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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3779. Wien, Donnerstag, den 4. März 1875

[1]

Concerte.

(Concert von Richard Wagner. — Gesellschafts-Concert. — Brahms’ „Deutsches Requiem“.)


0004Ed. H. In der „Großen Musik-Aufführung“, welche
0005Richard Wagner zum Vortheil seines Bayreuther Theaters
0006persönlich dirigirte, hörten wir außer dem bekannten „Kaiser-
0007marsch“ drei Bruchstücke aus der „Götterdämmerung“. Ein
0008bedenkliches Unternehmen, dergleichen Fragmente, nicht nur
0009herausgerissen aus einem uns gänzlich unbekannten Zusam-
0010menhang, sondern überdies entkleidet ihrer scenischen An-
0011schaulichkeit, im Concert aufzuführen. Es widerspricht oben-
0012drein schnurstracks dem oft proclamirten obersten Grundsatz
0013der Wagner’schen Kunstphilosophie. Nach Heine’s Ver-
0014sicherung gibt es jedoch zwei Verlegenheiten, in welchen keine
0015Philosophie hilft: Liebe und Geld. Die Liebe — wahr-
0016scheinlich selbst bei Wagner keine unendliche Melodie —
0017dürfte ihn kaum mehr plagen; hingegen scheint der „Nibe-
0018lungen“ Geldnoth unendlich, und so muß wol der Pontifex
0019maximus durch persönliche Intervention herbeischaffen, was
0020an Peterspfennigen zu wenig eingeht. Wir sind nicht so
0021kindisch, Wagner diese ästhetische Inconsequenz zum Vorwurf
0022zu machen; er hat Recht, das Eisen der Volksgunst zu
0023schmieden, so lange es glüht. Und welch einladende Tem-
0024peratur gerade Wien in diesem Punkte erreicht hat, beweist das
0025enorme finanzielle Erträgniß des jüngsten Wagner-Concerts.


0026Die „Götterdämmerung“ bildet bekanntlich das letzte
0027Stück des durch vier Abende spielenden Musikdramas „Der
0028Ring des Nibelungen“. Ein so außerordentliches Unterneh-
0029men wie dieses Bayreuther, das sich ja auf den Standpunkt
0030des Niedagewesenen stellt, weist eigentlich jeden vorhandenen
0031Maßstab der Beurtheilung zurück. Da jedoch die Form der
0032dramatischen Trilogie sowol in der altgriechischen als in der
0033modernen deutschen Literatur vorkommt, so drängt sich die
0034Analogie unwillkürlich auf und für uns zugleich das
0035treffende Wort Grillparzer’s, womit er (in der Selbst-
0036biographie) seine Gestaltung des „Medea“-Stoffes tadelt. 
0037„Die Trilogie oder überhaupt die Behandlung eines dra-
0038matischen Stoffes in mehreren Theilen,“ sagt Grillparzer,
0039„ist für sich eine schlechte Form. Das Drama ist immer
0040Gegenwart, es muß Alles, was zur Handlung gehört, in
0041sich enthalten.“ Fehlerhaft nennt er deßhalb auch die Form
0042von Schiller’s „Wallenstein“, unbeschadet der Vortrefflichkeit
0043dieses Meisterwerks. Wird sich das nicht an Wagner’s „Nibe-
0044lungenring“ in noch höherem Grade erwahren? Wie, nach
0045Grillparzer, „Wallenstein’s Lager“ völlig überflüssig ist und
0046Die Piccolomini“ nur etwas sind, weil „Wallenstein’s Tod“
0047darauf folgt, so ist das „Rheingold“ überflüssig, und die zwei
0048folgenden Stücke („Walküre“ und „Siegfried“) mit ihrem
0049entsetzlich dürftigen Inhalt sind nur etwas, weil die reich-
0050bewegte Handlung der „Götterdämmerung“ darauf folgt.
0051Ich spreche hier nur von dem Dramatischen, abgesehen von
0052der Musik, die sich ja in der „Walküre“ hoch über „Rhein-
0053gold“ und „Siegfried“ erhebt. Auf die unerträgliche Dehnung
0054und Stoffarmuth der vorangehenden Theile muß die „Götter-
0055dämmerung“, welche an Handlung fast doppelt so reich ist,
0056als alles Frühere zusammengenommen, dem Zuschauer wie
0057ein Labsal erscheinen, falls nach dem aufreibenden Genuß
0058der ersten drei Abende überhaupt noch Jemand ein anderes
0059Verlangen haben sollte, als sich hinlegen und sterben. Wenn
0060man bedenkt, daß die Hörer durch vier lange Abende nur
0061dem angespanntesten declamatorischen Pathos und dem be-
0062rauschendsten Orchesterpomp preisgegeben sind, ohne mehr-
0063stimmige Ensembles und Chöre, ja in den beiden ersten
0064Acten des „Siegfried“ sogar ohne Frauenstimmen, dann wird
0065man unsere Besorgniß nicht leichtfertig schelten.


0066Das Wagner-Concert brachte zuerst das Orchester-
0067vorspiel zur „Götterdämmerung“ (die drei Nornen auf dem
0068Walkürenfels das Seil des Schicksals flechtend) — ein
0069düsteres Nachtstück, das Wagner’s ungemeines Talent für
0070musikalische Decorations-Malerei neuerdings bekundet. Der
0071Abschied zwischen Siegfried und Brunhilde schließt sich an.
0072Betrachtet man einzelne Phrasen dieses großen Duetts für
0073sich, losgelöst, so findet man sie voll Prägnanz und Leiden-
0074schaft; im Zusammenhange gleicht aber dieser sich fortwäh-
0075rend zur Ekstase aufstachelnde Declamations-Gesang einer 
0076Reihe von ausdrucksvollen Interjectionen, die keine zusam-
0077menhängende Rede bilden. Anfangs lebhaft angeregt, verfällt
0078der Hörer immer mehr einer Müdigkeit, die schließlich in
0079völlige Theilnahmslosigkeit übergeht; er vermag mit bestem
0080Willen nicht mehr aufmerksam zu folgen und wird zerstreut.
0081Wohlthuend wirkt nach dem Duett das Orchesternachspiel
0082mit der Hornfanfare des davonreitenden Siegfried; das Stück
0083hat am meisten musikalischen Reiz und Zusammenhang,
0084namentlich durch den hübschen canonischen und contrapunkti-
0085schen Zierrath, der jenen lustigen Hornruf umrankt. Das
0086nächste Bruchstück war „Siegfried’s Tod“. Was der Ster-
0087bende mit erstaunlicher Lungenkraft singt, erscheint fast über-
0088flüssig in dem blendenden Gewoge des Orchesters, das hier
0089mit vier Harfen, Posaunen, Pauken und einschneidendsten
0090hohen Geigentönen den acutesten Nervenreiz hervor-
0091ruft. Bedeutender und ergreifender als Siegfried’s
0092Sterbegesang ist der Trauermarsch, der nun um den Helden
0093angestimmt wird; hier ist mehr als bloßer Pomp. Das Con-
0094cert schloß mit dem dritten und größten Fragment: Brun-
0095hildens Monolog an der Leiche Siegfried’s. Sie schickt die
0096Raben heim und schleudert die Fackel in den Scheiterhaufen.
0097Wie das Krächzen und Auffliegen der Raben durch gestopfte
0098Trompetentöne und schwirrende Figuration aller Geigen ver-
0099sinnlicht ist, dann das Prasseln des Feuers durch raffinir-
0100teste Behandlung der Blech- und Schlag-Instrumente, das
0101gehört zu den auserlesensten Kunststücken des in solchen Ma-
0102lereien unübertrefflichen Meisters. Brunhildens Gesang stei-
0103gert sich zur äußersten Exaltation; immer in der höchsten
0104Tonlage und gewaltsamsten Anstrengung muß ihre Stimme
0105den Orcan des aufgewühlten Orchesters übertönen. Einen
0106Augenblick lang schweigt das Orchester zu einer zarten Stelle
0107Brunhildens, und wir sind gerührt wie von einer über-
0108irdischen Offenbarung. Ich mußte an Kaulbach denken
0109welcher bei der ersten Aufführung der „Meistersinger“ in
0110München den ganzen Abend schweigend dasaß, bis im dritten
0111Acte die zwei langausgehaltenen C-dur-Accorde vor Wal-
0112ther’s Preislied kamen. „Das ist schön!“ rief er warm und
0113ernsthaft aus. Und nun, nach Brunhildens Tod, folgt die
0114Götterdämmerung, das Weltenende; krachend entfesselt Wag[2]
0115ner alle Dämonen des Orchesters und zwingt uns dergestalt
0116nieder, daß wir kaum mehr die Technik zu bewundern ver-
0117mögen, mit der das Alles gemacht ist.


0118Kritische Anmaßung wäre es, also herausgerissene Sce-
0119nen aus einer Concert-Aufführung und nach einmaligem Hören
0120beurtheilen zu wollen. Nur ganz allgemein und subjectiv
0121läßt sich solch ein erster Eindruck schildern. Die Bruchstücke
0122aus der „Götterdämmerung“ machten mir einen ungewöhn-
0123lichen, geistig anregenden und sinnlich blendenden Eindruck,
0124aber keinen tiefen und nachhaltigen. Diese Musik wirkt im
0125günstigsten Falle berückend wie ein Zauber, aber nicht be-
0126glückend wie ein Kunstwerk. Auf der Bühne rückt das Alles
0127natürlich in ein ganz anderes Licht, in eine andere Perspec-
0128tive; die Musik, die sich uns im Concertsaale als Haupt-
0129sache, ja als alleinige gegenüberstellt, wird im Theater, nach
0130Wagner’s Absicht, nur Ein Effectmittel unter vielen. Aus
0131diesem Gesichtspunkte müssen wir der Composition eine
0132unvergleichliche Gegenständlichkeit und blendende Farbengluth
0133nachrühmen. Man braucht nur das Textbuch zu lesen, um
0134Wagner’s malerisches Auge und seinen genialen Sinn für
0135den Theater-Effect zu bewundern. Wie ist das Alles nicht
0136nur ausgedacht, sondern leibhaftig angeschaut ! Wie Siegfried 
0137durch die Flammen gegen den Rhein reitet, nach dem Ab-
0138schied von Brunhilde, wie diese bei Siegfried’s Leichenfeier sich
0139auf das Roß schwingt und in den brennenden Scheiterhaufen
0140sprengt — das sind Bilder, denen nichts Aehnliches auf der Bühne
0141vorangegangen ist. Dieser Mission entsprechend ist Wagner’s
0142Musik vorzugsweise malend, decorativ, das Orchester in
0143seinem höchsten Klangraffinement die Hauptsache; die Sing-
0144stimmen wechseln zwischen monotoner Declamation und Ex-
0145plosionen maßloser Leidenschaft. Diese stammelnde Brunst
0146inmitten des Gewoges von betäubenden und nervenaufrei-
0147zenden Instrumental-Effecten vermag man nur kurze Zeit
0148ohne Erschlaffung anzuhören. Die meisten Hörer fühlten
0149sich schon von den drei Bruchstücken der „Götterdämme-
0150rung“ mehr oder minder ermattet; wer vermöchte vier
0151Abende hinter einander diesen Sturm des Außersichseins
0152auszuhalten? Die Diction der „Götterdämmerung“ ist
0153weniger gewaltsam und ungeschickt als im „Rheingold“,
0154obwol in ihrer alterthümelnden Ziererei noch immer ver
0155schroben genug. Wendungen wie „Ich geize ihn“, „Mich
0156hungert sein“, „Schweigt eures Jammers jauchzenden
0157Schwall“ (Accusativ) und andere streifen ans Komische.
0158Den musikalischen Styl der „Götterdämmerung“ kennt man
0159aus den früheren Theilen, er ist vollständig in Manier
0160erstarrt. Wagner ist Manierist, ein geistvoller und genialer,
0161aber doch ein Manierist. Seine Manier des Declamirens,
0162Modulirens, Harmonisirens nöthigt er jeglichem Stoff auf.
0163In diesem Styl vermöchte er wol ohne viel Kopfzerbrechen
0164und ohne übermäßige Begeisterung noch zehn Opern zu
0165componiren. Obwol in dieser Musik die leidenschaftlichste
0166Exaltation sich noch nicht zu genügen scheint wird es
0167uns doch schwer, überall an ihre Wahrheit und innere Nö-
0168thigung zu glauben. Sie erinnert an manche Poesien von
0169Victor Hugo, Ausgeburten innerer Kälte, welche sich
0170glühend und begeistert stellen. Die Musik zur „Götter-
0171dämmerung“ charakterisirt ihren Autor neuerdings als eine
0172glänzende Specialität, eine Specialität mehr neben als in
0173der Musik. Es ist undenkbar, daß diese Methode, wie
0174Wagner meint, fortan die alleingiltige des Opernstyls sein
0175werde, „das Kunstwerk der Zukunft“ schlechtweg. Ist eine
0176Kunst in der Periode äußersten Luxurirens angelangt, dann
0177befindet sie sich im Niedergang, nicht im Aufsteigen. Wag-
0178ner’s Opernstyl bewegt sich nur mehr in Superlativen; kein
0179Superlativ hat aber eine Zukunft, er ist das Ende, nicht
0180der Anfang. Richard Wagner hat sich, vom „Lohengrin“ ab-
0181wärts, einen neuen Weg gebahnt, mit Lebensgefahr, aber
0182dieser Weg ist nur für ihn; wer ihm nachgehen will, bricht
0183den Hals, und das Publicum wird diesem Unfall gleichgiltig
0184zusehen.


0185Von der glänzenden äußeren Physiognomie des Wagner-
0186Concertes mit seinen Lorbeerkränzen, Huldigungen und Ab-
0187schiedsreden hat ein anderer Referent bereits erzählt. Der
0188Beifall war allerdings sehr stürmisch und anhaltend, aber
0189er kam nicht augenblicklich; er flog nicht wie der Blitz aus
0190der entzündeten Pulvertonne, sondern wurde erst nach einigen
0191Secunden als prächtiges Feuerwerk abgebrannt. Dieser Unter-
0192schied zwischen dem jüngsten und den früheren Wagner-
0193Concerten („Walküre“, „Feuerzauber“) wurde gleichmäßig
0194und unabhängig von verschiedenen Zuhörern beobachtet. Die 
0195Aufführung dieser die höchsten Anforderungen stellenden
0196Compositionen gelang, unter Wagner’s eminenter Leitung,
0197ganz bewunderungswürdig. Eine in jedem Sinne heroische
0198Leistung war die Brunhilde der Frau Materna, welche
0199auf diesem Felde kaum eine Rivalin finden dürfte. Der
0200Tenorist Glatz (vom Pester Theater) stand als Siegfried 
0201entschieden hinter ihr zurück. Seine Stimme klingt jung und
0202kräftig, aber etwas dumpf in der Tiefe und Mittellage,
0203auch entbehrt sie noch zur Stunde des feineren Schliffes.


0204Das letzte Gesellschafts-Concert begann mit zwei
0205sehr entbehrlichen Nummern: einem von B. Scholz matt
0206instrumentirten Bach’schen Präludium und der bekannten
0207Bravour-Arie aus Mozart’s Cantate „II Davidde peni-
0208tente“. So sehr auch Frau Wilt damit glänzt, wir bitten
0209doch, dieses unerträglich zopfige Stück endlich aus dem
0210Repertoire zu streichen, und zwar aus Pietät für Mozart,
0211nicht aus Mangel daran. Um so dankbarer begrüßten wir
0212die dritte, größte Nummer des Concerts: das „Deutsche
0213Requiem“ von Brahms, das einen großartigen Erfolg
0214feierte. Ich mußte der ersten, bruchstückweisen Aufführung
0215dieses Werkes im Jahre 1867 gedenken und der Opposition,
0216die es im Publicum wie in der Kritik fand. Damals war
0217es namentlich der lange Orgelpunkt im dritten Satz, der,
0218von einem Paukenwütherich erbarmungslos gehämmert, das
0219Publicum verdroß und eine Anzahl grauer Fanatiker zu
0220impertinentem Zischen begeisterte. „Brahms,“ so schrieb ich
0221damals an gleicher Stelle, „braucht sich darob nicht zu
0222grämen. In wenigen Jahren wird das Publicum sein
0223Requiem mit ungetheilter Würdigung aufnehmen, und wer-
0224den selbst die Concertdiener vom Hörensagen hinlänglichen
0225Respect dafür haben, um etwa aufzischende musikalische
0226Vipern vor die Thür zu setzen.“ Das war sehr zuversichtlich
0227gesprochen, aber der Erfolg hat mir Recht gegeben. Schon
0228bei der ersten vollständigen Aufführung vor vier Jahren
0229fand das „Deutsche Requiem“ eine liebevolle, un-
0230getrübte Aufnahme, am letzten Sonntag erlebte es eine
0231enthusiastische. Selten habe ich ein so andächtig lauschendes,
0232so tief ergriffenes Auditorium gesehen. Welch seltsames Zu-
0233sammentreffen, daß knapp nacheinander, in demselben Saale,
0234Wagner’sGötterdämmerung“ und Brahms’Deutsches [3]
0235Requiem gespielt wurden; die Hauptwerke der beiden her-
0236vorragendsten Tondichter der Gegenwart! Größere Gegen-
0237sätze in der Musik zweier Zeitgenossen gleicher Nation sind
0238kaum denkbar. In Brahms’ Requiem sehen wir mit den
0239reinsten Kunstmitteln das höchste Ziel erreicht, Wärme und
0240Tiefe des Gemüths bei vollendeter technischer Meisterschaft,
0241nichts sinnlich blendend und doch Alles so tief ergreifend;
0242keine neuen Orchester-Effecte, aber neue, große Gedanken
0243und bei allem Reichthum, aller Originalität die edelste
0244Natürlichkeit und Einfachheit. Bei Wagner jeder Satz in
0245Manier getaucht, bei Brahms kein einziger. Wagner 
0246fängt auf den Trümmern aller früheren Musik die seinige
0247ganz neu an; Brahms glaubt anständiger Vorfahren,
0248wie Bach und Beethoven, sich nicht schämen zu sollen.
0249Während die Musik bei Wagner die Innerlichkeit ihrer
0250Herrschaft aufgegeben hat, um Malerei zu werden, bleibt
0251sie bei Brahms die eigenste Sprache eines starken Gemüths
0252und zeigt uns, wie eine Tondichtung alle Herzen er-
0253schüttern kann, ohne die Grundfesten der Musik zu
0254erschüttern. Man darf es heute ruhig aussprechen,
0255daß seit Bach’s H-moll-Messe und Beethoven’s 
0256Missa solennis nichts geschrieben worden, was auf
0257diesem Gebiete sich neben Brahms’Deutsches Requiem“
0258zu stellen vermag. Ja, unserem Herzen steht letzteres noch
0259näher, schon deßhalb, weil es jedes confessionelle Kleid, jede
0260kirchliche Convenienz abstreift, statt des lateinischen Ritual-
0261textes deutsche Bibelworte wählt, und zwar so wählt, daß
0262die eigenste Natur der Musik und damit zugleich das Ge-
0263müth des Hörers in intimere Mitwirkung gezogen wird.
0264Der Glücklichste, der nie einen Verlust erfahren, wird das
0265Deutsche Requiem“ mit jener inneren Seligkeit genießen,
0266welche nur die Schönheit gewährt. Wer hingegen ein theu-
0267res Wesen betrauert, der vermesse sich nicht, bei den über-
0268waltigend rührenden Klängen der Sopran-Arie trockenen
0269Auges zu bleiben. Aber er wird erfahren, wie verklärend und
0270stärkend der reinste Trost aus dieser Musik fließt. Brahms 
0271soll das Requiem, selbst in tiefster Gemüthsbewegung,
0272nach dem Tode seiner zärtlich geliebten Mutter geschrieben
0273haben. Ein schöneres Denkmal hat kein Sohn seiner Mutter
0274gesetzt — und sich selbst.