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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1260. Wien, Dienstag den 3. März 1868

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Concert, Oper und Singspiel.


0002Ed. H. Die „Philharmonische Gesellschaft
0003führte uns in ihrem letzten diesjährigen Concerte zwei Gäste
0004guten Namens vor: die Pianistin Fräulein Mehlig aus
0005Stuttgart und die hannover’sche Kammersängerin Fräulein
0006Ubrich. Fräulein Anna Mehlig spielte Chopin’s F-moll-
0007Concert (op. 21) mit so günstigem Erfolg, daß sie dreimal
0008stürmisch gerufen wurde. In der That besitzt die junge Dame
0009eine äußerst elegante, fein und sicher ausgebildete Technik, die
0010namentlich in behenden Passagen, Trillern und Verzierungen
0011an Sauberkeit nichts zu wünschen läßt. Ihr Anschlag ist zart
0012und singend, wenn er auch selten den ganzen, vollen Ton aus
0013dem Instrumente zieht oder durch stürmische Kraft imponirt.
0014Wer das Chopin’sche Concert genauer kennt, wird Fräulein
0015Mehlig’s Leistung nur um so höher schätzen, denn die Com-
0016position bürdet dem Spieler eine Masse von Schwierigkeiten
0017auf, welche der Hörer mitunter kaum bemerkt, geschweige denn
0018auszeichnet. Nicht so rühmenswerth wie die brillante technische
0019Durchführung schien uns die geistige Auffassung und Inter-
0020pretation des Stückes. Ein Concert, sei’s auch ein Chopin-
0021sches, will anders gespielt sein, als ein Notturno. Schon die
0022Größe der Form und der Kunstmittel verlangt einen größe-
0023ren, objectiveren Styl des Vortrages. Anstatt den losen Zu-
0024sammenhang dieses lyrischen Monologes straffer zusammenzu-
0025ziehen, lockerte ihn Fräulein Mehlig durch alles erdenkliche
0026sentimentale und geputzte Detail. Es ging durch den ganzen
0027Vortrag ein Dehnen und Schmachten, welches die spärlichen
0028und der Nachhilfe bedürftigen kräftigen Stellen der Composi-
0029tion noch abschwächte. Das erste Allegro (vom Orchester in
0030richtigem Tempo introducirt) nahm Fräulein Mehlig sofort
0031zögernd und zerflossen auf; desgleichen ließ sie die energischen
0032Anhaltspunkte, welche das Finale durch mazurka-artige Rhythmen
0033bietet, völlig unbenützt. Fräulein Mehlig darf sich rühmen,
0034daß sehr wenig Frauen ihr das Chopin’sche Concert nachspie-
0035len werden, aber ein Mann würde es anders spielen. Die
0036Composition selbst, anregend durch zahlreiche feine Details,
0037zündete an keiner Stelle. Interessant ist sie uns schon durch
0038die Persönlichkeit des Autors, die freilich im ungleichen
0039Kampfe mit großen, symphonischen Formen ihre beste Eigen-
0040thümlichkeit einbüßt. Chopin ist eine Aeolsharfe, welche, von
0041einem Lüftchen berührt, die wunderbarsten Klänge aushaucht,
0042aber niemals hat ein beständiger Wind sie angeweht. Diese
0043zauberisch verklingenden Accorde, sie fügen sich zu keinem
0044stolzen Bau; aus all den duftigen Nocturnen und Mazurkas
0045erwächst keine Symphonie, keine Sonate. Das E-dur-Concert 
0046und die B-moll-Sonate, an Gehalt und formeller Geschlossen-
0047heit entschieden über dem F-moll-Concerte stehend, verrathen
0048dennoch schon deutlich die Schwäche des im Kleinen so
0049mächtigen, im Großen aber hilflosen Troubadours.
0050Interessant ist uns das F-moll-Concert ferner, indem
0051es ganz vorzugsweise den starken Einfluß Chopin’s auf
0052Schumann verräth. Wie Chopin selbst, sein Ahnherr Field 
0053und seine Nachkommen Henselt, Stephen Heller und Kirch-
0054ner
, so schien auch Schumann anfangs sein originelles Ta-
0055lent in kleinen Formen ausgeben zu wollen. Aber er blieb
0056nicht wie Jene in dem engen Zauberkreise gebannt; ein kräf-
0057tiger Durchbruch, und Schumann war mit seinen Symphonien,
0058seinen Quartetten aus der Reihe der großen Talente in jene
0059der großen Meister aufgestiegen. Auf alle Fälle müssen wir
0060Fräulein Mehlig für die Wahl des äußerst selten gehörten
0061Chopin’schen Concertes dankbar sein. Wir hätten auch die bei-
0062den oft wiederholten Beethoven’schen Werke („Eroica“ und
0063Fest-Ouvertüre“) nicht ungern durch minder bekannte Ton-
0064dichtungen ersetzt gesehen. Nachdem in den Gesellschafts-Concer-
0065ten und den Hellmesberger’schen Quartetten Novitäten von
0066Jahr zu Jahr seltener auftauchen, wäre es umsomehr an den
0067„Philharmonikern“, diesem Mangel abzuhelfen. Dürfen wir
0068heute als Fürsprecher für unseren oft ausgesprochenen und oft
0069als „unclassisch“ verketzerten Wunsch einen der strengsten Hü-
0070ter der musikalischen Classicität vorführen? Es ist der treff-
0071liche Moriz Hauptmann in Leipzig, der kurz vor seinem 
0072Tode Nachstehendes über die Gewandhaus-Concerte schrieb:
0073Eroica, Meeresstille und glückliche Fahrt, Es-dur-Concert 
0074von Beethoven — Alles vortreffliche Sachen, gut ausgeführt
0075— aber gar zu eingewöhnt, man weiß jede Note, jedes Nöt-
0076chen, jeden Effect voraus. Ich möchte manchmal zuerst etwas
0077Anderes, etwas noch nicht Gekanntes, sei es Vergangenheit
0078oder Gegenwart, nicht um dem Gekannten und Geliebten den
0079Rücken zu wenden, nur um es in einer Umgebung zu sehen.
0080Auch nicht immer höchste Spitzen, ohne Thäler und Hügel.
0081Auch für’s Publicum wär’s gut, daß es nicht immer nur
0082Bekanntes hier hörte; die Leute verstecken sich in einer dumpfen
0083Bewunderung ohne alles Urtheil, etwas Anderes wird ihnen
0084unbequem, weil sie nicht wissen, was sie dazu sagen sollen.
0085Wir brauchen nicht jeden Winter alle Neune von Beethoven 
0086zu hören, es ist in Wahrheit zu viel des Guten. Wo nur
0087Bestes gegeben wird, gibt’s kein Bestes mehr; es darf nicht
0088alle Tage Sonntag sein.“ — Das letzte „Philharmonische Con-
0089cert“ wurde übrigens so lebhaft ausgezeichnet, wie seine sieben
0090Vorgänger, und hat die warmen, festgegründeten Sympathien
0091des Publicums für Herrn Dessoff und sein treffliches Or-
0092chester neuerdings in zweifelloses Licht gestellt. — Minder
0093glücklich als ihre Collegin am Clavier war das zweite Mäd-
0094chen aus der Fremde, Fräulein Ubrich, mit dem nicht un-
0095romantischen Vornamen Asminde. Fräulein Ubrich hat eine
0096weiche, namentlich in der Mittellage klangvolle Stimme, die
0097sich aber monoton, phlegmatisch, auch um einiges Distoniren
0098unbekümmert, fortbewegt. Von Coloratur — nach ihrem Rol-
0099lenfache zu schließen, Fräulein Ubrich’s Hauptstärke — bekamen
0100wir blos einen hübschen, gleichen Triller zu hören. Als Lieder-
0101sängerin verrieth Fräulein Ubrich einen auffallenden Mangel
0102an Wärme und poetischer Individualisirung. Welch bequeme
0103Wohlbeleibtheit des Vortrages, die sich mitten im Liede auf
0104irgend eine Note niedersetzt, um da beliebig auszuruhen! In
0105allen Vorträgen Fräulein Ubrich’s herrschte Kälte, ja schlim-
0106mer als dies: Schläftigkeit. Und Schubert, Mendelssohn,
0107Schumann — das sind doch, sollte man glauben, musikalische
0108Wecker von ziemlicher Kraft. Eine Arie des gekrönten Schä[2]-
0109fers Aminta aus Mozart’s Festoper: „Il re pastore“
0110eignete sich jedenfalls viel besser für die friedliche Politik der
0111hannover’schen Sängerin. Der neunzehnjährige Mozart compo-
0112nirte dieses Festspiel bekanntlich für ein Hoffest in Salzburg 
0113(1775), also zu einer Zeit und unter Verhältnissen, welche
0114das Geleistete relativ bedeutend erscheinen lassen. An und für
0115sich kann uns aber diese Mischung von physiognomieloser Idea-
0116lität und veraltetem Schmuckwerk unmöglich erwärmen, weder
0117in der Partitur noch in dem Vortrage Fräulein Ubrich’s.
0118Von A. W. Schlegel haben wir längst den Begriff der
0119„gefrorenen Musik“, nun kennen wir aus eigener Wahrneh-
0120mung auch den gesungenen Schnee.


0121Das Becker’sche oder „Florentiner“ Quartett hat indessen
0122seine Soiréen unter stets zunehmendem Andrange und Enthu-
0123siasmus fortgesetzt. Wir konnten leider der letzten Production
0124nicht beiwohnen, in welcher Beethoven’s Cis-moll-Quartett
0125(op. 131), Schumann’s Clavier-Quintett (mit Fräulein
0126Mehlig) und Schubert’s  Quartett in G-dur (op. 161) 
0127zur Aufführung kamen. Das letztere, hier selten gegebene Werk
0128hatten wir zum Glück Tags zuvor in dem Hause Professor
0129Billroth’s von den Florentinern vortragen gehört. Niemals
0130haben wir die phantastische Großartigkeit und Fülle dieser
0131Tondichtung auch nur annäherungsweise so lebhaft empfunden,
0132wie in dieser Aufführung. In den prachtvollen Tremolo-Effec-
0133ten aller vier Instrumente im ersten Satze wuchs das Quar-
0134tett zu der Gewalt eines Orchesters, in dem tosenden Finale
0135stürzte es zur Tiefe wie ein Bergstrom. Leider soll bei der
0136Aufführung selbst die große Hitze ein Nachlassen der Saiten
0137und dadurch eine Störung der Tonreinheit hervorgebracht haben.
0138Für die wenigen noch bevorstehenden Quartett-Productionen
0139dürfte es wol dem Wunsche der Hörer entsprechen, wenn die
0140Künstler (wir müssen mit ihnen geizen) keine Claviernummern
0141einschöben, es wäre denn, sie fänden dafür ganz ebenbürtige
0142Virtuosen auf dem Piano.


0143Im Hofoperntheater verabschiedete sich der Tenorist
0144Herr Hacker in seiner zweiten und letzten Gastrolle als
0145George Brown. Wir können an diesem Gastspiele (wie an 
0146jenem der Tänzerin Schuller) nur dessen Kürze loben; bei
0147längerer Dauer wäre das Publicum und die arme Kritik ohne
0148Zweifel schwermüthig geworden. Nachdem aber auch dem Teno-
0149risten und der Tänzerin kein besonderes Vergnügen daraus er-
0150blühte, so wollen wir diese Angelegenheit und die Luft im Hof-
0151operntheater als „bereinigt“ ansehen. Ungleich mehr Anlaß hatte
0152die Direction, die preußische Hofopernsängerin Frau Blume 
0153zu einem kurzen Gastspiel zu laden. Diese Sängerin besitzt in
0154Berlin die ersten dramatischen Rollen und die Sympathien
0155des Publicums; man kann ihr Lob in den Aufsätzen der nam-
0156haftesten Berliner Kritiker lesen. In der That verdankt Frau
0157Blume der Natur schöne Vorzüge: ein gefälliges Aeußere,
0158eine volle und starke Stimme, die nur bei größeren Anstren-
0159gungen (wie die Kerkerscene des Fidelio) sich in der Höhe nicht
0160ganz willig zeigt. Frau Blume trägt mit Empfingung vor,
0161spielt gut und spricht mit wohlthuender Deutlichkeit ein wirkliches
0162Deutsch. Das Publicum erkannte beifällig die Vorzüge und das auf-
0163richtige, künstlerische Bestreben der Sängerin, ohne sich für eine ihrer
0164Rollen zu begeistern. Selbst wenn Frau Blume ihr Bestes
0165gab, sie erreichte ihr Ziel immer nur beinahe. Die Haupt-
0166schuld trägt ihre mangelhafte Gesangstechnik, welcher schon die
0167vollkommene Verbindung von 5 bis 6 Tönen schwerfällt und
0168selbst eine mäßige Coloratur die größten Hindernisse berei-
0169tet. Wenn wir sagen, daß für Aufgaben wie Donna Anna 
0170und Fidelio ihr Athem zu kurz ist, so wolle man das im
0171buchstäblichen Sinne nehmen. Frau Blume schöpft fast nach
0172jedem Tacte Athem und zerreißt dadurch Tonglieder und Ton-
0173ketten, die nothwendig zusammengehören. Um im Verlaufe
0174großer Rollen für solche Gesangsmängel zu entschädigen, müßte
0175die geistige und poetische Begabung der Sängerin nicht blos
0176eine eben ausreichende, sondern eine geniale und eigenthümliche
0177sein. Dies trifft aber bei Frau Blume nicht zu, deren blon-
0178des, weiches, freundliches Naturell im Gegentheile einiger An-
0179strengung bedarf, um das Heroische und Tragische zu errei-
0180chen. Pamina in der „Zauberflöte“, an sich keine dankbare
0181Rolle, war diejenige, mit welcher unser Berliner Gast den
0182einstimmigsten Beifall errang. Frau Blume läßt eine ach-
0183tungsvolle Erinnerung hier zurück, aber keinen tieferen Ein-
0184druck. Nebenbei gesagt, entsinnen wir uns keiner hier gasti-
0185renden oder engagirten Sängerin, welcher es geglückt wäre,
0186den Fidelio und die Donna Anna unserer Dustmann 
0187zu verdunkeln. Das Fremde hat mitunter am meisten ge-
0188nützt, indem es uns gegen den Werth des Einheimischen ge-
0189rechter macht.


0190In den lustigen Theatern an der Wien und an der
0191Donau wird seit einiger Zeit das Operetten-Geschäft wieder
0192erfolgreich betrieben. Das Carltheater brachte eine einactige
0193Operette von Offenbach: „Urlaub nach Zapfenstreich“ („La
0194permission de dix heures“), welche mehr durch Schuld der
0195Darstellung als der Novität selbst nach wenigen Reprisen
0196verschwand. Dem Stücke liegt eine recht artige Idee zu
0197Grunde, die Musik — nicht hervorragend, aber weder lär-
0198mend noch gemein — bringt zwei bis drei recht graziöse Num-
0199mern. Vorzüglich besetzt, wie es ehedem die älteren Offen-
0200bach’schen Singspiele im Carltheater waren, müßte unseres
0201Erachtens auch der „Urlaub nach Zapfenstreich“ viel lebhaf-
0202teren Anklang gefunden haben. Von den Mitwirkenden ge-
0203nügte nur die stimmbegabte Frau Friedrich-Materna 
0204ihrer Aufgabe, die übrigens ihrem Naturell nicht einmal recht
0205zusagt. Die zweite Primadonna, Fräulein Canissa, entfal-
0206tete keinerlei Vorzüge, welche für ihr Falschsingen irgendwie
0207entschädigen könnten — eine räthselhafte Acquisition. Herr
0208Matras, so ergötzlich als Localkomiker, kann nur mit großer
0209Gefahr in ein anderes Gebiet, namentlich das der französischen
0210Operette, übertragen werden. Ebensowenig paßt Herr Eppich 
0211für den galanten Gardisten Pompon; der überlaute, gellende
0212Ton seiner Stimme streift unbarmherzig den Schmelz von
0213jedem zärtlichen oder feineren Gesangsstücke. Daß wir die
0214Sicherheit und gute Laune Herrn Eppich’s in Rollen anderer
0215Art zu schätzen wissen, bedarf keiner Versicherung. Das Un-
0216genügende einer solchen Aufführung wirkt desto auffallender,
0217wenn wahrhafte Mustervorstellungen, wie „Die rasche Hand“
0218und dergleichen, am selben Abende vorangehen. Die Herstellung
0219einer guten Operetten-Gesellschaft bietet große Schwierigkeiten. [3]
0220Wir zweifeln nicht, daß Herr Ascher ihrer Herr wird; bis da-
0221hin dürfte es wohlgethan sein, das Singspiel (mit Ausnahme
0222der eigentlichen Localposse) möglichst im Hintergrunde zu lassen.
0223Ein Gegenstück zu der hübschen, durch die Aufführung benachtheiligten
0224Offenbach’schen Operette im Carltheater lieferte das Theater an
0225der Wien mit dem „Pfeil im Auge“, einem erbärmlichen
0226Machwerk, an welches man die besten darstellenden Kräfte
0227nutzlos verschwendet hat. Diese musikalische Burleske, welche
0228in Paris das Publicum eines der untersten Boulevard-Theater
0229(Folies dramatiques) amüsirt, wurde aus dem Französischen
0230des Hervé nicht blos übersetzt, sondern mit einer Menge
0231witzloser Scenen und Dialoge (natürlich mit fortwährendem
0232Mutiren ins Lerchenfelderische) bereichert. Die Hauptidee,
0233wenn von einer solchen die Rede sein kann, reicht nicht blos
0234für drei Acte, sie reicht nicht einmal für eine Scene aus,
0235denn sie beruht auf einer geradezu anwidernden Albernheit.
0236Oder kann man es anders nennen, wenn die Heldin, eine
0237verrückte, unerledigte Baronesse, beim Armbrustschießen ins
0238Auge getroffen wird und mit diesem Pfeil im Auge andert-
0239halb Acte spielt, singt und tanzt? Oder wenn ein alter Mar-
0240quis ihr zur Seite während des Sprechens jeden Augenblick
0241sein falsches Gebiß verliert, dasselbe wieder befestigt und nach
0242längerer Pause dann weiterspricht? Die Wahl dieses Stückes
0243ist unbegreiflich und wird es noch mehr, wenn man erfährt,
0244daß Offenbach’sRobinson“ dem „Pfeil“ zuliebe zurückgelegt
0245worden ist. Das Tollste an dem Stücke ist vielleicht, daß es
0246nicht eine einzige dankbare Rolle enthält. Arme Geistinger!
0247Bedauernswerther Swoboda und Blasel. Die Musik
0248Hervé’s verräth ein schwaches, unselbstständiges Talent, das
0249sich meist von Reminiscenzen und Redensarten nährt. Zwei
0250bis drei Melodien heben sich jedoch gefällig und mit einem An-
0251fluge von Esprit heraus. Wie alle Französinnen, selbst wenn
0252sie nicht jung und hübsch sind, hat diese Musik eine gewisse
0253Nettigkeit der Haltung und Toilette, vielleicht „kein ganzes
0254Hemd am Leibe“ (darüber mögen andere Autoritäten entschei-
0255den), aber gewiß tadellose Handschuhe und Stiefletten. Wir
0256halten das Talent Suppé’s für entschieden echter und reicher,
0257als das von Hervé, aber mit wie plumper Hand fährt Suppé 
0258in der „Frau Meisterin“ überall ins Zeug und schlägt sich
0259einen Effect mit dem anderen todt! Nicht zwei Musikstücke
0260nacheinander sind im selben Style gehalten: Wiener Schnader-
0261hüpfel, sentimentale Romanzen, Offenbach’sche Quadrillen-
0262Motive, deutsche Liedertafelklänge, Coloratur-Arien, endlich ein
0263von Domestiken in weißen Küchenschürzen gesungenes heroi-
0264sches Finale, gegen welches die Waffenweihe in den „Huge-
0265notten“ ein harmloser Ländler ist! Schade um das Talent,
0266welches doch deutlich aus einigen Nummern spricht.
0267Die Frau Meisterin“ enthält übrigens eine der frische-
0268sten, originellsten Leistungen der Gallmeyer. Namentlich
0269im letzten Act, als Gräfin, entfaltet sie eine Fülle geistreich-
0270übermüthiger Charakteristik. Wir haben den Abend nicht be-
0271dauert, den wir der „Frau Meisterin“ widmeten, aber die
0272Meisterin Gallmeyer mußten wir bedauern, deren Talent wie
0273eine gefangene Märchen-Prinzessin vergebens auf einen poe-
0274tischen Retter harrt, der durch eine kühne That, d. h. ein gu-
0275tes Stück, sie aus dieser aufreibenden dramatischen Verwil-
0276derung erlöst. Man hatte die Entdeckung gemacht, daß Fräu-
0277lein Gallmeyer nicht blos eine eminente Komikerin sei, son-
0278dern in einzelnen Scenen auch Töne tiefster Rührung und
0279Herzlichkeit, ja durchbohrenden Schmerzes anzuschlagen wisse.
0280Nun waren rasch ein halbes oder ein ganzes Dutzend Stücke
0281zusammengeschustert, welche auf diese Vielseitigkeit des Aus-
0282druckes speculirten und Fräulein Gallmeyer unmittelbar nach
0283einander tragisch und komisch, hochdeutsch und lerchenfelderisch,
0284frivol und pathetisch sein ließen — Alles ohne vernünftigen
0285Sinn und Zusammenhang. Da man dies reiche Talent nicht
0286geistig zu verwerthen versteht, spannt man es einfach auf die
0287Folter. Im Verlaufe einer halben Stunde hat man ihr mit-
0288telst einer solchen Folterrolle sämmtliche Kunststücke bis aufs
0289letzte bunt durcheinander herausgepreßt. Ein wahres Wunder,
0290wenn das Talent dabei am Leben bleibt. „Die Frau Mei-
0291sterin“ ist nicht das ärgste, aber doch eines von diesen Stücken,
0292die blos geschrieben sind, um das Talent der Gallmeyer mit
0293allen Hunden zu hetzen. Das edle Wild hält sich tapfer — aber
0294diese Hunde!