Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1029. Wien, Sonntag den 14. Juli 1867
[1]Musikalische Briefe aus Paris.
(Concurs der Gesangvereine.)
[2]
0003Paris, 10. Juli.
0004Ed. H. Die Palmen- und Orchideenhäuser im Jardin
0005réservé des Ausstellungsparkes hatten in den letzten Tagen
0006ein seltsames Aussehen und einen seltsamen Dienst. Sie wur-
0007den als musikalische Prüfungssäle benützt, in welchen die zahl-
0008reich herbeigeströmten Gesangvereine sich nacheinander produ-
0009cirten. Die zu diesem Zwecke sehr verstärkte Jury hatte sich
0010in sechs Comités getheilt, deren jedes ein Glashaus in Be-
0011schlag nahm, sich unter Palmen an einem Tischchen niederließ
0012und dort sein bestimmtes Pensum von 20 bis 25 Vereinen
0013abhörte. Nur die Elite der französischen Gesangvereine
0014(„division d’excellence“) und die ausländischen Chorgesell-
0015schaften producirten sich vor der Jury und einem lebhaft theil-
0016nehmenden Publicum in dem „Théâtre International“ der
0017Ausstellung — einer Schwindelbühne, welche, nach kurzem
0018Scheinleben, ihre Vorstellungen gerade eingestellt hatte und
0019anderweitiger Benützung offen stand. Zusammen, in Einen
0020massenhaften Chor vereinigt, hatten wir diese 300 französischen
0021Vereine schon Tags zuvor gehört, allerdings unter entsetzlichen
0022akustischen Verhältnissen. Das „Festival“ (ein aus dem Eng-
0023lischen ohne Noth und Geschmack entlehntes Wort für „Musik-
0024fest“) fand nämlich in dem immensen Industriepalaste der
0025elysäischen Felder statt, welcher der stärksten Musikbesetzung
0026Hohn spricht. Schon bei der Preisvertheilung am 1. Juli,
0027wo doch gegen 20,000 Menschen den Saal füllten und dem
0028großen Chor ein Riesen-Orchester zur Seite stand, verpuffte
0029die Musik ohnmächtig wie ein Löffel voll Wasser auf einer glühen-
0030den Platte. Diesmal sah der Saal mit seinen 4000 bis 5000
0031Gästen geradezu leer aus und spottete der Anstrengung von
00326000 Sängern. Doch war der Anblick der Letzteren interessant
0033genug. Was dem Fremden zunächst auffällt, ist der durchaus
0034demokratische Charakter dieses Monstre-Chors. Kein schwarzer
0035Frack, keine weiße Halsbinde, wie bei unserem eleganten „Män-
0036nergesang-Verein“, das einfachste Handwerkergewand, Blousen,
0037Mützen, ärmliche Sonntagsjacken; dazwischen einige Matrosen
0038aus den Hafenstädten und einige hundert Soldaten. Da die
0039Sänger nicht nach Vereinen, sondern nach den Stimmgattun-
0040gen gereiht waren (alle ersten Tenöre zusammen, alle ersten
0041Bässe etc.), so schimmerten auch die rothen Hosen und Epau-
0042lettes allerwärts zwischen den Arbeiterblousen und Bratenröcken
0043durch, und es war ein hübsches sociales Bild, wie Krieg und
0044Frieden einträchtig, mitunter aus Einem Notenblatte, zusam-
0045men sangen. Vierzehn verschiedene Regiments-Gesangschulen wirk-
0046ten bei dem Musikfeste mit; die französische Armee zählt deren
0047bereits 70, und die allgemeine Einführung des Chorgesanges
0048bei der ganzen Armee steht bevor. Welch treffliches Resultat
0049würden ähnliche Einrichtungen in der österreichischen
0050Armee erzielen, die sich so unvergleichlich musikalischeren Ma-
0051terials rühmen darf!
0052Die französischen Gesangvereine recrutiren sich (in Paris
0053fast ausschließlich, in der Provinz größtentheils) aus den ar-
0054beitenden Classen; bei uns bestehen sie überwiegend aus musi-
0055kalisch geschulten Dilettanten des gebildeten Mittelstandes. Dar-
0056aus erklärt sich der ungleich höhere künstlerische Werth der
0057deutschen Gesangvereine, sowie die weit größere sociale Wich-
0058tigkeit der französischen. Diese Pariser Arbeiter singen oft
0059herzlich schlecht, aber die regelmäßige Uebung des Gesanges,
0060die liebevolle Beschäftigung mit der Musik haucht unfehlbar
0061ein Element der Veredlung und Verfeinerung in ihr Leben
0062und vermittelt ihnen zugleich ein wohlthuendes Bewußtsein des
0063Zusammengehörens und Wechselseitigkeit. Denn die Mit-
0064glieder eines Sängerbundes betrachten einander als Brüder,
0065und der letzte dieser Vereine will seine Fahne respectirt wissen.
0066Die Regierung hat an der Gründung dieser Gesangvereine
0067und Gesangschulen (Orphéons) ein außerordentliches Verdienst.
0068Wir können ganz absehen von der politischen Klugheit, die hier
0069mitspielt: ist es doch immer besser, eine Regierung patronisirt
0070die Gesangvereine, als sie verdächtigt oder verbietet dieselben,
0071wie wir dies bei uns erlebt. Demokratisch in ihrer Zusammen-
0072setzung, sind die französischen Orphéons doch streng bureaukra-
0073tisch in ihrer Verfassung und Verwaltung. Die meisten davon
0074sind geradezu eine Schöpfung des Gouvernements. Es liegen
0075mir hierüber charakteristische amtliche Documente vor. Z. B.
0076ein Erlaß des Departements-Präfecten N. an die Unterprä-
0077fecten und Maires seines Departements, welche aufgefordert
0078werden, zu erheben, ob in den einzelnen Ortschaften Elemente
0079zur Bildung von Orphéons vorhanden seien; wie in diesem
0080Fall der Gesangsunterricht einzuleiten, vorzunehmen und von
0081einer Commission zu überwachen sei etc. Alle drei Monate ha-
0082ben die Maires über die Fortschritte der Orphéons in ihrem
0083Arrondissement an den Präfecten zu berichten, zweimal jähr-
0084lich Prüfungen vorzunehmen, Medaillen oder Aufmunterun-
0085gen zu spenden. Später, wenn die Anzahl dieser kleinen Ge-
0086sangvereine es gestattet, sind Concurse (Preissingen) in
0087jedem Arrondissement zu veranstalten. Nur jene Vereine, die
0088in dem Concurs ihres Arrondissements eine Medaille
0089errungen haben, dürfen sich an den Gesangsconcursen des De-
0090partements betheiligen. Nach der Zahl der erhaltenen Me-
0091daillen wird jeder Gesangverein in die erste, zweite, dritte Di-
0092vision oder endlich in die „Division d’excellence“ gereiht,
0093eine Art singende Nobelgarde von Frankreich. Der Präfect
0094oder Maire ist von rechtswegen Vorstand des Gesangvereins;
0095dafür trägt auch die Regierung die Kosten der Einrichtung
0096und der zahlreich gespendeten Preismedaillen. Baron Hauß-
0097mann, auf dessen Wink fortwährend neue Straßen und Bou-
0098levards entstehen, ist Vorstand des „Orphéon de Paris“, der
0099Titel eines Amphion unter den Bürgermeistern kann ihm nicht
0100länger entgehen. Jeder Gesangverein hat ein schönes Banner
0101(in dieser Passion stehen uns die Franzosen nicht nach), und
0102an dies Banner werden alle errungenen Medaillen gehängt.
0103An den Medaillen hängt wiederum das Herz aller Vereine;
0104durfte doch das Hauptorgan der französischen Gesangvereine,
0105L’Echo des Orphéons, in seinem Festartikel die seltsame Ueber-
0106zeugung aussprechen, die Einstellung der jährlichen Preiscon[3]-
0107curse würde sofort das Aufhören aller Gesangvereine zur Folge
0108haben. Hier wie überall in Frankreich üben Ehrgeiz und Eitel-
0109keit einen großen Einfluß. Man wird sie nachsichtiger beur-
0110theilen, wenn man bedenkt, daß die größte Mehrzahl der fran-
0111zösischen Orphéons bei aller Anstrengung es nie zu echt künst-
0112lerischer Genugthuung bringen kann. Tausende von diesen sin-
0113genden Handwerkern kennen nicht Eine Note; sie werden nach
0114der Methode v. Wilhem oder v. Chevé unterrichtet, welche
0115die Noten durch Zahlen oder Figuren ersetzt. Ja, es gibt ein-
0116zelne Vereine, in welchen die Sänger nur nach dem Klange
0117einer Violine ihren Part lernen und sich einprägen. Solche
0118Genossenschaften muß man eben nicht auf ihre künstlerischen,
0119sondern auf ihre socialen Früchte ansehen. Nach längerem Zeit-
0120verlauf (die Instutition der Orphéons ist so jung, daß an dem
0121ersten allgemeinen Concurs, 1851 in Troyes, nur neun Ver-
0122eine theilnahmen) dürfte wol auch der musikalische Fortschritt
0123im ganzen Lande mehr hervortreten. Und dafür wird den Or-
0124phéons aufrichtig zu danken sein, indem sie ihre bescheidene
0125musikalische Cultur wenigstens in die tiefsten und entferntesten
0126Schichten leiten. Das französische Volk besitzt von Haus aus
0127wenig musikalische Anlage, es hat ein schlechtes Gehör und
0128wenig Empfänglichkeit für die sinnliche Schönheit des Tones.
0129Als Sänger leistet der Franzose nur dann Bedeutendes,
0130wenn das dramatische Element hinzutritt — auf der Bühne.
0131Der Chorgesang scheint die unbestrittene Domäne germanischer
0132Nationen zu sein. Leider hatte sich kein einziger deutscher Ge-
0133sangverein zu dem Pariser Concurs eingefunden. Daß der
0134Wiener Männergesang-Verein nicht erschien, be-
0135dauern wir auf das lebhafteste. Er war einer der wenigen,
0136dem die französische Commission eine specielle Einladung ge-
0137sendet hatte und dessen Auftreten man mit Spannung ent-
0138gegensah. Daß er den ersten Preis erhalten hätte (5000
0139Francs und einen goldenen Kranz) steht außer Zweifel; mehr
0140als Ein Belgier und Franzose gestand dies offenherzig. Ange-
0141nommen selbst, der Wiener Männergesang-Verein stände an
0142virtuoser Ausführung nicht über, sondern nur neben den preis-
0143gekrönten Gesellschaften von Lille und Liège, er hätte
0144durch die Frische und Klangschönheit seiner Stimmen den ent-
0145scheidendsten Vortheil über jene gehabt. Diese Gottesgabe ist
0146sehr spärlich über Frankreich ausgegossen. Unter den zahlrei-
0147chen französischen Vereinen, welche ich bei dieser Jury zu hören
0148bekam, habe ich nicht Eine schöne, echte Tenorstimme wahrge-
0149nommen und nur wenige Bässe von bedeutender Kraft und
0150Tiefe. Aus dem Süden Frankreichs kommen die besseren
0151Stimmen, aber die rohesten und ungeschultesten Sänger; die
0152nördlichen Provinzen senden musikalischere Sänger, aber mit-
0153telmäßige Stimmen. Namentlich die Tenorstimmen sind schwach,
0154näselnd oder gepreßt, bei stärkerer Kraftentfaltung unange-
0155nehm; eine nicht gewöhnliche Leichtigkeit des Falsets ist mehr
0156ein Surrogat als ein Ersatz dafür. Das Ausland war bei
0157dem internationalen Gesangsconcurs nur durch einen englischen
0158und zwei belgische Vereine — also sehr spärlich — vertreten.
0159Der Chorgesang in Belgien steht auf einer viel höheren Stufe als
0160in Frankreich, und die belgischen Gesangvereine sind wahrhaft respec-
0161table Erscheinungen. Zwei der bedeutendsten (Gent und Brüssel)
0162waren leider nicht erschienen; um so größer war der Erfolg
0163des Vereines „Ligia“ aus Lüttich. Nur einer von allen
0164französischen Vereinen, die „Société impériale de Lille“, kam
0165ihm an Reinheit der Intonation, Correctheit in den schwierigsten
0166Passagen und feiner Schattirung gleich. Es ist charakteristisch,
0167daß dieser beste französische Chorverein aus dem alten Flan-
0168dern stammt. Lille und Liège hielten sich die Wage; es
0169kann nicht ungerecht heißen, daß die Jury Lille den ersten,
0170Liège den zweiten Preis zuerkannte. Beide Gesellschaften sind
0171eigentliche „Sociétés artistiques“, aus gebildeten Dilettanten
0172bestehend, im Gegensatze zu den belgischen „Sociétés chorales
0173ouvrières“ oder den aus Gesangschulen hervorgehenden „Or-
0174phéons“ der Franzosen. Sie und noch andere Concurrenten
0175um den internationalen Preis hatten äußerst schwierige, um-
0176fangreiche Chöre zum Vortrage gewählt; „Abendhymne“ und
0177„Morgenhymne“, von dem Brüsseler Componisten Hanssens,
0178lange pathetische Chöre, welche die Stimmen rein instrumental
0179behandeln und mißhandeln, waren die Lieblingsstücke der Bel-
0180gier. Die Franzosen sangen mit Vorliebe „Tirol“ von Am-
0181broise Thomas, eine cantatenartige Naturschilderung, in wel-
0182cher Sturmgeheul, Lawinen, Glockengeläute und Jodler zu
0183einem echt französischen unerquicklichen Effectstück verbunden
0184sind. Freundlicher und sangbarer ist der gleichfalls oft wieder-
0185holte Zigeunerchor („Les Enfants d’Egypte“) von Laurent
0186de Rillé, dem unermüdlichen Special-Schriftsteller und Leib-
0187componisten der französischen Gesangvereine. Das Repertoire des
0188französischen Männergesanges ist arm und unbedeutend. Aus der
0189älteren Literatur, welche den vierstimmigen Männerchor bekannt-
0190lich noch nicht pflegte, haben sie einige Arrangements und singen
0191z. B. „Die Nacht“ von Rameau mit Brummstimmen! Die
0192französischen Componisten fühlen sich im Männerchor offenbar
0193nicht heimisch; selbst die beliebtesten Chöre von Ambroise Tho-
0194mas, Gounod, David etc. sind gekünstelt, unerquicklich und me-
0195lodielos. Von deutschen Chören haben nur einige wenige sich
0196eingebürgert: Becker’s „Marsch“, Kücken’s „Im Walde“,
0197Mendelssohn’s „Abschied“. Alle möglichen deutschen Lieder-
0198tafelspässe hingegen: Brummstimmen, Rataplan, Glockengeläute
0199u. dgl., sind von Franzosen nachgeahmt, und zwar mit wenig
0200Geschmack. Wer es unternähme, eine Auswahl der besten
0201deutschen Männerchöre in gutes Französisch zu übertragen,
0202könnte viel Ehre und Gewinn daraus ziehen. Zuletzt und
0203eigentlich nur aus Courtoisie ließ man den englischen Verein
0204„Tonic Fa-Sol-Association“ singen; als gemischter
0205Chor (von Männern und Frauen) war er von der Concur-
0206renz ausgeschlossen. Die Jury horchte mit Interesse, das Publi-
0207cum mit Begeisterung. Man war der schwierigen, gekünstelten
0208und überlangen Preischöre so müde, daß die zwei einfachen,
0209sich dem Volkstone nähernden Chöre, trotz des widerstrebenden
0210englischen Textes, wahrhaft erfrischend wirkten. Die Stimmen
0211waren sehr unbedeutend, aber die Chöre gut studirt und mit
0212Liebe gesungen. Die Jury hatte sich bereits ins Foyer zur
0213Abstimmung zurückgezogen, als der Beifall des Publicums noch
0214forttobte und die englische Gesellschaft schließlich das „God
0215save the Queen“ sang. Den französischen Componisten und
0216Dirigenten hätte da vielleicht ein Licht aufgehen können. Was
0217im deutschen und englischen Chorgesange die schönsten Blüthen
0218treibt, ist der frische, lebenswarme Hauch des Volksliedes;
0219was dem französischen Männergesange so empfindlich ab-
0220geht und noththut, ist eben das Element des Volksliedes.
0221Die französische Artigkeit gegen fremde Gäste verleugnete
0222sich auch diesmal nicht; der englischen Gesellschaft mit dem
0223wunderlichen Namen wurde zwar kein „Preis“, aber als Zei-
0224chen freundlicher Anerkennung ein goldener Lorbeerkranz vo-
0225tirt. Bei der feierlichen Preisvertheilung im Industriepalaste
0226ergoß sich auf den vordersten Sängerplätzen die Schaar der
0227englischen Damen — mehr würdevoll als schön. Ganz gegen
0228englisch Recht und Sitte war unter diesen 20 bis 30 Loreleys
0229nur Eine schöne. Sie war demnach bald herausgefunden und
0230als Repräsentantin des Vereines an die Stufen des Thrones
0231gesendet. Der Kaiser überreichte ihr den goldenen Kranz,
0232und zwar nicht sitzend, wie den Uebrigen, sondern sich mit
0233liebenswürdigem Lächeln vom Throne erhebend. In dem Wett-
0234kampfe von 300 Männergesang-Vereinen errang somit die
0235höchste Auszeichnung — ein blondes Mädchen.