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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 267. Wien, Sonntag den 28. Mai 1865

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Italienische Oper.

(„Cenerentola.“)


0003Ed. H. Als sie in hellen Haufen gen Bavarien zogen,
0004die Musikrichter von Wien, um das neueste „Ideal deutscher
0005Kunst“ zu hören, da sagten wir uns: Bleibe im Lande und
0006nähre dich redlich von italienischen Opern. Aber leider ist
0007nicht jede „redliche“ Nahrung zugleich auch gut gekocht; was
0008uns hier, seit Tristan’s Schiff in München auf der Sand-
0009bank festsitzt, gespendet wurde, hätte schwerlich einen der dort
0010Harrenden wieder nach Wien gelockt. Daß wir nicht mehr
0011von der diesjährigen hesperischen Saison erzählen — nicht
0012unsere Schuld ist es, theurer Leser! Das ewige Einerlei läßt
0013sich nicht beschreiben. Wen interessirt es noch, ob Herrn
0014Pandolfini’s schönes Ich sich gestern im seidenen Wamms
0015oder im Harnisch beguckte? Ob die blonde Trauerweide
0016Guidotti sich vorgestern über eine Prinzessin oder ein
0017Bauernmädchen kopfüber beugte? Ob am selben Abend der
0018gewaltige Mongini ärger distonirt hat oder die gutmüthige
0019Lotti? Oder wünscht etwa Jemand Neues über den „Ballo
0020in maschera“, „Ernani“, „Rigoletto“ und all’ die andern
0021Opern zu erfahren, bei denen jetzt regelmäßig mehr Men-
0022schen auf der Bühne als im Parterre zu sehen sind? Seit
0023unserem letzten Berichte über die — nunmehr auch für immer
0024entschlafene — Maschera-Oper von Pedrotti hat nur
0025Eine Vorstellung lebhaftere Theilnahme erregt und sich über
0026das Niveau der letzten Theaterwochen erhoben: Rossini’s 
0027Cenerentola“. Wie die Opern „Cenerentola“ und „Bar-
0028biere“ einander würdig zur Seite stehen, so auch deren Vor-
0029stellungen am Hofoperntheater. „Cenerentola“ läßt einen
0030duftigen Blüthenregen von Melodien auf uns niedergehen,
0031eine Fülle einfacher, ungesuchter und doch nie fehlschlagen-
0032der Effecte; ihre musikalischen Vorzüge, ihr rühriges drama-
0033tisches Leben stempeln sie zu Rossini’s bester Opera buffa neben
0034dem „Barbier“.


0035Nach dem „Barbier“, möchten wir für unser Theil
0036sagen, ohne den alten Streit wieder anfachen zu wollen, in
0037dem am Ende wol nur Vorliebe den Ausschlag gibt. Aus
0038zwei Gründen fühlen wir uns dem „Barbier von Sevilla“
0039doch unbedingter zugethan. Einmal ist er ganz aus Einem
0040Guße; wer es nicht weiß, daß Rossini diese Musik in einem
0041Zug schrieb — sie war im selben Monat begonnen und
0042vollendet — der müßte es ihr anhören. Die Erfindung ist
0043noch sprudelnder als in der „Cenerentola“, die Melodie noch
0044süßer, das Leben noch lustiger, der Spaß noch komischer. In
0045die „Cenerentola“ hat der Componist ganze Musikstücke aus
0046seinen früheren Opern „Pietra di Paragore“, „la Gazetta“
0047und „il Turco in Italia“ eingefügt, der vielen Anklänge an
0048den „Barbier“ nicht zu gedenken. Sie ist langsamer und
0049nicht aus Einem Stück entstanden, nicht in jenem fast über-
0050müthigen Wurf der Begeisterung, welchem wir die lebens-
0051strotzende Musik zum Barbier verdanken. Ein zweiter Ge-
0052sichtspunkt ist das Verhältniß zum Text. Angenommen, die
0053einzelnen Nummern des „Barbier“ und der „Cenerentola“
0054wären einander an absoluter musikalischer Schönheit Stück
0055für Stück vollkommen ebenbürtig oder der Vortheil der „Ce-
0056nerentola“ an größeren Ensemblestücken gliche die Ueber-
0057legenheit des „Barbier“ in den Arien und Duetten vollstän-
0058dig aus. Wir würden uns dann doch der Wahrnehmung
0059nicht verschließen können, daß der — hier wie dort glänzend 
0060repräsentirte — Charakter der Rossini’schen Musik ungleich
0061besser zu den Figuren und Situationen des „Barbier“ als der
0062Cenerentola“ paßt. Rossini war jeder tiefere Herzens-
0063ton versagt. Seine Musik ist immer glänzend, geistreich,
0064tändelnd, auch da, wo wir sie innig, rührend oder leiden-
0065schaftlich wünschen. In der Sprache des Herzens sind ihm
0066Donizetti, Bellini, auch Verdi unzweifelhaft überlegen, sie
0067haben Accente der Sehnsucht und Leidenschaft angeschlagen,
0068für welche der Leier des Pesaresers vielleicht nicht die Sai-
0069ten fehlten, aber jedenfalls die Stimmung.


0070Rosina, das eitle, zu List und Schelmerei verzogene
0071Trotzköpfchen, stimmt vortrefflich zu Rossini’s Wesen; wir
0072sehen sie in den Funkenrädern der Coloratur wie ein Feuer-
0073werk abbrennen. „Aschenbrödel“ hingegen, die liebe, rührende
0074Gestalt, die Jedem von uns aus dem Märchen früh ins
0075Herz hineinwuchs, unser Aschenbrödel denken wir uns doch
0076anders als jene Rosina. Die Stellen, in welchen Rossini’s
0077Cenerentola“ etwas Anderes als Kehlengeläufigkeit zu zeigen
0078vermöchte, sind verschwindend spärlich. Dieses italienische
0079Aschenbrödel“ ist es in der That nur ihrem Kleide nach;
0080ihr Gesang strotzt in Perlen, Sammt und Seide. Ein Ver-
0081gleich mit der französischen Oper gleichen Inhalts ist lohnend.
0082Isouard, obgleich ein ungleich schwächeres Talent als Ros-
0083sini, ist trotzdem sowol der gemüthlichen Seite, als dem mär-
0084chenhaften Zauber des Stoffes ganz anders gerecht geworden,
0085und wir Deutschen mögen keines von beiden gerne missen.
0086Cendrillon“ hat in der That auch auf den deutschen Büh-
0087nen eine viel bedeutendere Rolle gespielt, eine weit herzlichere
0088Zuneigung genossen, als die glänzendere „Cenerentola“.


0089Schon die Umgestaltung der Handlung durch den italie-
0090nischen Textdichter Feretti ist charakteristisch. Sei es aus [2]
0091weiser Furcht vor jeder Rivalität mit dem berühmten Opern-
0092gedichte von Etienne, sei es aus richtigem Einblick in Ros-
0093sini’s Talent, kurz Feretti rückte sein Aschenbrödel aus der
0094trauten märchenhaften Dämmerung in volles Tageslicht. Der
0095Zauberer Alcidor wird zum fürstlichen Privat-Secretär, der
0096Feenarm, welcher das schlafende Aschenbrödel reichgeschmückt
0097und unerkannt aus ihrer Küche in den Ballsaal trägt, zur
0098bewußten, handgreiflichen Verkleidung, der verrätherisch kleine
0099Pantoffel endlich zum prosaischen Armband, das Aschenbrödel 
0100selbst dem Prinzen als Erkennungszeichen einhändigt. Die
0101komischen Figuren des Barons und des Stallmeisters und
0102alle spaßhaften Motive werden stark in den Vordergrund ge-
0103rückt. Rossini’sCenerentola“ muß man durchaus als
0104komische Oper auffassen; Dichter, Componist und Zu-
0105schauer ergötzen sich an der allgemeinen Verwirrung, an der
0106drastischen Komik, an dem heiteren Glanze der Scene. Ein
0107tieferes Gefühlsleben klingt nicht an; aber „Cenerentola“
0108ist liebenswürdig, frisch, geistreich, und insofern in einer auf-
0109richtigen Heiterkeit ein Surrogat von Gemüth liegt, nicht ge-
0110müthlos. Den ersten Act kann man von diesem Standpunkte
0111fast durchaus trefflich nennen; ein nicht immer wählerischer,
0112aber echt lustspielmäßiger Ton von hinreißender Lebendigkeit
0113weht durch Wort und Musik. Der zweite Act enthält zwei
0114vortreffliche Nummern (das Duett „Un segreto d’importanza“
0115und das große Sextett in Es-dur), leidet aber durch das pein-
0116liche Stocken der Handlung, welche, mit dem ersten Acte so
0117gut wie zu Ende, dort höchstens noch eines entwickelnden
0118Finales bedurft hätte.


0119Unter den Mitwirkenden standen Fräulein Artôt und
0120Herr Everardi hoch obenan. Diese makellose Flüssigkeit
0121der Coloratur, diese schöne, maßvolle Bildung des Tones, 
0122diese sichere Grazie des Vortrags zeigen uns in der That die
0123Virtuosität von der echten und rechten Seite. Gesangskünstler
0124dieser Art werden immer seltener; daraus erklärt sich auch,
0125daß selbst in Italien die Aufführungen Rossini’scher Opern
0126immer seltener werden. Ursprünglich für einen Contra-Alt
0127geschrieben, ist „Cenerentola“, sowie „Rosina“ und die „Ita-
0128lienerin in Algier“, bald in das Repertoire der berühmtesten
0129Sopransängerinnen (Fodor, Mombelli, Cinti, Sonntag etc.)
0130einbezogen und zurechtgemacht worden. Durch ihren bedeuten-
0131den Stimmumfang ist Fräulein Artôt in der Lage, die
0132Rolle ganz unverändert zu singen. Wir müßten Oftgesagtes
0133neuerdings wiederholen, um diese ebenso glänzende als maß-
0134volle, im Ganzen wahrhaft eminente Leistung Fräulein Ar-
0135tôt’s
eingehend zu würdigen. Besonders angenehm fiel uns
0136auf, daß Fräulein Artôt keinen Anlaß versäumte, einen
0137herzlicheren Ton wenigstens anklingen zu lassen, wie sie denn
0138auch im Spiele schlicht und liebenswürdig für den Charakter
0139einzunehmen wußte. Von den zahlreichen berühmten Sänge-
0140rinnen, welche hier die „Cenerentola“ sangen, sind uns aller-
0141dings einige in Erinnerung, welche durch gewaltigere, insbe-
0142sondere in der Tiefe ausgiebigere Stimmen und leidenschaft-
0143licheres Temperament blendendere Effecte erzielten. Man wird
0144die Schluß-Arie schon siegreicher und schmetternder, gewiß aber
0145nicht zierlicher, feiner und weicher gehört haben, als von der
0146Artôt. Von Everardi muß noch bemerkt werden, daß er
0147den verkleideten Stallmeister nicht nur meisterhaft sang, son-
0148dern auch überaus gewandt und mit köstlicher Laune spielte.
0149Schade, daß ihm nicht, wie vor acht Jahren, der lebhafte und
0150virtuose Carrion als Prinz Ramiro zur Seite stand; das
0151Zusammenwirken der beiden Künstler bildete damals einen
0152der vornehmsten Reize der Oper. Herr Guidotti konnte 
0153es mit dieser Erinnerung nicht entfernt aufnehmen, seine
0154Stimme klingt immer etwas heiser, als wäre ein Haar in
0155jedem Tone, seine Coloratur ist mangelhaft, der Vortrag
0156endlich und vollends das Spiel immer gleich matt und geist-
0157los. In der „Cenerentola“ nahm er sich übrigens mehr als
0158gewöhnlich zusammen und verdient wenigstens das Lob, nicht
0159gestört zu haben. Den Don Magnifico gab Herr Fiora-
0160vanti
mit jenem Eifer und künstlerischem Ernst, der alle
0161seine Leistungen kennzeichnet. Seinen Vorgänger Zucchini 
0162erreichte er keineswegs, noch weniger durfte man an die ori-
0163ginellen Meisterschöpfungen denken, welche ein Galli oder
0164Lablache aus dieser Lieblingsrolle machte. Um gleich der
0165berühmten ersten Arie musikalisch ihr volles Recht zu geben,
0166muß man viel mehr Stimme haben, als Herr Fioravanti.
0167Die kleine Rolle des Alidoro (seine Arie blieb weg) gab Herr
0168Milesi ganz anständig. Ein aufrichtiges Lob gebührt end-
0169lich den Darstellerinnen der beiden Schwestern, Fräulein
0170Dillner (die überhaupt unserer Oper von Nutzen werden
0171dürfte) und Fräulein Siegstädt; sie sangen und spielten
0172sehr präcis zusammen. Die (von Herrn Dessoff dirigirte)
0173Vorstellung zeichnete sich durch ein gutes Ensemble aus,
0174ein Vorzug, auf den wir, namentlich in der komischen Oper,
0175ein ungemeines Gewicht legen. Es webte ein Zug von Ueberein-
0176stimmung, Aufmerksamkeit und Genauigkeit in dieser Vorstel-
0177lung, welcher die Schwächen einzelner Darsteller mitunter
0178ganz vergessen ließ. Hätte ein unerforschlicher Rathschluß der
0179Direction diese „Cenerentola“ nicht bis zum Thorschluß der
0180Saison verzaudert, sie würde wahrscheinlich einer ansehnlichen
0181Reihe von Wiederholungen entgegensehen.