstlerischen Eigenschaften stück-
0073weis herabgerissen, wie einem zu kassirenden Offizier die Waffen und
0074Epaulettes, gesteht er ihm schließlich „leider (!) einigen Esprit“ zu,
0075also soviel, als man dem letzten französischen Vaudevillisten einräu-
0076men muß. Schumann, der immer ein milder, oft allzumilder Rich-
0077ter war, hat nach unserem Dafürhalten mit seiner berühmten „Huge-
0078notten“-Kritik ein unheilvolles Beispiel gegeben: es galt fortan für ein
0079Kennzeichen classischen Geschmackes, in Meyerbeer den Gipfel aller
0080Nichtswürdigkeit zu erblicken, und dies bei jeder Gelegenheit von sich
0081zu geben. Diese hochherzigen Nachbeter Schumanns übersehen dabei
0082einen sehr wesentlichen Unterschied, den man nicht stark genug beto-
0083nen, nicht oft genug hervorheben kann. Dies ist der Unterschied zwi-
0084schen dem Urtheil des schaffenden Künstlers und jenem des Kritikers.


0085Die Einseitigkeit des Ersteren begreifen und achten wir, bei
0086Letzterem werden wir sie immer als einen Mangel empfinden. Der
0087Künstler, der seine ganze Seele in eine eigenthümliche Richtung des
0088Schaffens legt, muß in gewissem Sinn exclusiv sein; er darf sein 
0089Ideal so sicher für das einzig echte und würdige halten, daß er Alles,
0090was diesem widerstreitet, was anders ist, abweist. Ist es ein Ton-
0091dichter von so tiefer feiner Eigenthümlichkeit, wie Schumann, so mag
0092seine Exclusivität bis zur Ungerechtigkeit gehen. Ihm, dem Compo-
0093nisten
Schumann, können wir die Unfähigkeit, einer fremden Indi-
0094vidualität gerecht zu werden, unschwer nachsehen. Liszt mit seiner
0095feinen Empfänglichkeit für das Schöne jeder Nation und jeder Kunst-
0096gattung ist vielleicht zu vielseitig, zu unparteiisch gegen die
0097heterogensten Richtungen, um selbst ein ausgesprochener musikalischer
0098Character zu bleiben. Spohr wäre nicht Spohr, wenn er Beethoven 
0099bewundert hätte, und Schumann wäre nicht Schumann, gewännen
0100Meyerbeer’s glänzendste Vorzüge sein Wohlgefallen. Nun wissen wir
0101aber nur zu gut, daß dieser eine einseitige Spohr, dieser eine ein-
0102seitige Schumann der Nation werthvoller sind, als ein Dutzend
0103unparteiische, vielseitige Eklektiker. Zwei schärfere musikalische Gegen-
0104sätze, als Schumann und Meyerbeer, sind überdies kaum denkbar;
0105dort die tiefste, grübelnde Innerlichkeit, hier der imposanteste, äußere
0106Glanz. So gewiß Meyerbeer nicht im Stande gewesen, einen Sonaten- 
0107oder Quartettsatz zu schreiben wie Schumann, so gewiß war es
0108Schumann versagt, auch nur einen Act von der dramatischen Leben[2]-
0109digkeit „Roberts“ oder der „Hugenotten“ zu schaffen. Es hätte
0110seinen Ruhm nicht vermindert, würde er diesen Mangel erkannt
0111haben, anstatt Meyerbeer’s Reichthum zu geißeln. Für die Reize
0112französischer und italienischer Melodien hatte Schumann keinen Sinn,
0113für die ganze moderne Oper keine Gnade, vom wirklichen Theater
0114keinen Begriff. Mit all’ diesen Mängeln oder Begrenzungen hing
0115aber die köstliche Eigenthümlichkeit dieses echt und streng deutschen
0116Lieder- und Instrumental-Componisten zusammen, — und so bewahren
0117wir seine „Hugenotten“-Vertilgung, jene kritische Bartholomäusnacht,
0118als einen denkwürdigen Beitrag zur Erkenntniß — Schumann’s,
0119nicht Meyerbeer’s.


0120Nun gibt es aber, um auf den zweiten Theil des „Quod licet
0121Jovi“ zu kommen, eine ansehnliche Zahl Musikschriftsteller in Deutsch-
0122land, welche über die ganze moderne Oper, namentlich französischer
0123und italienischer Zunge, so wegwerfend urtheilen, wie Schumann über
0124Meyerbeer, ohne in unsterblichen oder auch nur sterblichen Leistungen
0125die gleiche Entschuldigung für sich zu haben. Es gibt in Deutschland 
0126sehr ehrenwerthe und tüchtige Musiker, die factisch keinen andern
0127kritischen Maßstab besitzen, als die Werke Bach’s und Beethoven’s,
0128im besten Fall Mendelssohn’s und Schumann’s. Damit treten sie
0129nun an den „Schwarzen Domino“ oder „Don Pasquale,“ an die
0130Norma“ oder Gounod’s „Faust,“ und mähen diese „Ausgeburten
0131der Effecthascherei und des frivolen Sinnenkitzels“ mit Einem Streich
0132zu Boden. Dabei wird natürlich jedesmal das „verderbte Publicum“
0133heftig abgekanzelt, welches dann — ärgerlich, daß man ihm seine Lieb-
0134linge systematisch verleidet — sich nur um so eigensinniger auch ihrer
0135Fehler annimmt. Von einem Kritiker, der an „Robert“ und den
0136Hugenotten“ gar nichts zu rühmen und zu bewundern findet, darf
0137man kühn behaupten, daß er überhaupt kein Verständniß für die
0138Oper, und kein Organ für dasjenige besitze, was eine Musik zur
0139dramatischen und theatralisch wirksamen macht. Den gleichen Ver-
0140dacht hegen wir sofort, wenn jemand die Italiener und Franzosen in
0141Bausch und Bogen verdammt. Wir Deutschen machen viel bessere
0142Musik, aber die Italiener und Franzosen haben viel mehr gute
0143Opern hervorgebracht. Dies Zugeständniß kann uns nicht zu weh
0144thun, ist doch die Oper das einzige musikalische Gebiet, das die
0145Romanen bebauen, dafür auch mit vollkommenerer Concentration der
0146Kräfte. Ueberflügelt einmal ein Deutscher im Opernfach alle auslän-
0147dischen Rivalen, und erhält sich ein Halbjahrhundert lang in der Be-
0148wunderung von ganz Europa, — dann sollte schon das einfachste
0149patriotische Schicklichkeitsgefühl jenen unwürdigen Peitschenton unmög-
0150lich machen, in welchem die deutsche Kritik noch immer von Meyer-
0151beer spricht.


0152Es muß etwas Wahres an Börne’s Behauptung sein, daß
0153Undankbarkeit gegen die eigenen Landsleute im Charakter der Deutschen
0154liege. Sonst hätte Meyerbeer, der einzige deutsche Componist, der
0155(mit Ausnahme R. Wagner’s) seit 40 Jahren überhaupt theatralische
0156Erfolge gehabt, und der seit C. M. Weber unstreitig unser größter
0157Opern-Componist ist, in der deutschen Kritik doch nicht wie ein Ver-
0158brecher behandelt werden können. Ja Meyerbeer gilt dieser Kritik
0159gar nicht als Deutscher, denn er hat französische Libretti in Musik
0160gesetzt. Nun hat Gluck seine sämmtlichen Opern französisch oder
0161italienisch, Mozart neun Zehntheile seiner Opern italienisch compo-
0162nirt, — und doch leugnet niemand, daß sie deutsche Componisten
0163waren. Aber die „Vermengung der Style,“ die jeder Conservatoriums-
0164Zögling mit Selbstgefühl an Meyerbeer verdammt? Gewiß hat Meyer-
0165beer charakteristische Elemente des französischen und italienischen Styls
0166in seine Ausdrucksweise aufgenommen, allein es ist keine Phrase,
0167sondern vollständige Wahrheit, wenn Fetis — dessen Meyerbeer-
0168Urtheil wir übrigens nur mit den größten Einschränkungen theilen —
0169ausspricht, daß trotz dieser Stylverschmelzung jede Note in Meyer-
0170beer’s Opern Meyerbeerisch sei. Wir können in diesem Punkt 
0171Meyerbeer kaum anders richten, als Gluck und Mozart. Eine
0172fleißige Beschäftigung mit den Zeitgenossen und unmittelbaren Vor-
0173gängern dieser beiden Meister hat uns belehrt, daß in Mozart weit
0174mehr italienische, in Gluck weit mehr französische und italienische
0175Elemente vorwiegen, als bei Meyerbeer. Wir wüßten manches Stück
0176in den „Hugenotten,“ das in sehr schlimmen Sinn Meyerbeerisch ist,
0177aber kaum eines, zu welchem ihm ein bestimmter französischer oder
0178englischer Componist Modell gesessen. Die chemische Analyse einer
0179Musik auf ihre Nationalität ist übrigens nicht so leicht, am wenigsten
0180in der Oper. Man versuche sie nur bei Spontini und Cherubini,
0181welche doch der Vereinigung italienischer, französischer und deutscher
0182Elemente ihre mächtigsten Wirkungen danken! Die „Hugenotten“ tra-
0183gen natürlich von vornherein durch das Textbuch die Physiognomie
0184und den Zuschnitt der französischen „großen Oper“; dennoch läßt 
0185die Musik nur in wenigen, meist untergeordneten Momenten den
0186Deutschen verkennen. Wir können uns kaum denken, daß ein anderer
0187als ein deutscher Componist Stücke, wie „die Waffenweihe,“ das
0188Sextett, den Spottchor, Valentinens Duette mit Raoul und Marcell 
0189hätte schreiben können, von der Unzahl kleinerer geistvoller Züge und
0190wunderbar stimmungsvoller Ritornelle zu schweigen, in die nur ein
0191Deutscher sich mit solcher Liebe vertiefen konnte.


0192In den landläufigen Bannflüchen gegen Meyerbeer äußert sich
0193wol meistens der Haß gegen die Richtung der modernen großen Oper
0194überhaupt. Das ästhetisch und moralisch Verletzende, das in Opern-
0195stoffen, wie der Meyerbeer’sche liegt, wird niemand leugnen, noch be-
0196schönigen, auch nicht den Theil Verantwortlichkeit, welcher den Com-
0197ponisten solcher Stoffe trifft. Nur darf man nicht einseitig die Person
0198für eine Richtung verantwortlich machen, welche unwiderstehlich im
0199Charakter der Zeit lag, durch die gleichzeitige Literatur, auch schon
0200durch Opern, wie die „Stumme,“ „Zampa“ u. A. vorgezeichnet lag.
0201Die Wendung der großen Oper, im Sinn der „Hugenotten,“ wäre
0202auch ohne Meyerbeer hereingebrochen. Daß Meyerbeer sie mit einer
0203musikalischen und dramatischen Begabung ohne Gleichen behandelte,
0204bleibt allzeit sein Ruhm, daß er sie immer raffinirter zur Ueberladung
0205und Unnatur trieb, bildet seine Schuld.


0206Wer über den „Propheten“, den „Nordstern“, „Dinorah“ urtheilt,
0207wird kaum umhin können, die Wagschale des Tadels schwerer als die des
0208Lobes zu belasten. Auch hier wird jedoch das Unerfreuliche, mitunter
0209Peinliche der ganzen Richtung die Kritik nicht von der Verpflichtung
0210entbinden, Meyerbeer’s Schöpferkraft und unvergleichlichen Kunstver-
0211stand, vom musikalischen Standpunkte aus, zu würdigen. Die Dom-
0212scene im „Propheten“, die Soldatenscenen im „Nordstern“ sind und bleiben
0213Bilder von einer hinreißenden Farbenpracht und Lebendigkeit, wie sie
0214neben Meyerbeer keinem Zweiten, er heiße, wie er wolle, zu Gebote
0215standen. Ein Künstler, dem Würfe, wie diese, gelungen, der mit Werken
0216wie „Robert“ und „die Hugenotten,“ den Ruhm des deutschen Namens
0217weiter als irgend Einer vor ihm durch die Welt getragen, der sollte,
0218dächten wir, doch wenigstens das Eine erreicht haben, daß seine Lands-
0219leute, — er möge ihnen nun sympathisch sein oder nicht, — mit
0220Respect von ihm reden.