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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3889. Wien, Donnerstag, den 24. Juni 1875

[1]

Verdi in Wien.

(Das Requiem. „Aïda“.)


0003Ed. H. Das italienische Nachspiel unserer Musiksaison
0004ist verklungen. Lorbeergekrönt hat Verdi mit seinen Sängern
0005Wien verlassen, und tiefe Stille liegt wieder auf unserem
0006Opernhause. Nach friedlichen Siegen ein Waffenstillstand
0007für zwei Monate. Viermal dirigirte Verdi sein Requiem, zwei-
0008mal seine „Aïda“ im Hofoperntheater, jedesmal triumphirend
0009über die Ungunst heißer Sommerszeit und hoher Eintrittspreise.
0010Das Publicum empfing das Requiem mit ungetheilter Be-
0011geisterung, unsere gebildetsten Kenner und Liebhaber, worunter
0012ein stattliches Contingent geschworner Verdi-Gegner, stimm-
0013ten rückhaltlos in den allgemeinen Beifall ein. Es ist eine
0014Freude, solch allgemeine herzliche Hingabe an einen künstle-
0015rischen Eindruck zu beobachten, eine Freude, die uns dies-
0016mal noch erhöht ward durch das einstimmig anerkennende
0017Urtheil der Wiener Journalistik. Verdi, selbst im Opern-
0018fach so schlecht angeschrieben in deutschen Landen, mußte als
0019Kirchen-Componist auf schneidigste Opposition gefaßt sein,
0020umsomehr, als es zu den Lieblingspassionen teutonischer
0021Kritik gehört, dem Publicum seine Freuden nachträglich
0022durch ein gnadeloses Mäkeln an Nebendingen und Kleinig-
0023keiten zu verleiden. In unserer Zeit der lauen Achtungs-
0024erfolge ist aber ein rechter Herzenserfolg so selten, daß auch
0025der Kritiker ihn — so glauben wir — gerne mitfeiern mag,
0026sollten auch einige Ungehörigkeiten bei dem Fest unterlaufen
0027und einige Enthusiasten allzu schwärmerisch toastiren. Verdi’s
0028Requiem ist ein schönes, tüchtiges Werk, eine warme, aus
0029dem Herzen strömende Musik von würdigem Ernst, sorg-
0030fältiger Ausführung und seltener Klangschönheit. Ein Werk,
0031das seinem Schöpfer Ehre macht, dem man solch
0032künstlerische Vertiefung und Concentration nicht zuge-
0033traut hätte. Manches, was aus Anlaß der „Aïda“
0034über diese unerwartete Läuterung der Verdi’schen Muse ge-
0035sagt wurde, paßt auch hieher, nur möchte ich gleich be-
0036merken, daß mir „Aïda“ in Erfindung und Ausführung
0037viel bedeutender erscheint, als das Requiem. Verdi ist eben
0038geborner Theater-Componist, seine Musik von Haus aus
0039dramatisch; wenn er in einem Requiem beweist, was er 
0040auf fremdem Boden vermag, so bleibt er doch weit stärker
0041auf seinem eigenen. Er kann auch im Requiem den dramati-
0042schen Componisten nicht verleugnen; Trauer und Bitte, Ent-
0043setzen und hoffende Zuversicht, sie sprechen hier eine leiden-
0044schaftlichere und individuellere Sprache, als wir sie in der
0045Kirche zu hören gewohnt sind. Die „Kirchlichkeit“ des Verdi’-
0046schen Requiems ist es zunächst, was Anfechtung erfährt. Und
0047doch gibt es wenig Forderungen, über welche zu richten so
0048bedenklich, so unsicher wäre, wie diese. Die subjective Reli-
0049giosität des Künstlers muß man von vornherein aus dem
0050Spiele lassen; die Kritik ist keine Inquisition. Zudem bietet
0051die Gläubigkeit des Tondichters keineswegs Gewähr für die
0052religiöse Würde seines Werkes und umgekehrt. Kann man
0053die Frömmigkeit Haydn’s und Mozart’s anzweifeln? Gewiß
0054nicht. Und dennoch dünkt uns ein großer Theil ihrer Kirchen-
0055musik sehr, sehr weltlich. Verglichen mit dem Jahrmarkts-
0056jubel so manches „Gloria“, mit den Opernschnörkeln so
0057manches „Benedictus“ und „Agnus“ dieser Meister, klingt
0058Verdi’s Requiem noch heilig. Aehnlich verhält es sich mit
0059der Kirchenmusik vieler berühmter älterer Italiener, deren
0060„Classicität“ auf Treu’ und Glauben angenommen und, mit
0061jedem Decennium weniger geprüft, weitergegeben wird.
0062Pergolese, Lotti, Jomelli, Salieri und so viele andere
0063Celebritäten Italiens, deren großes Talent und deren Kunst-
0064fertigkeit wir hochschätzen — was für zopfigen Zierrath
0065und weichliche Opernmelodien haben sie nicht bona fide in
0066ihre Kirchen-Compositionen aufgenommen! Wir müßten, um
0067auf die ungetrübte, unverweltlichte Reinheit katholischer
0068Kirchenmusik zu gelangen, bis auf Palestrina zurückgehen
0069oder vielmehr — da ja auch Palestrina vom streng kirch-
0070lichen Standpunkt manchen Vorwurf erfahren — bis auf den
0071nackten gregorianischen Kirchengesang. Die Hauptsache bleibt,
0072daß der Componist mit der Ehrfurcht vor seiner Aufgabe
0073die Treue gegen sich selbst bewahre. Dieses Zeugniß der
0074Ehrlichkeit muß man Verdi zugestehen; kein Satz seines
0075Requiems, der leichtfertig, erlogen oder frivol wäre. Er ver-
0076fährt ungleich ernster, strenger, als Rossini in seinem
0077Stabat mater“, so wenig die Verwandtschaft dieser zwei
0078Werke zu leugnen ist. Beide Tondichter haben sich eben bis
0079in ihre alten Tage ausschließlich im Opernstyl bewegt; daß
0080Rossini’s eigentliches Feld stets die komische Oper gewesen,
0081Verdi’s hingegen die ernste, pathetische, gedeiht dem Letzteren 
0082zum Vortheil in seinem Requiem. An süßem Reiz der
0083Melodien ist Rossini’s „Stabat“ dem Verdi’schen Requiem 
0084überlegen, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf, wo
0085eigentlich von einem Unterliegen zu sprechen wäre. Verdi 
0086hat, an die bessere neapolitanische Kirchenmusik anknüpfend,
0087weder die reicheren Kunstmittel seiner Zeit, noch das leb-
0088haftere Feuer seines Naturells verleugnet; er hat wie so
0089mancher fromme Maler auf dem Heiligenbild sein eigenes
0090Porträt angebracht. Auch die religiöse Andacht wechselt in
0091ihrem Ausdruck; sie hat ihre Länder, ihre Zeiten. Was uns
0092in Verdi’s Requiem zu leidenschaftlich, zu sinnlich erscheinen
0093mag, ist eben aus der Gefühlsweise seines Volkes heraus
0094empfunden, und der Italiener hat doch ein gutes Recht, zu
0095fragen, ob er denn mit dem lieben Gott nicht Italienisch 
0096reden dürfe?


0097Spricht aus einem modernen Kirchenstück ehrliche Ueber-
0098zeugung und ernste Schönheit, dann mögen wir uns zufrie-
0099dengeben; die Frage nach der specifisch kirchlichen Quali-
0100fication wird täglich immer bedenklicher und haltloser. Es
0101ist Zeit, sich einmal darüber klar zu werden. Angesichts von
0102geistlichen Compositionen denken wir heutzutage doch vor
0103Allem an das Kunstwerk; was die Kirche als solche
0104daran zu loben oder zu tadeln finde, ist uns sehr gleichgil-
0105tig. Das Interesse der Kirche wird immer auf die Unter-
0106ordnung des künstlerischen Ausdruckes unter den dogmati-
0107schen abzielen und von dem Künstler verlangen, daß er
0108durch die selbstständige Schönheit seines Werkes nicht die
0109Aufmerksamkeit der Gemeinde allzusehr ablenke von dem
0110kirchlichen Vorgang. Wir Kinder der Zeit erblicken hinge-
0111gen in dem „Stabat mater“, dem Requiem, selbst im Meß-
0112text eine Dichtung, allerdings eine durch Inhalt und Tra-
0113dition geheiligte Dichtung, welche der Componist als Stoff
0114für seine Kunst verwendet. Was er daraus schafft, gilt uns
0115für ein Werk freier Kunst, welches das Recht seiner Existenz
0116in sich selbst, in seiner künstlerischen Größe und Schönheit
0117trägt, nicht in seiner kirchlichen Zweckmäßigkeit. Wir denken
0118mit Einem Worte bei solchen Schöpfungen unserer modernen
0119Meister an den Musiksaal, nicht an die Kirche, und diese
0120Meister denken ebenso. Das war ganz anders in früheren
0121Zeiten. Haydn und Mozart kam es niemals in den Sinn,
0122daß ihre Messen anderswo als im Gotteshause aufzuführen
0123seien. Sie schrieben ihre Kirchenmusik für den Gebrauch der [2]
0124Kirche. Erst Beethoven, mit dem auch auf diesem Punkte
0125eine neue Zeit hereinbricht, hat — 1824 — drei Sätze seiner
0126Missa solennis“ zuerst im Kärntnerthor-Theater aufführen
0127lassen. Er hatte zwar die Messe, wie bekannt, ursprünglich
0128für eine große kirchliche Feier bestimmt, aber der musika-
0129lische Reichthum der Composition wuchs ihm so mächtig über
0130den kirchlichen Rahmen hinaus, daß er damit selbst seine
0131Zuflucht zum Concertsaal nahm. Und so wie Beethoven’s
0132Festmesse, haben auch die leicht aufzuzählenden Kirchen-Compo-
0133sitionen, welche wir von namhaften modernen Meistern be-
0134sitzen, ihre Heimat im Concertsaal gefunden: Rossini’s 
0135Stabat“, Liszt’sGraner Messe“, die Requiems von
0136R. Schumann, Brahms, Lachner und Verdi. Auf
0137zwanzig Concert-Productionen dieser Werke kommt vielleicht
0138Eine Kirchenaufführung, und diese gilt dann ausdrücklich
0139als Concert in der Kirche, das sich zunächst an die Musik-
0140freunde wendet, nicht an die Beter. In dem Maße als die
0141Kirche ihre führende Macht im Leben eingebüßt und ihre
0142Autorität auf einen immer kleineren Kreis von Geistern
0143eingeschränkt hat, entwickelte sich auch in den Künstlern,
0144vielleicht halb unbewußt, die Ueberzeugung, daß sie mit ihren
0145geistlichen Compositionen die ästhetische Andacht, nicht
0146die kirchliche erwecken wollen. Die Kirche, die sich der
0147Tonkunst als wichtigsten Cultusmittels jederzeit bedient hatte,
0148konnte es natürlich nur zufrieden sein, daß ihre Gläubigen
0149ästhetische und kirchliche Andacht verwechselten. Aber die
0150Kunst arbeitete immer spärlicher für die Kirche. Die Zeit
0151ist vorüber, da jeder große Componist der Kirche bedurfte,
0152um für voll zu gelten. Heute täuscht man sich nicht mehr
0153darüber, daß weder die Kirche für ihre gottesdienstlichen
0154Zwecke genialer Tondichter bedarf, noch umgekehrt. Man
0155gesteht sich ein, daß für die Kirche das Alte ausreicht und
0156das praktisch Tüchtige, ja Gewöhnliche oder Alltägliche den-
0157selben, wo nicht besseren Dienst leiste, als Neues. Speciell
0158für die Kirche und nur für die Kirche componirt heutzutage
0159der musikalische Lehr- und Nährstand, die Chorregenten,
0160Domcapellmeister und sonstigen geschulten Routiniers, deren
0161kleines Talent die große Oeffentlichkeit nicht verträgt. Unsere
0162großen Tondichter componiren wol hin und wieder ein Stück
0163aus der Kirche, aber im Grunde nicht für die Kirche.


0164Auch Verdi hat sein Requiem, nachdem es einmal
0165zu Ehren des berühmten Dichters der „Promessi sposi“, 
0166Alessandro Manzoni, im Mailänder Dome seine Schuldig-
0167keit gethan, auf Reisen genommen, um es in den Concert-
0168sälen von Paris, London und Wien derjenigen Gemeinde
0169vorzuführen, welcher es in Wahrheit gewidmet war; der
0170musikalischen. Die besten Partien des Werkes sind jene, in
0171welchen Verdi seinem Gefühl und Talent am wenigsten
0172Zwang auferlegt hat; am schwächsten gerieth alles dasjenige,
0173was sich der strengen Observanz gewisser kirchlicher Tradi-
0174tionen anbequemt: das Contrapunktische und vor Allem die
0175Fugen. Es standen ihrer ursprünglich drei in dem Requiem;
0176die erste, auf die Worte „Liber scriptus“, hat der Com-
0177ponist, sehr zum Vortheil des Ganzen, nachträglich cassirt
0178und durch ein sehr wirksames Solo für Mezzosopran er-
0179setzt. Die zwei anderen Fugen: „Sanctus“, doppel-
0180chörig, und „Libera me“ (Schlußfuge), stehen von den
0181übrigen Sätzen des Requiems schon durch die sehr
0182unbedeutende, wohlfeile Erfindung ihrer Themen ab, sodann
0183durch das Steife und Trockene der Ausführung. Sie kommen
0184nie in einen frischen, freien Fluß, erreichen nirgends einen
0185mächtigen Höhenpunkt. Es ist kein Wunder, wenn ein italie-
0186nischer Operncomponist, der bis zu seinem sechzigsten Jahre
0187an keine Fuge gedacht, solcher Aufgabe gegenüber einige
0188Aengstlichkeit empfindet und etwa von vier zu vier Tacten
0189in seinem Schema nachsieht, „was jetzt kommt“. Etwas von
0190solchem Zwang athmen die meisten modernen Fugen im
0191Gegensatz zu jenen von Bach und Händel, die fast immer
0192schon in der Erfindung der Themen eine geniale Freiheit
0193offenbaren und in der Durchführung eine überzeugende Ge-
0194walt und Natürlichkeit. Jenen Meistern war der fugirte Styl
0195eine vollkommen natürliche Sprache (ähnlich wie manchen
0196älteren Dichtern und Dichterschulen die schwierigsten antiken
0197Versmaße), sie konnten mit souveräner Freiheit darin denken
0198und dichten. Wer von Haus aus polyphon denkt und erfin-
0199det, hat gut fugiren. Später ist die Fuge immer mehr zum
0200bloßen Formalismus eingeschrumpft, aber ihn auszufüllen
0201gilt in der Kirchenmusik noch immer als unerläßliche Pflicht
0202des Componisten. An sich hat die Fugenform nicht das Min-
0203deste zu schaffen mit dem Ausdruck religiöser Andacht (wie
0204das Jahn in seiner Mozart-Biographie sehr hübsch ausgeführt
0205hat), trotzdem machen unsere Componisten keine Kirchenmusik
0206ohne Fuge; das klingt oft recht widerwillig, wie ein Citat aus
0207Cicero De officiis. Selbst Mendelssohn, der die Künste 
0208gelehrter Musik mit größerer Meisterschaft, jedenfalls mit
0209mehr Klarheit und Anmuth handhabte, als die meisten
0210Modernen, scheint immer etwas von dem specifischen Ge-
0211wichte seines Talentes zu verlieren, wenn er ausgeführte
0212Fugen schreibt. Ueber seine fünfstimmige B-dur-Fuge im
0213Paulus“ äußerte Mendelssohn selbst zu M. Hauptmann,
0214er habe sie geschrieben, „weil die Leute in Oratorien immer
0215eine ordentliche Fuge hören wollen und glauben, der Com-
0216ponist könne es nicht, wenn er keine bringt“. Aus ähnli-
0217chem Grunde hat sicherlich auch Verdi die Fugen in seinem
0218Requiem geschrieben, nur sind sie nicht so gut ausgefallen
0219wie die Mendelssohn’schen. Diese kleinen Sandstrecken in
0220Verdi’s Requiem liegen glücklicherweise inmitten eines blü-
0221henden Gartens. Gleich der A-moll-Satz zu Anfang
0222(Requiem aeternam) ist ungemein schön in dem Ausdrucke
0223ruhiger, gefaßter Trauer, und wie ein milder Sonnenstrahl
0224fällt das A-dur-Motiv „et lux“ ein. Das „Dies irae“,
0225effectvoll mit ziemlich grellen Farben gemalt, erinnert an
0226die bekannten Fresken im Campo Santo zu Pisa, welche
0227alle Schrecken des jüngsten Gerichtes, des Fegefeuers und
0228der Hölle mit so erbarmungsloser Anschaulichkeit darstellen.
0229Das „Tuba mirum“ durch einander antwortende, an die vier
0230Ecken des Orchesters postirte Trompeten- und Posaunenrufe
0231zu versinnlichen, ist eine Idee, die Verdi dem Requiem 
0232von Berlioz verdankt. Ihm gebührt jedoch das Verdienst,
0233sie nicht nur selbstständig behandelt, sondern durch maßvolle
0234Reducirung erst möglich gemacht zu haben; denn Berlioz’
0235Requiem, durch die Ungeheuerlichkeit der aufgewendeten
0236Mittel selbst zur ewigen Ruhe verurtheilt, verwendet zu
0237diesem Effecte vier verschiedene Orchester von Blech-Instrumen-
0238ten und acht Paar Pauken! Von dem rollenden Donner
0239des „Rex tremendae majestatis“ hebt sich die innig fle-
0240hende Melodie „Salve me“ ungemein schön ab; es folgt
0241das durch den bezaubernden Zusammenklang der beiden
0242Frauenstimmen so einschmeichelnde Duo „Recordare“, ein
0243Strom von Wohllaut, wenn auch knapp an dem Gestade
0244der Oper fließend — dann schlagen wieder die Flammen
0245des „Dies irae“ lodernd in die Höhe. Ein Tenorsolo in
0246Es-dur („Qui Mariam absolvisti“) erinnert durch seinen
0247Wechsel zwischen der großen und übermäßigen Quinte in der
0248Begleitung an ähnliche Wendungen in der „Aïda“; dieser
0249unschuldige Anklang ist aber auch die einzige Reminiscenz [3]
0250an jene Oper, die mir in Verdi’s Requiem auffiel. Beide
0251Werke stehen so selbstständig und eigenthümlich neben einan-
0252der, wie es eben zwei Compositionen desselben Autors ver-
0253mögen. Es sei noch das vierstimmige Offertorium „Domine
0254Jesu“, mit dem einfachen und doch rhythmisch so beleben-
0255den Mittelsatze „Quam olim Abrahae“, als ein Satz von
0256schön gegliederter Architektur und ungemeinem Klangzauber
0257hervorgehoben; dann das „Agnus Dei“, dessen etwas psal-
0258modische Sopran-Melodie durch das Mitsingen der Altstimme
0259in der tieferen Octave ein sehr stimmungsvolles Halbdunkel ge-
0260winnt; endlich das rührende, sanfte Ausklingen des ganzen
0261Werkes auf die immer leiser hingehauchten Worte „Libera me“!


0262Verdi’s Requiem enthält neben großen Schönheiten
0263auch manche schwache Stelle, sogar einiges Unschöne (wie
0264die mit sonderbarer Absichtlichkeit angebrachten Parallel-
0265Quinten in dem Baßsolo „Confutatis“); allein der überwie-
0266gend günstige Eindruck des Ganzen trägt uns darüber hin-
0267weg. Dieses Requiem bleibt doch ein echtes und schönes
0268Stück italienischer Kunst. In der Physiologie dieser Kunst
0269und im Charakter des Katholicismus ist ein gewisses Ueber-
0270wiegen der Sinnlichkeit und des glänzenden südlichen Pathos
0271begründet. Genug, daß in Verdi’s Requiem nicht, wie in so
0272vielen, mitunter hochgefeierten italienischen Kirchenmusiken,
0273der Geist in der Fülle blühenden Fleisches erstickt. Italien 
0274darf sich dieses Werkes rühmen, und wir dürfen uns dessen
0275aufrichtig mitfreuen, ohne darum in Uebertreibungen zu
0276verfallen, wie die, es sei dieses Requiem „die bedeutendste
0277Tondichtung des Jahrhunderts“. Nicht einmal die bedeu-
0278tendste Kirchenmusik dieses Decenniums! Denn so kindlich
0279wird wol Niemand sein, Verdi’s Manzoni-Messe mit dem
0280Deutschen Requiem“ von Brahms auf Eine Höhe zu stellen.
0281Zum Glücke nöthigt uns nichts zu solcher Vergleichung, und
0282wir können jedem in seinem eigenen Style ehrlich und be-
0283deutend Schaffenden seine Ehre geben.


0284Es ist in allen Berichten mit Recht hervorgehoben,
0285welch großen Antheil an dem Erfolge des Requiems die vor-
0286treffliche Ausführung hatte. Das bewunderungswürdige
0287Orchester und der vortreffliche Chor des Hofoperntheaters
0288(letzterer verstärkt durch die jugendfrischen Stimmen unseres
0289Akademischen Gesangvereins) leisteten ihr Bestes in der Be-
0290gleitung eines Gesangsquartetts, das in unvergleichlicher 
0291Ausführung dieses Werkes bereits europäische Berühmtheit
0292erlangt hat. Es sind dies die Sängerinnen Stolz und
0293Waldmann (Beide Oesterreicherinnen), die Sänger Ma-
0294sini
und Medini; im Ensemble sind sie Ein Herz und
0295Eine Kehle. Nur in Einem Punkte fand ich deren Leistungen
0296nicht vorwurfsfrei: ihr Vortrag war häufig zu theatralisch.
0297Gewisse Schluchzer, Bebungen und leidenschaftliche Accente
0298passen (selbst im Concertsaale) nicht für kirchliche Musik,
0299nicht zu dem Texte des Requiems. Wenn eine Sängerin
0300Jesum Christum anruft, so darf man nicht meinen, sie
0301schmachte nach ihrem Geliebten. Ich erinnere nur an das
0302herzbrechend sentimentale Schluchzen, mit welchem Fräulein
0303Waldmann die einfachen Worte: „Liber scriptus
0304proferetur“ vortrug. Auch der Tenorist Masini gefiel sich
0305einigemale in dem unvermittelten Aussetzen eines Pianissimo
0306auf ein Forte u. dgl. Man wird vielleicht einwenden, daß
0307Verdi’s Musik dazu verleite. Dann wäre es Pflicht der
0308Sänger, durch strengeren Vortrag die Melodie zu festigen,
0309anstatt sie durch theatralische Sentimentalität noch zu lockern
0310und zu verweltlichen. Indessen ließ gerade diese Vortrags-
0311weise vermuthen, daß Verdi’s Sänger erst auf der Bühne
0312ihr ganzes Talent entfalten, ihren vollen Effect erzielen
0313würden. Und wirklich erlebten wir das in der italienischen
0314Vorstellung der „Aïda“, welche unter Verdi’s Direction
0315den Aufführungen des Requiems folgte. Es war einer der
0316genußreichsten Abende, welche wir dem Hofoperntheater ver-
0317danken. Drei neue Factoren wirkten zu diesem Resultate zu-
0318sammen: zuerst die Besetzung der Hauptrollen durch die ge-
0319nannten Gäste, sodann die italienische Sprache, endlich die
0320persönliche Einwirkung Verdi’s vom Dirigentenpulte aus.
0321Unter den Sängern verdient Fräulein Waldmann als
0322Amneris den ersten Preis. In entzückendem Wohllaute
0323strömte ihre weiche, üppige Stimme dahin, überall vergeistigt
0324und belebt durch den sprechendsten dramatischen Aus-
0325druck und ein ebenso vornehmes als leidenschaftliches
0326Spiel. Wie sang sie in der ersten Scene die bei-
0327den vom Componisten nur recitativisch behandelten
0328Worte: „Desiderii, speranze!“ In solchen Einzelheiten
0329verräth sich das dramatische Blut. Fräulein Stolz 
0330(Aïda) schien — wenigstens in der von mir gehörten zweiten
0331Aufführung — nicht im vollen Besitz ihrer schönen Stimme, 
0332so daß sie in dieser Hinsicht, bis auf ihre herrlichen tiefen
0333Töne, hinter Frau Wilt zurückstand. An dramatischem Geist
0334und Leben wurde hingegen unsere deutsche Aïda bedeutend
0335überragt von der Stolz. Der Tenorist Masini, als
0336Schauspieler mittelmäßig, bezauberte das Publicum durch
0337süßen Schmelz der Stimme und seelenvollen Vortrag. Herr
0338Medini (Ramphis) bewährte sich als sehr tüchtiger
0339Sänger; seinem ausgiebigen, aber hohlklingenden Baß blieb
0340freilich die Wirkung versagt, welche Rokitansky’s 
0341Stimme in dieser Partie erreicht. Von unseren einheimischen
0342Künstlern theilte Herr Bignio als Amonasro die Ehren
0343der fremden Gäste. Und wenn sie auch Alle etwas weniger
0344gut gesungen hätten — sie sangen italienisch! Wie sehr
0345Aïda“ durch den italienischen Originaltext gewinnt, ist
0346kaum zu sagen. Mehr als jede andere italienische Oper,
0347denn die deutsche Uebersetzung der „Aïda“ gehört zu den
0348schlechtesten, die wir kennen. *)  Was aber die Leistungen der
0359einzelnen Sänger erst zu ihrer vollen Wirkung hob und die
0360italienische Vorstellung vor unseren deutschen „Aïda“-Abenden
0361auszeichnete, ist die vollendete Exactheit, das dramatische und
0362musikalische Zusammenwirken, die zündende Begeisterung,
0363welche das ganze Ensemble beherrschte und von der ersten
0364Sängerin bis zum letzten Choristen sich elektrisch fortzupflanzen
0365schien. Das ist Verdi’s Verdienst, welcher die Oper (mit
0366vielfach modificirten Tempi) neu eingeübt hatte und mit
0367einer für den Sänger unschätzbaren, für den Zuschauer wohl-
0368thuenden ruhigen Energie dirigirte, ein Muster besonnener,
0369zusammengefaßter Kraft. Allem, was da sang, spielte und
0370zuhörte, sah man die Freude an; aber die größte Freude
0371empfand wol an diesen Abenden Verdi selbst, dem wir sie
0372von Herzen gönnen, sammt einer langen, freundlichen Er-
0373innerung daran.

Fußnoten
  • *)Man traut seinem Auge nicht, wenn man in diesem Libretto
    auf Dinge wie die folgenden stößt: „Holde Aïda, himmelentflam-
    mend, zauberndes Wesen von Blumen und Licht, du bist die Kö-
    nigin meiner Gedanken, gibst meinem Leben einzig Gewicht . . . .
    Jene Blässe voll Verstörung ist geheime, fiebernde Gluth . . . . Haß
    nur und Rache nur nehmen mich ein . . . . Ich mit meiner Gluth,
    der warmen, steige in das Grab hinein . . . . Als Gattin dessen,
    den so sehr du liebest, wird unermeßlicher Jubel dich umweh’n.“ Auf
    das Wort „Herzens“ reimt unser Poet „des Schmerzens“. Und solches
    Kauderwälsch muß man in Deutschland singen und — anhören!