Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 429. Wien, Dienstag den 7. November 1865
[1]Musik.
(Philharmonisches Concert. Männergesang-Verein.)
0003Ed. H. Die musikalische Saison ist soeben mit Gesang
0004und Spiel durch den Männergesang-Verein und die Phil-
0005harmoniker förmlich eröffnet worden. Letztere introducirten ihr
0006erstes Concert mit Mendelssohn’s Ouverture zu „Ruy
0007Blas“. Ein Eröffnungsstück par excellence. Als musikalisches
0008Kunstwerk keine der „Concert-Ouverturen“ Mendelssohn’s
0009erreichend, hat „Ruy Blas“ in seinem jugendlichen Fortstür-
0010men, seiner glänzenden Ritterlichkeit doch einen Zug für sich,
0011welchen weder der märchenhaft vergeistigte und vergeisterte
0012„Sommernachtstraum“, noch die mondscheingebadete „Me-
0013lusina“, noch endlich die düstere Landschaft der „Hebriden“
0014aufweist. Daß die Ruy-Blas-Ouverture äußerlicher, daß sie
0015im eminenten Sinn theatralisch ist, nimmt ihr die Ebenbür-
0016tigkeit mit diesen Concert-Ouverturen, wahrt ihr aber eine
0017gewisse realistische Selbstständigkeit neben diesen. Wir beken-
0018nen uns zu einer kleinen Schwäche für die jugendliche cheva-
0019lereske Energie im „Ruy Blas“ gegenüber der allzu weichen
0020Sentimentalität mancher späteren, viel kunstvolleren Com-
0021position Mendelssohn’s; von „Jugendwerken“ im gewöhnlichen
0022Sinn ist ohnehin kaum die Rede bei einem Tondichter, der
0023mit zwanzig Jahren den „Sommernachtstraum“ und die
0024„Walpurgisnacht“ geschrieben. So glänzend ausgeführt wie
0025am Sonntag von den „Philharmonikern“ kann die Ouver-
0026ture eine lebhaft anregende Wirkung nicht verfehlen.
0027Etwas abgeblaßt nahm sich daneben Cherubini’s
0028„Lodoiska“-Ouverture aus, die wir trotz ihres großen drama-
0029tischen Ernstes und des überaus feinen zweiten Themas den
0030besten Ouverturen des Meisters („Faniska“ namentlich) nicht
0031gleichstellen können. Ueber die Mitte ihrer Entwicklung, an
0032dem Punkte angelangt, wo man eine energische Steigerung
0033und Erhebung erwartet, nickt die Ouverture geradezu ein und
0034schläft einen längeren, pastoralen Schlummer, aus dem sie
0035endlich, wie von derber Hand gerüttelt, auffährt und in zwei
0036Sprüngen zur Thür hinaus ist.
0037Eine sehr anziehende Novität war Julius Grimm’s
0038viersätzige „Suite in Canonform“ für Streichinstrumente.
0039Indem diese Composition (die wol richtiger mit „Symphonie“
0040bezeichnet wäre) sich durchaus den Zwang der canonischen
0041Schreibart auflegt und überdies auf jede Mitwirkung von
0042Blasinstrumenten verzichtet, schafft sie sich positive und ne-
0043gative Schwierigkeiten, die zu bewältigen nur ein entschie-
0044denes Talent und große Gewandtheit vermag. Beide Vorzüge
0045muß man dem Componisten ohneweiters zugestehen. Seit lan-
0046ger Zeit hat uns kein Erstlingswerk so viel Achtung und An-
0047theil abgezwungen. Die canonische Imitation ist durch alle
0048vier Sätze und ununterbrochen durchgeführt (meist tactweise),
0049aber mit so viel Geschick und Grazie, daß der Hörer davon
0050nur den Reiz dieser tönenden jeux d’esprit empfängt, das
0051behagliche Vergnügen musikalischen Vor- und Nachdenkens,
0052ohne von der Schwere und Starrheit der Regel irgendwie
0053belästigt zu werden. Grimm trägt seine canonischen Bande
0054mit ungewöhnlicher Freiheit und Eleganz. Er verwendet aller-
0055dings nur den Canon in der Octave, innerhalb dieser Form
0056bietet er aber so viel Abwechslung als möglich. So führen im
0057ersten Satz, einem in energischer Triolenbewegung aufstür-
0058menden Allegro, anfangs die Violinen den Canon mit den
0059Bässen; schon in dem gesangvollen zweiten Thema ist er aber
0060zwischen die erste Violine und das Cello verlegt, und zwar
0061mit syncopirten Accenten, die an den pikanten Reiz eines
0062leichten Hinkens erinnern. Der zweite Satz, ein reizendes
0063Andante, ist für Soloquartett geschrieben. Den Ge-
0064sang der Violine (von Hellmesberger meisterhaft vorge-
0065tragen) verfolgt canonisch die Viola, beide getragen von Ar-
0066peggien des Violoncells und den einfachen Grundtönen des
0067Contrabasses. Das Andante erinnert an die köstlichen „Ca-
0068nons für den Pedalflügel“ von R. Schumann; ihm ge-
0069bührt eigentlich das Verdienst dieser ganz modernen Neuge-
0070staltung alten Materials, welche man kurz den gesang-
0071vollen Canon nennen könnte und deren schönste Kunst es
0072ist, die Kunst zu verbergen. Der dritte Satz der Grimm’schen
0073Suite (ein Menuett), in welchem die erste Violine mit der
0074zweiten den Canon führt, bewegt sich sehr gefällig, insbeson-
0075dere hebt sich das Trio in E-dur in schöner Klangwirkung
0076hervor. Stünde der vierte Satz auf der Höhe der früheren,
0077die er von rechtswegen sogar zu überflügeln hätte, so ließe
0078die Totalwirkung nichts zu wünschen übrig. Leider ermattet
0079die Erfindungskraft des Componisten gerade hier, wo der schon
0080etwas angestrengte Hörer einen tüchtigen Schwung nach oben
0081brauchte. Das Publicum, dessen Stimmung während des
0082Finalsatzes etwas erkaltete, blieb trotzdem dem ganzen Werk
0083günstig gestimmt. Ein doppelt ehrenvoller Erfolg für eine
0084Composition, die durch ihre freiwillig angelegte musikalische
0085Rüstung sich förmlich gegen jeden populären Erfolg verschanzt.
0086Die mit musterhafter Glätte und Präcision ausgeführte
0087B-dur-Symphonie von Beethoven beschloß das vom Ca-
0088pellmeister Dessoff trefflich dirigirte Concert, welches vor
0089überfülltem Hause und unter anhaltenden, lebhaften Beifalls-
0090zeichen vor sich ging.
0091Die Fest-Liedertafel des Wiener Männergesang-
0092Vereins lieferte einen neuen Beweis für die ungemeine
0093Beliebtheit dieses Instituts. Der große Sophiensaal war über-
0094füllt, die Hitze erdrückend, das angeborne Menschenrecht, zu
0095sitzen, zu essen und zu trinken — „sistirt“. Trotzdem lausch-
0096ten Hunderte von Menschen, die rechtzeitig (d. h. um zwei
0097Stunden zu spät) am Platze waren, stehend, eingeengt und
0098vergnügt den Vorträgen unserer trefflich geschulten Sänger.
0099Von Novitäten hörten wir einen Chor von Herbeck: „Der
0100Verliebte“, in volksthümlicher Weise à la Aennchen von
0101Tharau gemüthlich componirt und auf Verlangen wieder-
0102holt. Hierauf eine größere Composition von Engelsberg:
0103„Poeten auf der Alm“. Wir sehen uns inmitten einer Ge-
0104sellschaft junger Freunde, die auf einer Alpenpartie ihrer
0105poetischen Begeisterung, je nach Scene und Stimmung ver-
0106schieden gefärbt, in Citaten deutscher Lieblingsdichter Luft
0107machen. Einleitung und Schluß zu diesem kleinen Cyklus
0108von Chören hat die ebenso versgewandte als notenkundige
0109Hand Engelsberg’s abrundend hinzugefügt. Die Composition
0110ist die hübscheste uns bekannte Anwendung der Ländlerform
0111auf Chorgesang; hier zu tieferer Empfindung sich sammelnd,
0112dort in heiterer Lebenslust aufschäumend, klingt sie überall
0113frisch, gemüthvoll und wahr, nirgends in die Extreme des
0114Gesuchten oder des Trivialen verfallend.
[2]
0115Engelsberg, der seinen ersten raschen Erfolg auf dem
0116Gebiet des musikalischen Scherzes errungen, hat seither durch
0117mehrere ernste Chöre, insbesondere den jüngst erschienenen
0118„Heini von Reyer“ bewiesen, daß das Gebiet seines Talents
0119viel weiter ausgesteckt sei. Die beneidenswerthe melodiöse
0120Ader, die Engelsberg’s humoristischen Chören so schnelle Be-
0121liebtheit verschaffte, strömt auch in seinen sentimentalen und
0122zärtlichen Melodien. Die wanderfrohe, studentisch glückliche
0123Stimmung in den „Poeten auf der Alm“ erinnerte uns un-
0124willkürlich an Eichendorff’s Jugendnovelle „Dichter und
0125ihre Gesellen“. In jedem dieser anspruchslosen Chöre steckt
0126ein Stück Jugend. Wenn etwas den Eindruck der Novität
0127beeinträchtigte, so war es der Umstand, daß der Componist
0128die (mitunter sehr wesentliche) Begleitung nur für Clavier
0129und nicht für ein kleines Orchester gesetzt hat. In den wei-
0130ten Räumen des Sophiensaales und unter der Wucht so vieler
0131Stimmen verlor sich das Clavier bis zur Unhörbarkeit. En-
0132gelsberg’s „Poeten“ wurden nach jedem Abschnitte lebhaft be-
0133klatscht und zur Wiederholung verlangt. Ein komisches Potpourri
0134von H. Schläger (in Salzburg), „Die Landpartie“, erregte
0135viel Heiterkeit. Sämmtliche Chöre dirigirte mit gewohnter
0136Auszeichnung Herr Hof-Capellmeister Herbeck; als Vorstand
0137des Vereins fungirte zum erstenmale Herr Nikolas Dumba.
0138Die neue Stellung dieses Herrn ist für beide Theile ehren-
0139voll. Muß es Herrn Dumba freuen, daß eine Gesellschaft
0140von so ausgezeichneter und begründeter Reputation sich mit
0141Einstimmigkeit seiner Leitung anvertraut, so können wir ande-
0142rerseits dem Männergesang-Verein zu dieser Wahl nur gra-
0143tuliren. Herr Dumba ist als feingebildeter, liebenswürdiger,
0144nach jeder Richtung hin unabhängiger Mann bekannt und in
0145allen Kreisen der Residenz geschätzt. Er ist Dilettant im
0146besten Sinn — indem er besser singt und mehr Musik ver-
0147steht, als mancher Sänger von Fach — und Mäcen im besten
0148Sinn, indem er seit Jahren Kunst und Künstler ohne jeg-
0149liche Ostentation unterstützt. Die Freunde des unvergeßlichen
0150Ander wissen mehr davon, in ihrem Herzen hat sich Dumba
0151ein Denkmal gesetzt, noch ehe er das für Ander auf dem
0152St. Marxer Friedhof errichten wollte.