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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2649. Wien, Dienstag, den 9. Januar 1872

Musik.

(Concerte. — „Bunte Blätter“ von Ambros.)

Ed. H. Es muß nur der rechte Virtuose kommen, dann zeigt es sich, daß die Lust an Virtuosen-Concerten in Wien nicht ausgestorben ist. Rubinstein ist solch ein Rechter und darf sich was Rechtes zugute thun auf die Anziehungskraft seines letzten Concertes. Eine kleine Völkerwanderung bewegte sich am Mittwoch Abends gegen den Musikverein hin, vor welchem lange Wagenreihen Queue machten, wie bei einem „Eliteball“. Der große Musikvereinssaal, dessen Orchester-Podium zu Cerclesitzen verwendet war, hatte kaum Einen unbesetzten Platz aufzuweisen. Ueber Rubinstein’s außerordentliches Clavierspiel haben wir so oft schon berichtet, daß wir uns wol kurz fassen dürfen; neue Seiten seines Talentes hat er uns an diesem Abend ohnehin nicht entfaltet. Strotzende Kraft und Jugendfrische, unvergleichliche Behandlung der Melodie, vollendeter Anschlag im brausendsten Sturme wie im leisesten Verhallen des Klanges, eine Ausdauer und ein Gedächtniß ohnegleichen — das Alles und mehr noch bewunderten wir neuerdings an Rubinstein. Wenn etwas vielleicht momentan stören konnte, so waren es einige flüchtige Unreinheiten des Spieles, sodann ein die Klarheit und Schönheit beeinträchtigendes Tastenwüthen in vollgriffigen Fortissimo- Stellen. Beides war in demselben Stücke wahrzunehmen, einer Partie Variationen eigener Composition (Op. 89), womit Rubinstein das Concert eröffnete. Diese unabsehbar lange und unbegreiflich schwierige Composition wirkte trotz einzelner (stark von Schumann’s Einfluß zeugender) Schönheiten ermüdend und erkältend. Unter den Variationen ist eine (ich glaube die dritte), deren Effect auf dem sicheren Treffen der höchsten Noten durch die überschlagende Linke beruht; gerade hier griff Rubinstein wiederholt daneben. In dem Finalsatz hingegen hörte man zeitweilig nur ein wirres Tosen und Toben der Baßsaiten, Kraftproben der übermüthig gewordenen Bravour. Unwillkürlich dachten wir an die goldenen Worte, welche Goethe dem Maler Müller über dessen Bilder schrieb: „Der feurigste Maler darf nicht sudeln, so wenig als der feurigste Musiker falsch greifen darf; das Organ, in dem die größte Gewalt und Geschwindigkeit sich äußern will, muß erst richtig sein.“ Glücklicherweise ereignet sich bei Rubinstein derlei Ausgleiten nur selten, und spielt derselbe bekanntlich viel besser, als Müller gemalt hat. Mit Ausnahme seiner langen Variationen-Reihe trug Rubinstein nur lauter kleinere Stücke vor, mitunter Musik von allerintimstem Charakter: Schumann’sStudien für den Pedalflügel“, Chopin’s Präludien und dergleichen. Er spielte das Alles wunderbar schön, demungeachtet wollte diese Herrschaft des kleinen Genres nicht recht stimmen zu dem imposanten Raume des großen Musikvereinssaales. Es war uns, als träten wir in ein hohes Palmenhaus und fänden darin lauter kleine Resedastöckchen. Für eine Sonate von Beethoven, Schubert oder Weber wäre wol Platz gewesen. Rubinstein spielte nicht weniger als zwanzig Stücke, Alles ohne Begleitung. Mit diesen Clavier-Productionen wechselten Gesangsvorträge — eine Maßregel von eigentlich selbstverständlicher Zweckmäßigkeit, die wir aber trotzdem ausdrücklich loben müssen. Denn es scheint hier seit jüngster Zeit wieder Mode werden zu wollen, ganze Concert-Abende nur mit Clavierspiel und nur mit den Leistungen des Concertgebers auszufüllen. Fräulein Menter und Herr Wieniawski haben kürzlich solche Isolir-Concerte gegeben. Damit beeinträchtigten sie nur die Wirkung ihrer eigenen Vorträge, welche ohne jegliche Klangabwechslung das Auditorium schneller abstumpfen. Aber nicht blos der Hörer, auch der Spieler ermüdet früher und bedarf längerer Ruhepausen, welche mit einigen Liedern ausgefüllt zu sehen ein sehr natürlicher und bescheidener Wunsch des Publicums ist. Mit seltenen Ausnahmen (wie es zum Beispiel Bülow’s systematisch geordnete Beethoven-Productionen sind) sind Concert-Programme, die durchaus nur von Einem Künstler abgespielt werden, von einer gewissen Eitelkeit dictirt, die sich gewöhnlich an dem concertgebenden Clavier-Eremiten rächt. Die Gesangsnummern in Rubinstein’s Concert wurden von Frau Jauner-Krall vorgetragen. Jeder Musikfreund in Wien, dessen Gedächtniß 20 Jahre weit reicht, entsinnt sich mit Vergnügen der jugendlichen Sängerin Emilie Krall, deren warme, sympathische Stimme und seelenvoller Vortrag ihr in Wien so rasch alle Herzen gewann. Namentlich in der Oper „Jolanthe“ und dem Oratorium „Johannes der Täufer“ (Beides zu früh vergessene Compositionen unseres Johannes Hager) erregte ihr frisch aufknospendes Talent freudige Sensation. Durch eine Reihe von Jahren die Zierde der Dresdener Oper, hat Frau Jauner- Krall kürzlich der Bühne Lebewohl gesagt und die alte Heimat Wien wieder aufgesucht. Wir freuten uns der vortrefflichen Methode, der lebhaften Empfindung und des fein nuancirten Vortrages, welche Frau Jauner-Krall in Liedern von Schubert und Mendelssohn bewährte — künstlerische Vorzüge, welche über einige Schäden der Stimme wol zu trösten vermögen. Ganz vortrefflich war namentlich der Vortrag des Wohin?“ aus Schubert’s Müllerliedern. Eine unerwartete Ueberraschung bereitete dem Publicum Herr Franz Jauner, indem er den Gesang seiner Gattin am Clavier sehr gewandt und ausdrucksvoll begleitete. Wir kannten Herrn Jauner bisher nur als vortrefflichen Schauspieler und wahren Proteus in seinem Fache — daß er sich auch beliebig in einen guten Musiker und Pianisten verwandeln könne, haben seine Verehrer vom Carltheater erst in Rubinstein’s Concert erfahren.

Ueber den großen Erfolg Rubinstein’s sollen einige andere Concerte nicht vergessen werden, welche in kleinerem Rahmen anmuthende, sauber ausgeführte Bilder brachten. Darunter ist zuerst das Concert von Fräulein Helene Magnus zu nennen. Längst ein erklärter Liebling des Wiener Publicums, hat Fräulein Magnus dasselbe mit ihren neuesten Gesangsvorträgen ganz besonders enthusiasmirt. Ihre in den letzten Jahren empfindlich angegriffene Stimme scheint sich wieder erholt zu haben. Nebst Gesängen von Schubert, Schumann und Brahms war es insbesondere ein Lied: „Willst du dein Herz mir schenken, so fang’ es heimlich an“, welches der Sängerin zu größtem Beifall verhalf. Es ist, dem Programme zufolge, „von Johann Sebastian Bach“. Man sollte solcher Angabe wenigstens beisetzen: „aus Brachvogel’s Roman: „Friedemann Bach“, denn dieser ist so ziemlich die einzige Quelle für jene Autorschaft. Dem sentimentalen Bedürfniß des Romanschriftstellers mußte es natürlich ungemein entsprechen, den alten Sebastian als Componisten eines Liebesliedes aufführen zu können. Allein der Umstand, daß dieses Lied (nebst vielen anderen) in dem Gesangbuch der Gattin Bach’s sich notirt vorfand, mit dem Beisatz „von Giovannini“, liefert für sich doch nicht den Schatten eines Beweises für die Autorschaft Bach’s, unter dessen bis jetzt bekannten Werken sich gar keine Lieder vorfinden. Kurz vor der Soirée des Fräulein Magnus hatte die Sängerin Fräulein Anna Regan sich in einem zweiten Concert auf das ehrenvollste von dem Wiener Publicum verabschiedet. Letzteres hat ihr so warme Theilnahme bezeigt, daß Fräulein Regan hier der freundlichsten Aufnahme gewiß sein kann, wann immer und so oft sie wiederkehren möge. Eine Production von eigenthümlichem Gepräge war das „Historische Concert“, welches Herr J. Promberger (emeritirter Professor am Petersburger Conservatorium) im kleinen Musikvereinssaale gab. Das Programm durchmaß so ziemlich die ganze Ausdehnung der Musikgeschichte und brachte viel des Interessanten und Belehrenden. Herr Promberger erwies sich darin als tüchtiger Musikkenner und fertiger Clavierspieler. Auch eine „Novitäten-Soirée“ unseres recht beliebten und geschätzten J. P. Gotthard fand lebhaften Anklang. Dieser thätige Verleger credenzte nur musikalischen Eigenbau, d. h. ausschließlich Werke aus seinem Verlag. War auch nicht jede Flasche von gleicher Güte, so gab es doch darunter manch edlen, preiswürdigen Tropfen. Das vierte Philharmonische Concert (am 7. d. M.) brachte ein auserlesenes Programm: Schumann’s C-dur-Symphonie, die beiden (durch Herbeck aufgefundenen) Sätze einer unvollendeten H-moll-Symphonie von Schubert, endlich Beethoven’s Clavier-Concert in Es-dur, gespielt von Herrn Hanns v. Bülow. Der technisch vollendete, geistvolle, stellenweise nur allzu absichtsvoll pointirte Vortrag des berühmten Künstlers erregte stürmischen Beifall. Wir werden Gelegenheit bekommen, demnächst ausführlicher über Herrn v. Bülow zu berichten.

Zum Schlusse gestatte uns der Leser, einen Abstecher aus unserem eigenen Feuilleton in eine Sammlung fremder Feuilletons zu machen, welche sich merkwürdigerweise mit einer Art Excommunication des Feuilletons einführt. Dr. Ambros hat nämlich unter dem Titel: „Bunte Blätter“ eine Reihe von Skizzen und Studien über Musik und bildende Kunst veröffentlicht, welche größtentheils in der Neuen Freien Presse“ erschienen und unseren Lesern gewiß in angenehmer Erinnerung sind. In der Vorrede sagt Ambros viel Schlimmes, darunter viel Wahres über das Feuilleton, welches er für ein Uebel unserer Zeit ansieht, wenngleich „für ein nothwendiges“. Ohne Zweifel hat es uns daran gewöhnt, sehr ernste Fragen „in leichtem Plauderton abgefertigt zu finden“. Aber liefern nicht gegen dies anklagende Vorwort die nachfolgenden Aufsätze selbst die kräftigste Einrede? Ambros contra Ambros? Beweisen sie nicht, daß im Feuilleton eine Fülle von gründlichem Wissen stecken kann, welches blos deßhalb höher aufgeschürzt und leichteren Trittes einhergeht, um einen größeren Leserkreis für Betrachtung wichtiger Kunstangelegenheiten zu gewinnen? Aus guten Feuilletons lernt nicht nur das große Publicum bisweilen mehr als aus dicken Büchern (schon weil es letztere überhaupt nicht liest), auch der Fachmusiker wird keines der Ambros’schen Feuilletons ohne bleibenden Nutzen gelesen haben. Ja, für Ambros selbst ist der Nutzen nicht ausgeblieben; seine Aufsätze in der „Neuen Freien Presse“ haben zuerst sein Talent in weiteste Kreise verbreitet, wo man ihn vielleicht nur dem Namen nach als Verfasser einer gelehrten „Geschichte der Musik“ kannte, die — wie man sich zuflüsterte — am Schlusse ihres dritten Bandes eben erst bei der Geburt Palestrina’s angelangt sei. Das Vergnügen an den geistreichen Musik-Feuilletons von Ambros hat nachträglich gewiß so Manchen auch zur Lectüre jenes Hauptwerkes verlockt — das ist der Nutzen des „nothwendigen Uebels“ für den Autor wie für den Leser. Wir möchten aber noch weitergehen. Ambros schriftstellerische Persönlichkeit ist nicht complet, nicht erkennbar ohne seine feuilletonistischen Arbeiten. Die Gabe unterhaltender, durch überraschende Aperçus und Citate gewürzter Darstellung, die ganz individuelle, gern ins Humoristische spielende Färbung derselben sind wesentlich feuilletonistische Vorzüge, welche, mit Ambros’ ganzer Persönlichkeit untrennbar verwachsen, doch nur im Feuilleton vollständig und vollberechtigt zu verwerthen sind. Seine Gelehrsamkeit weist ihn an strengwissenschaftliche Forschung, aber sein angeborenes Naturell gehört dem Feuilleton. Sein Styl ist glänzend, aber nicht glänzend wie polirter Stahl (Lessing, Ranke, Macaulay), sondern glänzend wie ein mit Gold, Perlmutter und vielerlei Edelsteinen ausgelegtes Schatzkästchen. Dieses luxurirende Element gehört zur Charakteristik unseres Autors; es kann mit außerordentlicher Gelehrsamkeit zusammentreffen, ist aber an sich ein vorwiegend feuilletonistisches Merkmal. Ambros’ Gedächtniß und Vielseitigkeit sind beinahe sprichwörtlich. Es gibt wenig Gebiete menschlichen Wissens, auf welchen Ambros nicht eine Menge Dinge gelernt hätte — um sie nie wieder zu vergessen. Gleich erfahren in der Musik wie in den bildenden Künsten, gleich sattelfest in der Bibel wie in den Pandekten, ebenso belesen in den römischen Classikern wie in französischer Novellistik, ist Ambros im Besitz eines ungeheuren Materials für seinen Witz. Drückt seine Feder auf irgend ein Schlagwort, so springen in seinem Gedächtniß sofort unzählige Ideen-Associationen auf; aus allen Zeiten und Ländern, in allen Sprachen und Formen stürzen die Citate, Anekdoten, Bilder, Vergleiche dem Schlagworte nach. Mitunter hat ein so unsterbliches Gedächtniß auch seine Gefahr. Es läßt seinen glücklichen Besitzer nicht leicht los, und solch lustige Jagd von Citaten und Gleichnissen macht es oft schwierig zu unterscheiden, wer das Wild sei und wer der Jäger. Wäre es dabei auf eitles Prahlen abgesehen, der Leser würde bei aller Bewunderung für Ambros’ Polyhistorie wahrscheinlich bald ermüden. In Wirklichkeit ist aber dieser Zug in Ambros’ ganzem Wesen begründet, untrennbar von seiner Persönlichkeit, und darum macht, was er schreibt, immer den Eindruck individueller Natürlichkeit und Aufrichtigkeit. Auf die Feuilletons von Ambros speciell paßt, was er vom deutschen Feuilleton im Allgemeinen behauptet: daß nämlich Jean Paul einen sehr großen Einfluß darauf geübt. Weit zweifelloser ist jedenfalls die überwiegende (mitunter recht beklagenswerthe) Einwirkung Heine’s auf die deutschen Feuilletonisten; nicht allzu viele haben sich davon zu befreien vermocht. Entscheidend für unseren Autor und den Werth seines neuesten Buches bleibt es, daß jedes seiner „Bunten Blätter“ dem festen, fruchtbaren Erdreich wissenschaftlicher Tüchtigkeit entsprießt. Man sehe nur (um von den musikalischen Skizzen anzufangen) die Artikel über Berlioz, Thalberg, Fétis an. Neu sind zwei Aufsätze: „Alessandro Stradella“ und „Robert Franz“, welche zu den besten der Sammlung gehören. Aus dem Gebiete der bildenden Kunst hat Ambros seine zuerst in der Neuen Freien Presse“ veröffentlichten Reiseskizzen aus Italien vermehrt durch zwei werthvolle Studien über Giotto und die „Geschichte des Antichrists“. Nach Deutschland wendet er sich mit einer geistreichen Parallelisirung von Schwind’s Melusina“ mit der gleichnamigen Ouvertüre von F. Mendelssohn, sodann mit einem trefflichen Aufsatz über die Holbein-Ausstellung in Dresden. Letzterer Kreuzzug zur Ehre der Dresdener Madonna wird Jeden erfreuen, der mit den bilderstürmenden „Darmstädtern“ nicht sympathisirt. Als ich im August 1869 mit lieben Freunden die Holbein’sche Madonna in der Dresdener Galerie begrüßte, wäre eine Prophezeiung der ihr im Jahre 1871 bevorstehenden leidenschaftlichen Angriffe mit ungläubigem Lächeln, vielleicht gar mit Hinauswurf erwidert worden. Ambros vergleicht diese neueste Kunstfehde mit dem berüchtigten Streit über die Echtheit des Mozart’schen Requiems und gibt seinem Votum folgenden treffenden Schluß: „Wäre ich der hohe Besitzer des Dresdener Bildes, so ließe ich — und das wäre die entsprechendste Strafe für die Kopfschüttler und Nasenrümpfer — an Stelle des Gemäldes, zur Nachahmung jener schwarzen Tafel im Dogensaale zu Venedig: „Hic est locus Marini Falleri decapitati pro criminibus“ die Inschrift anbringen: „Dies ist der Ort der ehemals für Holbein’s Werk gehaltenen Madonna“. Das Bild selbst aber ließe ich in meine Gemächer schaffen und würde täglich davor treten, und wenn ich mich an der idealen Schönheit, der Hoheit, Milde und Heiligkeit dieser Maria innigst erbaut und erhoben, würde ich alle gute und schlechte Kritik vergessen.“