Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 415. Wien, Dienstag den 24. October 1865
[1]Hofoperntheater.
(„Euryanthe“ von C. M. v. Weber.)
0003Ed. H. Es geschieht nicht selten, daß Kunstwerke, die in
0004unserm Kopf und Herzen längst festgesiedelt und in der
0005Literaturgeschichte scheinbar endgiltig untergebracht sind, theils
0006durch spätere historische Enthüllungen, theils durch das charak-
0007teristische Heranwachsen ihrer künstlerischen Descendenz eine
0008neue Beleuchtung erhalten. Dies scheint uns — und zwar
0009nach beiden Richtungen — mit Weberʼs „Euryanthe“
0010der Fall zu sein. Manche Eigenthümlichkeiten dieses Kunst-
0011werks erscheinen uns von wichtigerer Bedeutung, seit des
0012Meisters ausführliche Lebensbeschreibung (von Max v. Weber)
0013ihr unmittelbares, R. Wagnerʼs Opern ihr reflectirtes
0014Licht darauf werfen. Bestimmter, als es vordem zulässig war,
0015läßt sich „Euryanthe“ als der Ausgangspunkt der Wagner’-
0016schen Musik bezeichnen. An diese Oper hat Wagner factisch
0017angeknüpft, mit seinem dramatischen Princip sowol, als mit
0018tausend musikalischen Reminiscenzen; während von Gluck,
0019auf dessen Vorgang er sich vorzugsweise beruft, in Wagnerʼs
0020Opern thatsächlich kein Hauch zu verspüren ist. Die Verwandt-
0021schaft zwischen „Lohengrin“ und „Euryanthe“ wird manchem
0022Hörer ohneweiters aufgefallen sein, wäre es auch nur durch
0023die frappante Aehnlichkeit Ortrudʼs und Telramundʼs
0024mit Eglantin und Lysiart. Man kann dieses Wag-
0025nerʼsche Intriguantenpaar eine directe Nachbildung des We-
0026berʼschen nennen; eine carrikirte, wenn man die Uebertreibung
0027aller Ausdrucksweise, eine schwächliche, wenn man den eigentlich
0028musikalischen Gehalt ins Auge faßt. Selbst der deutsche
0029Kaiser im „Lohengrin“ ähnelt seinem königlichen Bruder
0030von Frankreich auffallend. Allein noch tieferliegend und ent-
0031scheidender ist die musikalische Verwandtschaft — man kann
0032sagen, die musikalische Herkunft — des Wagnerʼschen Opern-
0033styls aus der „Euryanthe“. Das nachdrückliche und conse-
0034quente Voranstellen des dramatischen Ausdrucks, ja der decla-
0035matorischen Schärfe vor die rein musikalische Schönheit, das
0036fortwährend charakterisirende Farbenmischen im Orchester, das
0037Verflößen von Recitativ und Cantilene, die bishin ungewohn-
0038ten Begleitungsmassen, welche den Gesang mitunter ver-
0039schlingen, die bishin ebenso ungewohnte Ausdehnung der ein-
0040zelnen Musikstücke — dies Alles sind Neuerungen, welche die
0041„Euryanthe“ von allen andern Opern, Weberʼs sowol, als
0042seiner Vorgänger und Zeitgenossen, unterschieden. An diese
0043Elemente einer consequenten Dramatisirung der Musik knüpfte
0044Wagner, der raffinirtere, aber ungleich dürftiger begabte Mu-
0045siker, seine „Reformen“. Wer erkennt nicht in den Gesängen
0046Lysiartʼs und Eglantinens und manchen Scenen des dritten
0047Actes Wagnerʼs musikalische Muttersprache, die allerdings bei
0048ihm im Verlauf der Jahre leider bis zum kreischenden Jar-
0049gon entartet ist?
0050Als der Akademische Musikverein zu Breslau die Euryanthe-
0051Musik im Concert aufzuführen wünschte, schrieb Weber:
0052„Euryanthe“ ist ein rein dramatischer Versuch, seine
0053Wirkung nur von dem vereinigten Zusammenwirken
0054aller Schwesterkünste hoffend, sicher wirkungslos, wenn
0055ihrer Hilfe beraubt.“ Der Componist besaß also das volle
0056Bewußtsein seines später von Wagner adoptirten Stylprin-
0057cips; nur war er zu sehr echter Musiker, um jemals in das
0058formlose, musiktödtende Sprechpathos seines Nachfolgers ver-
0059fallen zu können. Der feinsinnige, melodienreiche Weber hätte
0060ohne Zweifel höchlich dagegen protestirt, für den Großvater
0061„Lohengrinʼs“ zu gelten, geschweige denn „Tristanʼs“, mit dem
0062er wahrscheinlich nicht einmal naturgeschichtlich in Eine Classe
0063hätte gezählt sein wollen. Verantwortlich machen darf man
0064demnach Weber für die Zukunftsmusik ebensowenig, als Goethe
0065für allʼ die wunderlichen Nachbildner seines Götz und Wer-
0066ther. Die Geschichte aber, die nun einmal keine voraus-
0067setzungslose Erscheinung kennt, wird trotzdem die „Euryanthe“
0068als die ursprüngliche Heimat der Wagnerʼschen Musik bezeich-
0069nen müssen, als die verlockende Halbinsel, auf deren Seeseite
0070Wagner, auf deren Landseite Meyerbeer sich ansiedelte.
0071Noch einen Zug von Verwandtschaft bemerken wir zwi-
0072schen „Euryanthe“ und Wagnerʼs Opern, der weniger die
0073Grundsätze des Schaffens, als dieses selbst betrifft. Das ist
0074die eigenthümliche Anstrengung des Talentes, die bei
0075Wagner in jeder Oper vorhanden und von Werk zu Werk in
0076enormer Steigerung begriffen ist, bei Weber wenigstens in
0077der Einen „Euryanthe“ sich bemerkbar machte. Weberʼs musi-
0078kalische Erfindung, die im „Freischütz“, „Oberon“, „Präciosa“
0079leicht und üppig dahinquillt wie ein voller Bach durch Blu-
0080men- und Wiesengrund, arbeitet in der „Euryanthe“ mit
0081ungleich geringerer Ursprünglichkeit und nimmt mitunter zu
0082künstlichen Druck- und Pumpwerken ihre Zuflucht. Daß nicht
0083etwa ein beginnendes Versiegen des Talentes die Schuld trug,
0084sondern die durch ein bedenkliches Princip bedingte Bemü-
0085hung, dies Talent über sein natürliches Maß hinaus gewalt-
0086sam zu überhöhen, beweist der spätere „Oberon“, der, mehr
0087in die Formen des „Freischütz“ zurücklenkend, wieder den vol-
0088len, natürlichen Schwung und Liebreiz der Weberʼschen Me-
0089lodie athmet. Wir theilen die Meinung Max v. Weberʼs,
0090daß „Oberon“, sich zu der schönsten Oper des Meisters ent-
0091faltet hätte, wäre es diesem vergönnt gewesen, die englische
0092Partitur seiner Intention gemäß für Deutschland umzuar-
0093beiten. — „Freischütz“ und „Euryanthe“ verhalten sich
0094musikalisch ungefähr zu einander, wie „Tannhäuser“ zu
0095„Lohengrin“; was die spätere Oper an Größe und Con-
0096sequenz gewonnen, hat sie mit der Frische und Natürlichkeit der
0097früheren erkauft. Hier aber hört jede Aehnlichkeit zwischen
0098beiden Tondichtern auf. Während Weber nach der
0099„Euryanthe“ zum kleineren Genre („Oberon“) zurückkehrte,
0100das dramatische Princip nicht noch straffer spannend, sondern
0101es vielmehr durch weichen Anhauch der Melodie mildernd,
0102fuhr Wagner von Werk zu Werk fort, seinen Opern immer
0103mehr Musik auszusaugen und declamatorisches Pathos einzu-
0104blasen, bis endlich als letzte Consequenz seines „Tannhäuser“
0105und „Lohengrin“, die „Nibelungen“ und „Tristan“ als
0106riesige, blutlose Gespenster sich vor uns ausstrecken.
0107Die Entstehungsgeschichte der „Euryanthe“ liegt gegen-
0108wärtig durch das Verdienst des trefflichen Max v. Weber [2]
0109so plan vor uns ausgebreitet, daß kaum mehr eine von des
0110Meisters Absichten und Anschauungen bezüglich dieses Werkes
0111zweifelhaft ist. Weber stand eben inmitten der Triumphe
0112seines „Freischütz“. Nicht blos die höchsten Erwartungen
0113des Publicums, auch das Verhalten der Kritik rief ihn für
0114sein zweites Werk zu äußerster Anspannung auf. Ihn, der
0115auf sein musikalisches Können so großes Gewicht legte, mußte
0116der von manchen Kritikern geäußerte Zweifel verdrießen, ob
0117der Componist dieses genialen „Singspiels“ auch für die
0118Formen der großen, durchgesungenen Oper ausreichen werde.
0119Als Barbaja im Jahre 1821 Weber eine neue Oper „im
0120Styl des Freischütz“ für Wien bestellte, war dieser sofort ent-
0121schlossen, sich nur zu einer „großen heroischen Oper“ herbei-
0122zulassen. Madame Helmine v. Chezy, der kleine, rasche
0123Schöngeist von Dresden, bot ihm eine ganze Musterkarte von
0124Stoffen an, und der Meister wählte daraus leider — die
0125„Euryanthe“. Die Plage, welche ihm dies Textbuch bereitet
0126hat, war grenzenlos. Neunmal mußte „das Chez“ (so nannte
0127Weber die Dichterin, die ihm als eine Art Neutrum, nicht
0128Mann, nicht Weib, erschien) die Fabel umarbeiten. So richtig
0129Weber zahlreiche Fehler des Textbuches erkannte und änderte,
0130so gründlich täuschte er sich über die Hauptsache: den unver-
0131ständlichen, unmotivirten Kern des Ganzen. Der Angelpunkt
0132der Handlung ist über diese Welt hinausverlegt, in ein Ge-
0133heimniß von „Udo und Emma“, eines längst verstorbenen
0134Pärchens, das Niemanden interessirt und dessen transmundane
0135Verhältnisse Niemand versteht. Dies alberne, außer der
0136Handlung liegende und diese doch bewegende Geheimniß bildet
0137den Rahmen um vier Hauptpersonen, deren keine uns einen
0138unbedingten, herzlichen Antheil einzuflößen vermag. Die ideale
0139Partei bilden der schwachköpfige Minnesänger Adolar, der
0140Morgens mit seinem felsenfesten Vertrauen prahlt und Abends
0141auf den oberflächlichsten Verdacht hin die Geliebte zum Tode
0142führt, Euryanthe, die ebenso schwachsinnige Dulderin,
0143welche sich gegen die furchtbarste Anklage weder vor dem Hofe
0144noch später auf der Tag- und Nachtreise mit Adolar mit einer
0145Sylbe rechtfertigt. Ihnen stehen Lysiart und Eglantine
0146gegenüber, ein Paar gebildete Satane, die gleichsam aus Einem
0147Stück die niedrigste Bosheit repräsentiren und stets zugleich
0148an der Deichsel dieser widerwärtigen Intrigue ziehen. Das
0149ganze Unheil, welche das tugendhafte Liebespaar mit Einem Worte
0150hätte abwenden können und sollen, behält für uns etwas so
0151Befremdendes, Aeußerliches, wie später der glückliche Ausgang,
0152welchen ebenso plötzlich ein einziges Wort herbeiführt. Der
0153freudige Schlußeindruck, die Liebenden nun doch endlich ver-
0154einigt zu sehen, wird aber noch obendrein durch das Ulti-
0155matum verkünstelt, daß nun die Erlösung von Emmaʼs
0156Geist gesichert und dies eigentlich von alledem die Haupt-
0157sache sei.
0158Weber ließ sich durch den Reichthum an musikalischen
0159Momenten, durch den Glanz der Scene und den ritterlichen
0160Ton des Ganzen über die trostlos verfehlte Grundlage der
0161Handlung täuschen. Trotzdem konnte diese Dichtung den
0162Componisten nimmermehr mit jener Begeisterung und Liebe
0163erfüllen, wie kurz zuvor der „Freischütz“. Diesen Mangel
0164an naiver Freude, an unmittelbar hervorquellender Herzlich-
0165keit trachtete Weber durch das Aufgebot seiner ganzen Kunst
0166zu verdecken, und durch imposante Häufung von Ausdrucks-
0167mitteln die handelnden Personen über ihre wahre Bedeutung,
0168sowie sein Talent über das Gebiet hinauszuheben, in welchem
0169er souverän herrschte. Die schönsten Nummern der Oper
0170sind gerade die in kleineren Formen sich bewegenden, welche
0171Liebe, Freude, hoffnungsvolle Sehnsucht athmen. In den
0172großen, leidenschaftlichen Nummern, den Gesängen Lysiartʼs
0173und Eglantinens, dem zweiten Finale u. s. w., auf welche
0174der Componist die größte Kunst und Anstrengung verwendet
0175hat, ist das Forcirte, Unfreie und Gedrückte mehr oder minder
0176überall fühlbar. Weberʼs Musik erscheint uns in diesen Scenen
0177höchster Leidenschaft und Größe wie in einem zu weiten
0178Mantel. Der Musiker bemerkt auch leicht die Stellen (zier-
0179liche Zwischenspiele und Gesangscadenzen), welche aus dem
0180pathetischen Styl fallen und das wohlbekannte freundliche
0181Lächeln des Freischütz-Componisten zeigen. Weber vermochte
0182große Musikstücke nicht aus dem Felsen zu hauen, wie Beet-
0183hoven, er setzte sie aus Blumen und Blüthen zusammen.
0184Man pflegt häufig die „schönen Einzelheiten“ des „Frei-
0185schütz“ zu loben und ihm die „Euryanthe“ als ein „schönes
0186Ganze“ bevorzugend entgegenzustellen. Wir sind der ent-
0187gegengesetzten Ansicht, indem wir den prachtvollen Einzelheiten
0188der „Euryanthe“ gegenüber den „Freischütz“ für das einheit-
0189lichere, harmonischere Werk halten.
0190„Euryanthe“ erfuhr bei ihrem ersten Zug über die
0191deutschen Bühnen in den allerbesten Fällen einen Succès
0192dʼestime. Am günstigsten war es ihr noch in Wien ge-
0193gangen, wo das Publicum, zumeist aus persönlicher Verehrung
0194für Weber, die ersten Vorstellungen auszeichnete, jedoch mit
0195dem Moment erkaltete, als Weber abgereist war. Die Kritik
0196in ganz Deutschland behandelte das Werk sehr kühl, ja un-
0197gerecht, die Mängel grell hervorhebend, die Vorzüge übersehened
0198oder unterschätzend. Als man nach Jahren die „Euryanthe“
0199wieder hervorzog, trat eine berechtigte Reaktion gegen jene
0200ältere Anschauung ein: man erblickte darin nur Vorzüge und
0201keinerlei Mängel, und war insonderheit bemüht, den naiveren
0202und populären „Freischütz“ gegen die vornehmere „Euryanthe“
0203herabzusetzen. Das ist im Großen und Ganzen noch der
0204Standpunkt der heutigen Kritik. Unseres Erachtens hat ein
0205dritter Standpunkt mehr Berechtigung, welcher, vom Ueber-
0206maß dieser Bewunderung zurückkommend, die glänzenden
0207Vorzüge der „Euryanthe“ und namentlich ihre große kunst-
0208historische Bedeutung anerkennt, den „Freischütz“ jedoch als
0209die echtere, natürlichere Blüthe von Weberʼs Talent in sein
0210ursprüngliches Recht wieder einsetzt. Der kleinere, naturge-
0211mäße Kreis, welchen ein Talent vollkommen auszufüllen, ja
0212mit dem Schein, ihn noch weit zu überfluthen, auszufüllen ver-
0213steht, muß uns ästhetisch immer noch höher gelten, als die
0214größere, fremdartige und mit angestrengtester Kraft doch nur
0215nahezu gelöste Aufgabe.