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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 259. Wien, Samstag den 20. Mai 1865

[1]

Hofoperntheater.

(„Tutti in maschera,“ komische Oper in drei Acten, von Carlo Pedrotti.)


0003Ed. H. „E un asino il maestro! /  Il poeta è un asino!“ /
0004Diese kraftvollen Ausrufe, welche, fast nach Art
0005eines Mottos, die neue Oper eröffnen und dem Hörer wie-
0006der beim Herausgehen unwillkürlich nachklingen, gelten nicht
0007etwa dem Werke des Herrn Pedrotti, sondern einer Car-
0008nevals-Oper des „Don Gregorio“, deren Todesurtheil in der
0009ersten Scene von den Gästen eines venetianischen Kaffeehau-
0010ses proclamirt wird. Gregorio (Herr Fioravanti) ist ein
0011lächerlicher alter Componist und Theateragent, der, über den
0012Undank des venetianischen Publicums entrüstet, nach Damas-
0013cus auszuwandern beschließt, wohin gerade ein reicher Türke,
0014Abdallah (Herr Boccolini), eine italienische Operngesell-
0015schaft anwirbt. Auch Gregorio’s flatterhafte Frau Dorothea 
0016(Fräulein Fabbrini) meldet sich für Damascus, desgleichen
0017seine Primadonna Vittoria, welche, irregeführt durch vorschnelle
0018Eifersucht, sich mit ihrem Geliebten, dem Cavaliere Emilio 
0019(Herr Guidotti), überworfen hat. Bei dem allgemeinen Zu-
0020sammentreffen in Abdallah’s Salon findet sich ein Zettel
0021dieses verliebten Muselmannes an eine ungenannte Dame,
0022welche ihm ein Rendezvous auf dem Maskenball gewähren
0023soll. Sowol Gregorio als Emilio begeben sich, beide von Eifer-
0024sucht getrieben, in einer Abdallah’s Costüm getreu copirenden
0025Maske auf den Ball. Gregorio muß von seiner ihn nicht
0026erkennenden Frau sich die unartigsten und fatalsten Wahrhei-
0027ten sagen lassen, Emilio hingegen gewinnt in seiner Verklei-
0028dung die frohe Ueberzeugung von Vittoria’s unveränderter
0029Liebe. Eben will der zuletzt eintretende wirkliche Abdallah mit
0030seinen beiden Doppelgängern Händel beginnen, als die Mas-
0031ken fallen und Alles in Versöhnung und Heiterkeit schließt.


0032Man sieht, daß dies dürftige Gerüst kaum den Namen
0033einer Handlung verdient. Ein paar komische Scenen lose
0034aneinandergereiht, dazwischen etwas Liebe und Eifersucht, eine
0035bunte Maskerade zum Schluß: das ist der Stoff dieser drei
0036Acte. „Tutti in maschera“ (nach einem Goldoni’schen
0037Sujet) sind eine Faschingsposse nach Art des „Türken in
0038Italien“ oder der „Italienerin in Algier“, woran sie auch
0039mitunter erinnern. Nur der Italiener ist so genügsam —
0040„naiv“ im lobenden wie im beschränkenden Sinne des Wor-
0041tes — sich an einem solchen Libretto zu ergötzen, an einer
0042Handlung, die weder Deutsche, noch weniger Franzosen sich
0043gefallen ließen. Selbst an den besten Buffo-Opern der Ita-
0044liener läßt sich die Bemerkung machen, daß eine überaus ein-
0045fache Handlung, allenfalls mit ganz bekannten, typischen Fi-
0046guren und einigen starken Situationen ihnen wesentlich und
0047vollständig genügend ist. Vor Allem muß die Exposition klar
0048sein. Die feingesponnenen, geistreichen Operntexte von Scribe 
0049hätten in Italien keinen Erfolg, ja die wenigsten davon
0050würden verstanden, da die Intrigue sich sehr rasch und com-
0051plicirt verwickelt. Hat der Italiener aber die ersten Scenen
0052einmal verstanden und in einer klaren, ausführlichen Expo-
0053sition festen Fuß gefaßt, so folgt er auch jedem einzelnen De-
0054tail aufmerksam und hingebend. Wie das Textbuch, so ver-
0055langt auch die Musik zu „Tutti in maschera“ ein specifisch
0056nationales Publicum. An sich, vom allgemein musikalischen
0057Standpunkt betrachtet, ist diese Composition das Leerste, Un-
0058bedeutendste, dabei Trivialste, was uns seit Jahren vorge-
0059kommen ist. Ein noch tieferes Sinken der Opera buffa kön-
0060nen wir nun uns kaum vorstellen. Die ganze Partitur be-
0061steht aus derben Gassenhauern und abgenützten, conventionel-
0062len Phrasen, ohne Geist und Anmuth behandelt, von keinem
0063Hauch idealen Empfindens angeweht.


0064Der Componist lebt darin abwechselnd von fremdem
0065Eigenthum und seiner eigenen Gemeinheit. Die Partie des
0066Gregorio, die eigenlich burlesken Stellen sind aus Abfällen 
0067Rossini’s und Donizetti’s bestritten, für alles Uebrige sorgt
0068Verdi. „Tutti in maschera“ sind recht eigentlich eine sou-
0069tenirte
Musik, wie man von „soutenirten Frauenzimmern“
0070spricht. Der immense Einfluß Verdi’s auch auf die komische
0071Oper der Italiener ist eine auffallende und beklagenswerthe
0072Thatsache. Wir haben sie in ihrer ganzen Entschiedenheit
0073zuerst in Ricci’sPaniere d’amore“ (Wien 1853) wahr-
0074genommen, wo alle Effecte und Instrumentalmassen der
0075Verdi’schen Tragödien (einschließlich Posaunen und Orgel)
0076aufgeboten sind, um die Gefühle eines alten Gecken und sei-
0077nes einfältigen Töchterleins auszudrücken.


0078Und doch konnten die beiden Ricci (Luigi und Federigo)
0079in ihren früheren Opern noch für den letzten Ausklang des
0080Rossini’schen Styls gelten. In Pedrotti’s Oper hören
0081wir keinen so starken Lärm, aber noch gemeinere Motive.
0082Die beiden Bravour-Arien der Vittoria im ersten und dritten
0083Acte könnten nicht blos von Verdi sein, sie sind es, mit
0084wenigen Abänderungen und noch derberer Zurichtung. Oben-
0085drein sehen sie einander zum Verwechseln ähnlich.


0086Als Donizetti’s liebenswürdiger „Don Pasquale“ er-
0087schien, bemerkte man darin die wiederholte und nachdrückliche
0088Einführung des Walzers in die Gesangspartie als eine
0089Neuerung, und um dieselbe Zeit machte der von der Tado-
0090lini
in einige Opern eingelegte „Gioja-Walzer“ als eine
0091noch ungewohnte Arienform Aufsehen und Effect. In diesem
0092Punkte haben wir schreckliche Fortschritte gemacht. In Pe-
0093drotti
’s Oper ist Alles Walzer, mit Ausnahme einiger
0094Nummern, welche Polkas und Galopps sind. Das beliebteste
0095und frischeste Musikstück der Oper, Addallah’s „Viva l’Italia!“,
0096hat einen alten Strauß’schen Walzer zum Thema und die
0097übrigen Tanzmelodien — wären es nur auch Strauß’sche!
0098Ein näheres Eingehen erläßt uns wol der Leser; wen
0099könnte das Detail einer Oper interessiren, die in allen Thei-
0100len so gleichmäßig ordinär und unbedeutend ist? Dabei sind
0101wir nicht etwa so unbillig den Maßstab von „Barbiere“ [2]
0102und „Cenerentola“, „Elisir“ oder „Don Pasquale“ an die
0103Novität zu legen. Wir brauchen sie blos mit einer be-
0104liebigen Posse von Offenbach zu vergleichen, um in letzte-
0105rer zehnmal mehr musikalische Kunst und komische Kraft,
0106hundertmal mehr Geist und Grazie zu finden. Thatsache
0107bleibt es, daß „Tutti in maschera“ (1854 für Verona ge-
0108schrieben) noch zu den besten komischen Opern gehört, die
0109Italien in neuerer Zeit hervorgebracht, und daß sie sich seit
0110zehn Jahren auf den italienischen Bühnen, den kleineren zu-
0111mal, erhalten hat. Ein trauriger Beweis für die Verarmung
0112der italienischen Opera buffa!


0113Umgekehrt erklärt auch diese Armuth wieder den relativen
0114Erfolg von Pedrotti’s Oper in Italien. Ein Opern-Publicum
0115kann nicht vom Tragischen allein leben, so sehr auch dieser
0116Zweig jetzt die Oberherrschaft gewonnen hat. Gesättigt von
0117Gift, Dolchen, Wahnsinn und Brandstiftung, sehnt es sich
0118zeitweilig immer wieder nach einer komischen Handlung, nach
0119anspruchslosen, lustigen Melodien. In Ermanglung des Gu-
0120ten nimmt es dann mit dem Erträglichen vorlieb. „Tutti in
0121maschera“ ist eine Faschingsoper, ohne jede höhere Präten-
0122sion, burlesk im Texte, grobsinnlich und populär in der Musik,
0123dabei leicht aufführbar und recht dankbar für die Sänger.
0124Routine, praktischer Blick und eine gewisse derbe Geschicklich-
0125keit wird Niemand dem Componisten absprechen. Pedrotti 
0126ist kein Neuling, etwa ein Dutzend Opern (worunter auch
0127tragische allerkomischester Art) hat er seinem Vaterlande geschenkt,
0128seine „Fiorina“ kam sogar in Wien (1859) mit geringem Er-
0129folg zur Darstellung. Wir können begreifen, daß ein nicht sehr
0130wählerisches italienisches Publicum, angeregt und ange-
0131heitert von der allgemeinen Faschingsstimmung, nach und neben
0132allem Anderen Abends auch noch eine musikalische Posse wie
0133Tutti in maschera“ mit einigem Ergötzen hinabschlürft.
0134Das gehört zum italienischen Carneval, wie der Trompeter-
0135Leierkasten zum Ringelspiel. Außerhalb Italiens hat derlei
0136Musik keinen Sinn und keine Lebenskraft.


0137Fast scheint es, als läge die komische Oper im Sterben.
0138In Deutschland ist sie bereits factisch todt, in Italien spukt
0139sie nur mehr als klägliches Gespenst, in Frankreich tänzelt
0140sie auf den letzten Füßen. Nahezu zwanzig Jahre sind ver-
0141flossen seit den „Lustigen Weibern“ von Nicolai und Flo-
0142tow’s
Martha“, den einzigen namhaften Nachfolgern des ungleich
0143bedeutendern „Czar und Zimmermann“ von Lortzing; mehr
0144als zwanzig Jahre, seit Donizetti seine letzte komische Oper
0145Don Pasquale“ schrieb und Auber im selben Jahre (1843)
0146mit „Des Teufels Antheil“ seinen letzten wahrhaften Erfolg
0147hatte. Seit dieser Zeit schafft Deutschland im Fach der komi-
0148schen Oper so gut wie gar nichts; in Frankreich sorgt zwar das
0149Institut einer eigenen Opéra comique, in Italien die
0150Sitte der Stagione dafür, daß die Production wenigstens leben-
0151dig erhalten wird; allein im Grunde ist diese nur mehr ein
0152äußerliches Fortsetzen ohne schöpferische Originalität, ohne
0153künstlerische Meisterschaft, ohne bleibende Erfolge. In Frank-
0154reich macht mitunter noch ein pikantes Textbuch eine schwache
0155Musik lebensfähig, in Italien ist seit Rossini und Donizetti 
0156in der Opera buffa nichts hervorgebracht worden, was über
0157die gewöhnlichste Routine hinausreichte. Zwar tauchten nach
0158diesen beiden Matadoren noch Dutzende von Namen auf, doch
0159sind ihrer kaum einer oder zwei über Italien hinausgedrun-
0160gen, haben sich kaum fünf bis sechs ihrer Opern in Italien 
0161selbst zur Noth erhalten.


0162Wenn wir Cagnoni’sDon Bucefalo“, Ferrari’s 
0163Pipelet“, F. Ricci’sIl marito e l’amante“, L. Ric
0164ci’s
Avventura di Scaramuccia“, Rossi’sDomino
0165nero“, endlich Pedrotti’sTutti in maschera“ nennen,
0166so dürften wir wol alle namhafteren Erfolge der komischen
0167Oper in Italien seit zwanzig Jahren aufgezählt haben. Daß 
0168Ricci’s Opern schon in der mit welschen Elementen so
0169reichlich gesättigten Atmosphäre Wiens die Lebensluft aus-
0170geht, haben wir wiederholt erfahren; Pedrotti und die
0171übrigen kleinen Maestri vermögen noch weit weniger hier fort-
0172zukommen.


0173Das Schicksal von „Tutti in maschera“ am 18. d. M.
0174war kein ganz gerechtes. Die Oper ist nämlich nur
0175halb durchgefallen. Das Urtheil des Publicums wird sich
0176freilich erst in den nächsten Vorstellungen (groß wird deren
0177Zahl keinesfalls sein) zweifellos herausstellen. Am ersten
0178Abend schien es uns, als würde die öffentliche Meinung ge-
0179fälscht, von den Galerien wurde nämlich auffallend leiden-
0180schaftlich und sehr ungeschickt Alles applaudirt, schon die
0181Ouverture und der erste (haarsträubend gesungene) Männer-
0182chor. Parterre und Logen verhielten sich unbeweglich still und
0183spendeten nur den Hauptdarstellern nach einer oder der an-
0184dern Nummer Applaus. Er galt hauptsächlich Signora Vol-
0185pini
, welche sehr nett aussah, sang und spielte. In derlei
0186leichten, halbsoubrettenhaften Rollen des musikalischen Con-
0187versationsstückes wird der anmuthige und unaffectirte Gesang
0188dieser Dame stets des freundlichsten Eindruckes sicher sein.
0189Herrn Fioravanti’s bescheidene Stimmmittel waren in
0190Folge anhaltender Unpäßlichkeit noch mehr herabgedämpft;
0191dem überaus fleißigen und sorgfältigen Künstler gelang es
0192jedoch, durch sein wirksames komisches Spiel das Publicum
0193zu erheitern. Signor Boccolini trug Einzelnes recht
0194hübsch, wenngleich mit wenig Stimme vor, dramatisch wußte
0195er der Rolle des Türken keine komische, überhaupt keine
0196Seite abzugewinnen. Signor Guidotti war unter der
0197Mittelmäßigkeit, Fräulein Fabbrini nicht eben merklich
0198über derselben. Das Haus war beinahe leer — ein Er-
0199eigniß, dessen man sich bei einer ersten Vorstellung kaum
0200erinnert.