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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2645. Wien, Donnerstag, den 4. Januar 1872

Oper und Concert.

(„Dinorah“ von Meyerbeer. — Liszt’s Oratorium „Christus“.)

Wien, 3. Januar.

Ed. H. Man hat im Hofoperntheater Meyerbeer’s komische Oper „Dinorah, oder: Die Wallfahrt nach Ploërmel“ wieder aufgenommen. Die Gelegenheit, das Scenische dieses Stückes im neuen Hause weit glänzender als vordem zur Geltung zu bringen, der Besitz eines guten Corentin in der Person des Herrn Pirk und einer gefeierten Gastsängerin (Fräulein Murska) für die Titelrolle, endlich der Umstand, daß die Oper durch mehrjährige Ruhe dem Publicum halb zur Novität geworden — das sind wol die Gründe gewesen für die Reprise der „Dinorah“. Manche andere Oper hätte den Vorrang verdient. Auch im neuen Hause weckte uns Dinorah“ wieder die alten Empfindungen der Langweile und des Widerwillens und zerstreute sie nur selten durch ungetrübt freundliche Eindrücke. Gleich die Ouvertüre wäre im Stande, einen musikalischen Heißsporn schon vor dem Beginne der Oper hinauszutreiben. Sie ist unter den Ouvertüren, was die ganze „Dinorah“ unter den komischen Opern: das raffinirteste Exemplar ihrer Gattung. Dieses ewige „O heilige Jungfrau!“-Singen hinter dem Vorhang versetzt uns in einen solchen Katzenjammer, daß wir jedesmal mit einer Art persönlicher Gereiztheit gegen den Componisten und die heilige Jungfrau den ersten Act erwarten. Und doch ist diese Crudität, welche in ein reines Instrumentalstück Singstimmen einschmuggelt als Aushängeschild für dessen dramatische Symbolik, auch nur einer der vielen Ausflüsse der aus Beethoven’s Neunter Symphonie verzapften modernen Theorie von dem „Ringen der Instrumental-Musik nach der Bestimmtheit der Sprache“ und ihrer „Unfähigkeit“, ohne Hinzutreten der Menschenstimme ein höchstes Ziel zu erreichen! Beethoven wollte durch seinen Chor einer tiefen inneren Bewegung Ausdruck verleihen, Meyerbeer speculirte damit auf einen neuen Effect, das ist zweierlei und die Compositionen der Beiden sind auch sehr zweierlei. Aber die Idee und die ästhetische Absolution für seine Programm-Ouvertüre mit eingebrockter Jungfrau-Hymne hat der auf die Zeichen der Zeit scharf aufhorchende Meyerbeer sich offenbar aus den Schriften der Zukünftler und ihren Auslegungen der Neunten Symphonie geholt. Die Ouvertüre ist zu Ende, es folgt eine Oper ohne Handlung und ohne Charaktere. Albernheit und blinder Zufall schleppen die Fabel mühsam weiter. Hätte der erste Act nicht sein reizendes Glöckchen-Terzett und der zweite seinen „Schattenwalzer“, wer hätte Lust, noch über den dritten auszuharren? Freilich ist die bewunderungswürdige Hand des Meisters in keiner Scene zu verkennen, aber diese Hand dirigirt in der „Dinorah“ nur leblose Puppen. Zu Anfang des dritten Actes erscheinen einige gar nicht zur Handlung gehörige Nebenfiguren: zwei Hirtenjungen, ein Jäger, ein Schnitter, Jedes mit einem frischen, originellen Liede — es wird uns zu Muthe, als träten jetzt erst wirkliche Menschen auf. Denn Hoël, Dinorah und den dudelsackpfeifenden Corentin kann man doch höchstens vom naturgeschichtlichen Standpunkte dazu rechnen. Wie schade um den Reichthum an musikalischem Esprit, welchen Meyerbeer auf dieses innerlich hohle, in seiner Totalität rettungslos verlorene Werk verschwendet hat!

Wenige Tage nach der „Dinorah“ hörten wir (im dritten Gesellschafts-Concerte) den ersten Theil eines neuen Oratoriums: „Christus“, von Franz Liszt. Es ist Zufall, daß wir von diesen Tondichtungen unmittelbar nach einander zu erzählen haben, aber ein Zufall, der uns auf eine merkwürdige Verwandtschaft der beiden — scheinbar so weit entlegenen — Werke aufmerksam macht. So wie Meyerbeer von der colossalen Pracht seiner großen Opern mit ihren Rittern und Prinzessinnen plötzlich zu dem Ziegenhirten eines bretonischen Dorfes flüchtete, so hat Liszt, verlockt von demselben Reiz des Contrastes, den Sprung vom glänzendsten Virtuosenthum zur Kirchenmusik gemacht und in seinem Christus“ sogar den seltsamen Versuch unternommen, die kindlich fromme Sprache der alt-kindlich fromme Sprache der alt-italienischen Kirchen-Componisten nachzusprechen. Ein ähnlicher psychologischer Proceß mag in beiden Meistern die Sehnsucht nach idyllischem Naturleben wachgerufen haben, die Sehnsucht des blasirten Städters nach den Gebirgsdörfern und den Armen im Geiste. Die beiden Prototype luxuriöser Instrumentalpracht, sie greifen schließlich zum kindischen Dudelsack; der Eine um einer tanzsüchtigen Hirtin, der Andere um dem Jesulein in der Krippe vorzublasen. Wie in der „Dinorah“, so ist auch im „Christus“ die gesuchte Einfalt und Naivetät nur eine neue Form des geistreichen Raffinements; die Seltsamkeit eines neuen Styles bedeckt als durchlöcherter Diogenesmantel die musikalische Hinfälligkeit und Abmagerung des Trägers. Beide Meister haben in den genannten Compositionen mit der größten Anstrengung ihr schwächstes Werk geschrieben. Weiter wollen wir den Vergleich nicht treiben, welcher schon deßhalb ansehnlich hinkt, weil er ein großes musikalisches Erfindungstalent (Meyerbeer) mit einem kleinen (Liszt) zusammenstellt. Meyerbeer’s „Dinorah“ bleibt immer noch das schwache Werk eines sehr starken Talentes, während Liszt’s „Christus“ den förmlichen Bankerott eines Tonkünstlers verlautbart, der zwar fremde Kapitalien jederzeit wunderbar zu verwalten und zu vermehren wußte, aber selbst immer nur eines sehr bescheidenen Wohlstandes genoß. Liszt’s „Weihnachts-Oratorium“, welches das letzte Gesellschafts-Concert vom Anfang bis zu Ende ausfüllte, bildet den ersten Theil des „Christus“ und ist auf lateinischen Text aus der Bibel und der katholischen Liturgie componirt. Der „Christus“ soll eine Oratorien-Trilogie werden; jener erste Theil ist somit nur eine Art religiöses „Wallenstein’s Lager“. Der Heiland erscheint noch nicht darin, sondern blos Hirten, Engel und die heiligen drei Könige. Wir können lediglich über diesen ersten Theil des (noch unveröffentlichten) Oratoriums berichten, und auch das nur nach dem allgemeinen Eindrucke einmaligen Hörens. Das aus fünf Nummern bestehende „Weihnachts-Oratorium“ von Liszt beginnt mit einer Einleitung (Rorate coeli) und einem langen Pastorale für Orchester, welches mit der Ansprache des Engels an die Hirten und dem Chor himmlischer Heerschaaren schließt. Diese erste Hälfte des Werkes ist es, wo Liszt den alt-alt-italienischen Kirchenstyl imitirt, bald an die Lamentationen und das Stabat mater von Palestrina erinnernd (das bekanntlich mit der unmittelbaren Aufeinanderfolge des A-dur-, G-dur-lich mit der unmittelbaren Aufeinanderfolge des A-dur-, G-dur- und F-dur-Dreiklanges anhebt), bald an den Venetianer A. Gabrieli, bald wieder an die Neapolitaner Leo und Durante. Liszt enthält sich fast jedes verminderten Accordes, modulirt vorwiegend in den alten Kirchentonarten, er vermeidet ängstlich den Leitton und die moderne Chromatik und spricht in reinen Dreiklängen. Der Engel trägt seinen Gesang allein, ohne jegliche Begleitung vor, in der psalmodirenden Weise alter Ritualgesänge. Der Frauenchor tritt gleichfalls alla capella hinzu und bewegt sich später lange Strecken hindurch unison oder in Octaven, gleichsam in absichtlicher Magerkeit an byzantinische oder altdeutsche Heiligenbilder erinnernd. So überaus geschickt dies Alles in archaistischer Tendenz gemacht ist, man wird nicht recht überzeugt davon, es fehlt der Glaube, nicht etwa in dem hochwürdigen Componisten — Gott bewahre! — aber im Hörer. Die ganze Haltung erinnert an Berlioz’Enfance de Jésus-Christ“, eine Legende, die freilich absichtlich über Zeit und Autor täuschen wollte, aber wenigstens unabsichtlich viel reizendere, wärmere Musik gab. Liszt’s Instrumental-Einleitung bewegt sich in langsamem 6/4-Tact, unsäglich lang und monoton, ohne rhythmisches Leben und melodisch ausgeprägte Ideen. Die sordinirten Geigen herrschen vor, später im eigentlichen Pastorale die Clarinetten und Oboën mit unermüdlicher Nachahmung der Hirtenschalmei. Man begrüßt freudig aufathmend die Posaunenklänge, welche (den Engel verkündigend) diesem frommen Gedudel ein Ende machen. Den Schluß des Engelchors bildet ein sehr ausgeführtes Hallelujah, das raschere Bewegung annimmt und in einer hochliegenden Geigenfigur etwas dem „Benedictus“ in Beethoven’s D-Messe Aehnliches beabsichtigt. Bis hieher ist das Liszt’sche Oratorium mehr oder minder unerquicklich, gequält, musiklos, bei aller beabsichtigten Einfalt raffinirt und von alterthümelnder Absicht durchkältet. Es folgt Nr. 3, das beste, ja einzige Musikstück im „Christus“, das eine Art erquickender Oase in der Wüste abgibt, der Hymnus: „Stabat mater speciosa“, eine im liberalsten Mönchslatein gereimte Parodie oder Umspielung des „Stabat mater dolorosa“. Der Hymnus (G-dur 4/4), vom Chor allein pianissimo intonirt, später unter Hinzutritt der Orgel, bewegt sich in langsamen, breit aushallenden Accorden, welche regelmäßig an bestimmten Texteinschnitten durch Fermaten auseinandergehalten werden. Diese klangvollen, im modernen Tonsystem modulirenden und übersichtlich rhythmisirten Accordfolgen wirken wohlthuend nach dem Früheren. Von einer reichen oder originellen Erfindung kann zwar auch hier kaum die Rede sein, aber es liegt doch in diesem ruhigen, schönen Ausklingen eine gewisse träumerische Innigkeit und eine natürliche musikalische Empfindung. Der 22 Strophen lange Hymnus ist breit ausgesponnen, wird jedoch durch den Wechsel von zwei- und dreitheiligem Tact aus allzu großer Monotonie gerettet. Wie fast in jeder Nummer, wendet Liszt auch hier die Beschleunigung des Tempos gegen den Schluß als Steigerungsmittel an; dabei kann er sich ein etwas opernhaftes Fortissimo auf die drei „Inflammatus et accensus“ nicht versagen, worauf die unmittelbar folgenden: „Obstupescit omnis sensus“ im leisesten Pianissimo geflüstert werden. Indessen ist, wie gesagt, der Hymnus weitaus das Natürlichste und Empfundenste im „Christus“ und wäre als Einzelnummer in einem gemischten Concerte eine bessere Wahl gewesen, als die Aufführung des ganzen Oratoriums.

Auf den „Hymnus“ folgt wieder ein langes Orchesterstück: „Hirtenspiel an der Krippe“, welches durch längere Zeit den Eindruck macht, als präludirte Jemand für sich, um bequem auszuruhen, lässig auf der Orgel. Bald aber treten Clarinetten und Oboën wieder drohend in den Vordergrund und beharren in ihren pastoralen Schalmei- und Dudelsack-Imitationen mit einer Hartnäckigkeit, welche den Hörer zur Verzweiflung treibt. Von einem plastischen Hervortreten und Sich-Aufbauen musikalischer Ideen keine Spur, von melodischer Triebkraft und rhythmischer Lebenswärme keine Spur, lauter Stückchen und Fädchen, welche durch rastloses Anstückeln mechanisch fortgesetzt werden; hier haben wir „unendliche Melodie“ in ihrer religiösen Phase als unendlichen Dudelsack. Die schwergeprüfte Geduld des Hörers bekommt nach überstandenem „Hirtenspiel“ als vierte und letzte Nummer einen „Marsch der heiligen drei Könige“ zu hören. Derselbe beginnt (etwa nach Art des Berlioz’schen Pilgermarsches) im gleichmäßigen Rhythmus stackirter Viertelnoten und scheint eine festere Form mit musikalischerem Inhalte zu versprechen. Das Versprechen wird aber nicht gehalten, das Stück bauscht sich wüst und ermüdend auf, die gesuchte Einfachheit des Anfanges weichtet derben Effecten. Palestrina dem Richard Wagner. Aus mißklingenden, anfang- und endlosen Phrasen, die wie nasser Seetang sich uns überall lästig anhängen, dröhnen zeitweilig Posaunen- und Pauken- Intraden auf, zum Schlusse streichen gar die Violinen unisono auf der G-Saite einen unendlichen geistlichen Manzanillobaum. Es ist auffallend, wie der Componist im Laufe des Oratoriums immer mehr aus dem anfangs gewählten Style fällt, wie die Einfachheit und Objectivität des Styles einer immer raffinirteren und moderneren Subjectivität Platz macht, immer zerfahrener und ungleicher wird, bis schließlich der Hörer ohne jeden tieferen Eindruck als den einer besonderen Langweile und Gereiztheit von dem neuen Oratorium scheidet.

Christus“ scheint mir das unerquicklichste Werk von Liszt zu sein, ein Fortschritt nur auf dem Wege der äußerlichen Künstelei und der inneren musikalischen Verarmung. Ueber die wunderliche Idee, diese Aneinanderreihung von zwei Chören und vier langen, schildernden Orchestersätzen, diese Decorations-Malerei ohne dramatische oder epische Handlung ein „Oratorium“ zu nennen, kann man allenfalls hinweggehen. Es läge am Ende wenig daran, wie Liszt das Ding benennt, wenn wir einen reichen Ideengehalt, plastische Gestaltungskraft, musikalische Schönheit und Ursprünglichkeit darin vorfänden. So aber stehen wir im Grunde doch nur vor einer geistreich grübelnden und experimentirenden Impotenz, die uns frieren macht. Die „Symphonischen Dichtungen“ von Liszt strahlten doch einen gewissen Glanz aus und boten in ihrer gedrängten Form, verständlichen Melodik und blendenden Instrumentirung etwas in seiner Art Eigenthümliches, woran man — absehend von den anspruchsvollen Programmen und dem allerdings sehr mäßigen musikalischen Kern — Interesse und stellenweise Vergnügen haben konnte. Auch die „Heilige Elisabeth“ brachte wenigstens einzelne Nummern, die durch ähnliche, nicht allzu wählerische Effecte wirkten. Im Vergleiche damit macht der „Christus“ (mit alleiniger Ausnahme der „Hymne“) den Eindruck des Trostlosen. Ich bin mir bewußt, mit keinerlei Voreingenommenheit über dieses Werk und seinen Autor zu schreiben. Im Gegentheile stehe auch ich unter dem Zauber der geistvollen, liebenswürdigen und wohlwollenden Persönlichkeit Liszt’s und der Erinnerung an sein hinreißendes Clavierspiel. Es wäre so recht eine Herzensfreude, die eigenen Schöpfungen eines Mannes zu loben, den wir als genialen Virtuosen, als hochgebildeten Musiker, als überall anregenden, aufmunternden und helfenden Musikgeist verehren. Allein aus diesem „Christus“ klingt ein allzu vernehmlicher Aufruf an den Kritiker, seine ehrliche Ueberzeugung offen auszusprechen. Am kürzesten geschähe dies meinerseits mit den Worten M. Hauptmann’s über ein früheres Liszt’sches Tonwerk: „Es ist von der Musik, die für mich nun einmal keine ist.“ Diese Empfindung scheint mir bei der großen Mehrzahl der Zuhörer stärker oder schwächer vorgewaltet zu haben. Nur nach der Hymne war meines Erachtens der Beifall ein aufrichtiger, d. h. der Musik selbst gespendeter; aller übrige Applaus dürfte der Person des im Saale anwesenden Componisten gegolten haben. Ohne diesen mächtigen Schild wäre die Reputation des neuen Oratoriums am 31. December kaum so unverletzt geblieben. Es waren harte Anklagen gegen die Direction der Musikfreunde zu hören, daß sie eines der vier Abonnements-Concerte dieser unerfreulichen Novität gewidmet und den „Christus“ nicht wenigstens als außerordentliches Concert für specielle Liebhaber angesetzt hatte. Keineswegs vermag der Applaus, mit welchem man am Schlusse Franz Liszt ehrte, uns über die Lebensunfähigkeit und das wahre Schicksal seiner neuesten Tondichtung zu täuschen. Liszt’s Clavier-Compositionen, welche als Markstein in der Geschichte dieses Instrumentes eine neue Phase bezeichnen, werden in ihren glücklichsten Momenten (Ungarische Rhapsodie, Es-dur-Concert etc.) sich lange in Ansehen und voller Wirkung erhalten. Hingegen machen seine großen Chor- und Orchester-Compositionen jetzt schon nur halbe Wirkung, wo der Zauber von Liszt’s Anwesenheit fehlt; nach seinem Tode werden sie noch eine zeitlang, von dem Abglanz seiner Persönlichkeit wie von einem scheidenden Sonnenstrahle vergoldet, hier und dort aufblitzen, um der folgenden Generation nur mehr dem Namen nach bekannt zu sein. Mit dem letzten Menschen, welcher sich einst rühmen wird, Liszt noch persönlich gekannt zu haben, dürfte auch der letzte Beifallsklatscher seiner Oratorien zu Grabe gehen.