Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 714. Wien, Samstag den 25. August 1866
[1]Waffenruhe am Clavier.
0002Ed. H. Wir hatten den Feldzug redlich mitgemacht.
0003Nicht durchgekämpft, aber durchgelitten. Es gibt Mißgeschicke,
0004die tiefer treffen als eine Gewehrkugel, und Wunden, welche
0005nicht schmerzloser sind, weil sie nach Innen bluten. Auch das
0006Herz hat seine Blessirten. Vielleicht war ihre Zahl größer
0007unter uns friedlichen Männern, als in den Feldlazarethen
0008der Armee.
0009Seit den ersten Atemzügen des Krieges hatte keiner von
0010den Freunden an Musik gedacht, die theure, mitunter einzige
0011Gefährtin unserer Tage. „Rast dieses Volk, daß es dem
0012Mord Musik macht?“ riefen wir unwillkürlich mit Rudolph
0013v. Harras, wenn irgendwo eine Polka oder Opern-Arie aus
0014offenem Fenster lärmte. Die Ruhe des Waffenstillstandes, das
0015Trostgefühl des immer näheren, immer gewisseren Friedens
0016legte sich allmälig wie eine linde Hand besänftigend auf den
0017brennenden Kopf, das tobende Herz. Nicht die stille Belage-
0018rung der Sorge, aber das Kreuzfeuer der Telegramme und
0019Gerüchte hat endlich ausgelobt, und es bringt jeder Morgen
0020wenigstens nicht ein neues Unheil. Eine gewisse müde und
0021doch wohlthuende Abspannung bemächtigt sich der Geister.
0022Das ist der Moment, wo das aufathmende Gemüth sich wie-
0023der nach der Kunst zu sehnen beginnt, wie der gerettete
0024Kranke nach dem Sonnenlicht.
0025Wir Freunde hatten den ganzen Spaziergang hindurch
0026Politik getrieben, Vergangenes und Künftiges erwägend, er-
0027duldend. An der Hausthür angelangt, war es uns, als könn-
0028ten wir nicht so scheiden. Fast schüchtern regte sich die Frage,
0029ob wir nicht ein wenig Musik machen sollten? Es lag ein
0030Paket Novitäten auf meinem Clavier, uneröffnet, wie seit
0031geraumer Zeit dieses selbst. Nicht ohne freudige Bewegung
0032gingen wir an die kleinen Vorbereitungen; der Eine
0033öffnete das Paket, der Andere das Piano. Es
0034verstand sich von selbst, daß mit vierhändigem Spiel der An-
0035fang gemacht werde. Ist es doch die intimste, die bequemste
0036und in ihrer Begrenzung vollständigste Form häuslichen Mu-
0037sicirens. Sie ist jünger, als unsere Generation wähnt, und
0038verdankt der rapiden Verbreitung des Clavierspiels, der Er-
0039weiterung und Vervollkommnung der Pianofortes ihren Auf-
0040schwung. Das Streichquartett, Trio oder Quintett, das sonst
0041in keinem gut musikalischen Haus fehlte, ist dadurch verdrängt;
0042ein Verlust ohne Zweifel, doch kein Nachtheil für die best-
0043mögliche Kenntniß der Orchester-Literatur auf der eigenen
0044Stube. Wenn man die Musikalien-Kataloge aus Haydnʼs
0045und Mozartʼs Zeit bis über die Mitte von Beethovenʼs Wirk-
0046samkeit durchblättert, so begegnet man kaum Einem vierhän-
0047digen Arrangement auf Dutzende von Bearbeitungen für drei,
0048vier und fünf verschiedene Instrumente. Auch Beethovenʼs
0049erste Symphonien waren längst für Streichquartett arrangirt,
0050ehe man sie vierhändig zu setzen begann. Heutzutage bringen
0051unsere Concerte keine Ouvertüre, keine Symphonie, die man
0052nicht sofort im vierhändigen Arrangement vorkosten oder nach-
0053genießen kann. Eine Quelle von Vergnügen und Belehrung
0054fließt den Musikfreunden aus diesem bescheidenen Gebiete zu.
0055— „Wer ist Ihr Vierhändiger?“ fragte mich einst ein pas-
0056sionirter Dilettant. Seine kühne Wortbildung, so ganz die
0057Persönlichkeit negirend und blos die musikalische Nützlichkeit
0058betonend, schien mir so übel nicht. Ein rechter „Vierhändiger“
0059ist ein Inbegriff von soliden Eigenschaften, er steigt im
0060Werthe, je weniger er zweihändige Prätensionen macht. Nicht
0061Jedermann kann eine Frau, eine Geliebte, einen Herzens-
0062und Geistesfreund sein nennen, aber „einen Vierhändigen“
0063sollte jeder Sterbliche besitzen, gleichsam als engagirten Tänzer
0064für die musikalische Lebenszeit.
0065Mein Vierhändiger also ergreift das Notenpaket, hebt
0066ab wie im Kartenspiel und liest überrascht auf einem Hefte
0067die Aufschrift: „Walzer zu vier Händen von Johan-
0068nes Brahms“. Brahms und Walzer; die beiden
0069Worte sehen einander auf dem zierlichen Titelblatte förmlich
0070erstaunt an. Der ernste, schweigsame Brahms, der echte
0071Jünger Schumannʼs, norddeutsch, protestantisch und unwelt-
0072lich wie dieser, schreibt Walzer? Ein Wort löst uns das
0073Räthsel, es heißt: Wien. Die Kaiserstadt hat Beethoven
0074zwar nicht zum Tanzen, aber zum Tänzeschreiben gebracht,
0075Schumann zu einem „Faschingschwank“ verleitet, sie hätte
0076vielleicht Bach selber in eine ländlerische Todsünde verstrickt.
0077Auch die Walzer von Brahms sind eine Frucht seines Wie-
0078ner Aufenthaltes, und wahrlich von süßester Art. Nicht um-
0079sonst hat dieser feine Organismus sich Jahr und Tag
0080der leichten, wohligen Luft Oesterreichs ausgesetzt — seine
0081„Walzer“ wissen nachträglich davon zu erzählen. Fern von
0082Wien müssen ihm doch die Straußʼschen Walzer und Schu-
0083bertʼs Ländler, unsere Gstanzel und Jodler, selbst Farkasʼ
0084Zigeunermusik nachgeklungen haben, dazu die hübschen Mäd-
0085chen, der feurige Wein, die waldgrünen Höhen und was sonst
0086noch. Wer Antheil nimmt an der Entwicklung dieses echten
0087und tiefen, bisher vielleicht einseitigen Talentes, der wird die
0088„Walzer“ als glückliches Zeichen einer verjüngten und er-
0089frischten Empfänglichkeit begrüßen, als eine Art Bekehrung
0090zu dem poetischen Hafisglauben Haydnʼs, Mozartʼs und
0091Schubertʼs. Welch reizende, liebenswürdige Klänge! Wirkliche
0092Tanzmusik wird natürlich Niemand erwarten: Walzer-Melodie
0093und -Rhythmus sind in künstlerisch freier Form behandelt und
0094durch vornehmen Ausdruck gleichsam nobilisirt. Trotzdem stört
0095darin keinerlei künstelnde Affectation, kein raffinirtes,
0096den Total-Eindruck überqualmendes Detail — überall herrscht
0097eine schlichte Unbefangenheit, wie wir sie in diesem Grade
0098kaum selbst erwartet hätten. Die Walzer, sechzehn an der
0099Zahl, wollen in keiner Weise großthun, sie sind durchwegs
0100kurz und haben weder Einleitung noch Finale. Der Cha-
0101rakter der einzelnen Tänze nähert sich bald dem schwunghaf-
0102ten Wiener Walzer, häufiger dem behäbig wiegenden Ländler,
0103mitunter tönt wie aus der Ferne ein Anklang an Schubert
0104oder Schumann. Gegen Ende des Heftes klingt es wie Spo-
0105rengeklirr, erst leise und wie probirend, dann immer entschie-
0106dener und feuriger — wir sind, ohne Frage, auf ungari-
0107schem Boden. Im vorletzten Walzer tritt dies magyarische
0108Temperament mit brausender Energie auf; der Dreiviertel-
0109Tact erscheint fast als eine Skurzze des raschen Allabreve-
0110schrittes im Csardas, als Begleitung erdröhnt nicht der ruhig
0111stolze Grundbaß des Straußʼschen Orchesters, sondern das
0112leidenschaftliche Geflatter des Cymbals. Ohne Zweifel hätte
0113dies Stück den effectvollsten Abschluß gebildet, allein es liegt
0114ganz in dem Wesen Brahms’, den feineren und tieferen Ein-
0115druck dem rauschenden vorzuziehen. Er schließt, zum österrei-
0116chischen Ländlertone zurückkehrend, mit einem kurzen Stücke
0117von bezauberndem Liebreiz: ein anmuthig wiegender Gesang [2]
0118über einer ausdrucksvollen Mittelstimme, welche im zweiten
0119Theile unverändert als Oberstimme erscheint, während dazu
0120die frühere Hauptmelodie nun die Mittelstimme bildet. Das
0121Ganze in seiner durchsichtigen Klarheit zählt zu jenen echten
0122Kunststücken, die Keinem auffallen und Jedermann entzücken.
0123Das Brahmsʼsche Heft erläßt dem Spieler jedwede Bravour
0124der Anstrengung, appellirt aber an ein feines musikalisches Ge-
0125fühl. Die einzelnen Walzer sind sehr verschiedenen Tempera-
0126ments, der Spieler erräth dasselbe mehr aus ihrem musika-
0127lischen Inhalte, als aus den sparsamen Tempo und Vor-
0128tragsbezeichnungen.
0129Wir trugen eine neue Schicht von unserem Novitäten-
0130berge ab und stießen auf J. O. Grimmʼs „Suite in cano-
0131nischer Form“, in Partitur und vierhändigem Arrangement
0132publicirt von Rieter-Biedermann in Winterthur, dem
0133hochverdienten kunstsinnigen Verleger des Schumannʼschen
0134Nachlasses, sowie der meisten Compositionen von Brahms,
0135Theodor Kirchner, Hiller und Anderen. Die Grimm’-
0136sche Suite war uns von den Philharmonischen Concerten her
0137in gutem Andenken, gern sahen wir das feine, geistreiche Ge-
0138flecht sich vor unseren Sinnen wieder knüpfen und lösen.
0139Einen noch köstlicheren Genuß aus den vorjährigen Philhar-
0140monie-Concerten rief uns Schubertʼs Zwischenakt-Musik
0141zu „Rosamunde“ zurück. Herr Spina, dessen rühmlicher
0142Schubert-Eifer jetzt nachzuholen strebt, was seine Vorfahren
0143auf dem Diabelliʼschen Thron versäumten, hat die beiden
0144Entreactes aus „Rosamunde“ in Partitur, dann in zwei-
0145und vierhändiger Bearbeitung veröffentlicht. Schubertʼs
0146Orchesterstücke gehören nicht zu jenen, die durch Stimmen-
0147fülle, Contrapunktik oder Passagenwerk dem Clavier-Uebersetzer
0148Schwierigkeiten bereiten, aber das bezaubernde Colorit der
0149Schubertʼschen Instrumentirung vermißt man aufs schmerz-
0150lichste. Karl Reineckeʼs bewährte Hand hat indessen auch in
0151diesen Clavier-Arrangements das Erreichbare geleistet, und
0152wer das Original lebhaft im Gedächtniß trägt, der wird, wie
0153im Leben so auch in der Kunst, selbst das farbenlose Porträt
0154mit Dankbarkeit betrachten.
0155Auch Schubertʼs „Ouvertüre im italienischen Style“
0156in C-dur (Partitur und vierhändiges Arrangement bei
0157Spina) spielten wir zum erstenmale. Sie war nebst einer
0158gleichbetitelten zweiten (in D-dur) noch zu Lebzeiten des Com-
0159ponisten ein beliebtes Concertstück in Wien, was bekanntlich
0160wenig Schubertʼsche Compositionen von sich rühmen konnten.
0161Während wir jetzt die früher verkannten oder ganz unge-
0162kannten Werke Schubertʼs hervorsuchen und hochschätzen, sind
0163seine „Italienischen Ouvertüren“ fast spurlos verschollen.
0164Schubert schrieb sie zur Zeit des epidemischen Rossini-
0165Fiebers in Wien, theils mit ironischer Absicht, theils wirklich
0166getroffen von der glänzenden Neuheit dieser Erscheinung. Der
0167Rossiniʼsche Einfluss wirkte zu Anfang der Zwanziger Jahre mit
0168der Unwiderstehlichkeit einer Naturgewalt. Vielleicht der merk-
0169würdigste Beleg dafür ist, daß in den Werken Spohrʼs,
0170Weberʼs und Schubertʼs, dieser drei leidenschaftlichen Ros-
0171sini-Gegner, sich deutliche Spuren dieses Einflusses erkennen,
0172durch eigene Aussprüche dieser Meister biographisch constati-
0173ren lassen. Die „Italienische Ouvertüre in C“, gefällig er-
0174funden und effectvoll instrumentirt, gibt freilich weder den
0175echten Schubert noch den echten Rossini. Schubert
0176mußte seine beste Eigenthümlichkeit verleugnen, um jene Ros-
0177siniʼs — doch nicht zu erreichen. Hierauf fielen uns Notte-
0178bohmʼs vierhändige „Variationen über eine Sarabande von
0179Sebastian Bach“ in die Hände. Mit Freuden machten wir
0180uns abermals an diese uns bereits bekannt gewordene Com-
0181position, welche durch genauere und genaueste Bekanntschaft
0182immer noch gewinnt.
0183Unsere vier Fäuste hatten die besten Stollen des Noten-
0184gebirges allmälig ausgeschürft, nur ein unheimlich glimmern-
0185des Gestein lag noch unberührt: Richard Wagner. Mit
0186etwas ängstlicher Neugierde schlugen wir den neuen „Huldi-
0187gungsmarsch“ auf, den Richard Wagner dem jungen Kö-
0188nige von Baiern widmete. Der Marsch beginnt mit einer
0189sentimental-pathetischen Einleitung, in welcher das unvermeid-
0190liche chromatische Gewinsel wenigstens auf langsame Noten
0191vertheilt ist. Ein Trompetenstoß unterbricht diese Meditatio-
0192nen, und die Huldigung marschirt nun etwas strafferen
0193Schrittes, aber mit äußerst alltäglichen Ideen weiter. Wir
0194zweifeln keinen Augenblick, daß Wagner, als er sich behufs
0195dieser Inspiration „das Verzeichniß seiner Schlafröcke“ reichen
0196ließ, den rothsammtenen mit Goldquasten und Türkisenbesatz
0197gewählt habe. Aber leider kommt dieser Farben- und Juwelen-
0198glanz selbst in dem begeistertsten Clavier-Auszug nicht zu Tage
0199und bleibt nur der einfache musikalische Schnitt. Wir können
0200nicht dafür, daß dieser Schnitt uns überaus gewöhnlich und
0201bürgerlich vorkommt. Der „Huldigungsmarsch“ erinnert in
0202vielen Wendungen an die Festzüge im „Tannhäuser“ und „Lohen-
0203grin“, ohne diese auch nur entfernt zu erreichen. Wir wissen
0204nicht, was Alles die Eingeweihten in diese Musik etwa hin-
0205eingeheimnissen, bezweifeln aber, daß sie jemand Anderem
0206als dem damit begrüßten freigebigen Souverän besonders
0207theuer sein werden.
0208Ist das Arrangement des „Huldigungsmarsches“ eine
0209neue Probe von Bülowʼs Gewandtheit, so grenzt das Un-
0210ternehmen seines Freundes Tausig, die Ouvertüre zu den
0211„Meistersingern von Nürnberg“ für vier Hände zu setzen,
0212hart ans Unmögliche. Der Huldigungsmarsch ist doch noch jeden-
0213falls königlich baierische Musik, aber in dem Spectakel der
0214„Nürnberger“ Wolfsschlucht hört jeder Gedanke an Musik
0215auf. Das Wiener Publicum hat dies blutrünstige Vorspiel
0216zu einer „komischen Oper“ vor zwei Jahren im Original
0217genossen und erinnert sich, was es damals hörend erlebte.
0218Was aber vollends Menschenhände spielend dabei erdulden,
0219weiß nur, wer es selbst versucht. Uns war zu Muthe, als
0220bahnten wir uns mit bloßen Armen einen endlosen Weg
0221durch Nesselgebüsch und Dornenhecken, um zu einem Ziele
0222zu gelangen, das fast noch schlimmer als der Weg dahin.
0223Zu erschöpft waren wir von dem mörderischen Handgemenge,
0224um weiterzuspielen, zu ärgerlich aufgeregt, um so den
0225Abend zu beschließen, den wir dem Frieden und der Har-
0226monie zugedacht. „Diese Musik ist ja ärger als Krieg und
0227Politik!“ rief entrüstet mein mir an die linke Hand getrauter
0228Kamerad. Was nun anfangen? Wie eine Leuchtkugel stieg
0229uns der Gedanke auf, daß heute Strauß im Volksgarten
0230spiele, und spornstreichs eilten wir hin, als folgte uns die
0231Zunft der Meistersinger auf den Fersen. Im Volksgarten
0232schimmerte es fröhlich von Lichtern und Klängen, Strauß be-
0233gann eben mit schwungvollem Geigenstrich seine Walzer:
0234„Auf den Bergen“. Die Opfer des Nürnberger Meister-
0235gesangs aber sanken aufathmend auf eine Gartenbank und
0236waren glückselig wie — auf den Bergen.