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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3903. Wien, Donnerstag, den 8. Juli 1875

[1]

Boieldieu.


0002Ed. H. Rouen, die Vaterstadt des Componisten der
0003Weißen Frau“, hat soeben das hundertjährige Jubiläum
0004seiner Geburt gefeiert. Es ist die erste nationale Gedenkfeier
0005größeren Styls, die je in Frankreich zu Ehren eines Ton-
0006dichters stattfand. Einen Componisten von der Popularität
0007Boieldieu’s haben die Franzosen früher auch nicht besessen.
0008Man muß bis auf Grétry zurückgehen (der übrigens
0009Belgier von Geburt war), um etwas dieser Popularität
0010Nahekommendes anzutreffen. In der französischen Opern-
0011geschichte steht die „Weiße Frau“ geradezu einzig da: hat
0012sie doch binnen fünfzig Jahren in Paris über 1300 Wieder-
0013holungen erlebt! Jules Janin, Augenzeuge der ersten
0014Vorstellung, konnte fünfunddreißig Jahre später mit voller
0015Berechtigung den Ausspruch thun, daß im ganzen Gebiet
0016des Lustspiels und der Oper kein Erfolg mit dem der
0017Weißen Frau“ an Dauer und Allgemeinheit sich vergleichen
0018lasse. Aus Anlaß des Jubiläums, das, eigentlich erst im
0019December fällig, dem Festkleid der Natur zuliebe jetzt schon
0020vorgefeiert wurde, sind mehrere Gelegenheitsschriften er-
0021schienen, darunter die erste vollständige und quellenmäßige
0022Biographie des berühmten Componisten. Der Verfasser,
0023Herr Arthur Pougin, erscheint in dieser Arbeit durchaus
0024als gewissenhafter Forscher, stellenweise auch als glücklicher
0025Entdecker. Der ästhetisch-kritische Theil seines Buches ist un-
0026bedeutend und wirft kein neues Licht auf die künstlerische
0027Eigenart und Bedeutung Boieldieu’s. Allein es bringt ver-
0028läßliche Daten, veröffentlicht zum erstenmal mehrere Docu-
0029mente und Briefe Boieldieu’s und berichtigt eine Reihe von
0030Irrthümern, welche namentlich aus Fétis’ Lexikon sich allent-
0031halben verbreitet haben.


0032Francois Adrien Boieldieu *) ist am 16. December
00401775 in der alten Hauptstadt der Normandie, Rouen, ge-
0041boren, wo bekanntlich auch die Wiege Corneille’s und 
0042Fontenelle’s stand. Der Vater bekleidete das Amt eines
0043erzbischöflichen Secretärs, die Mutter hielt das gesuchteste
0044Modewaarengeschäft in Rouen. Ziemlich wohlhabend und
0045kunstliebend, gönnten die Eltern der Musikpassion des Kna-
0046ben ungehinderte Entfaltung und gaben ihn dem angesehen-
0047sten Musiker in Rouen, dem Dom-Organisten Broche, in
0048die Lehre. So schien denn Alles aufs beste vorgesehen, dem
0049jungen „Boiel“, wie man ihn kurzweg nannte, glückliche und
0050fruchtbringende Jahre zu sichern. Leider war Meister Broche 
0051ein Trunkenbold, voll Jähzorn und Gewaltthätigkeit. Der
0052kleine, sanfte Adrien zitterte vor ihm und mußte sich die
0053äußerste Härte, selbst Mißhandlungen, gefallen lassen, über
0054welche daheim zu klagen er niemals wagte. So kam es, daß
0055der Knabe trotz Talents und guten Willens nur wenig lernte
0056während dieses mehrjährigen Unterrichtes. Er war dem ge-
0057fürchteten Broche in Kost und Wohnung übergeben, also ganz
0058in dessen Gewalt. Eines Tages fiel ihm ein dicker Tropfen
0059Tinte auf die Claviatur, und in der Angst vor der unaus-
0060bleiblichen Züchtigung entfloh er. Boieldieu wollte geradewegs
0061nach Paris, dem Wunderland seiner Träume, seiner Sehn-
0062sucht. Aber wie dahin gelangen? Der Weg so weit, die Bar-
0063schaft so klein! Gleichviel, mit fünfzehn Jahren überlegt man
0064nicht lange. Er wandert zu Fuß, müde und hungrig ver-
0065bringt er die erste Nacht inmitten einer Schafheerde, deren
0066Hirt sein ärmliches Lager und ein Stück Brot mit ihm theilt.
0067In Paris macht ihn anfangs der Anblick so vieler Herrlich-
0068keiten alles Ungemach vergessen. Aber seine paar Francs sind
0069zu Ende, und die Wirthin, ein alter Drache, wirft ihn zur
0070Herberge heraus. Arm, fremd, verzweifelnd irrt er bis an
0071das Ufer der Seine; schon faßt er den Entschluß, sich zu
0072ertränken; da hört er seinen Namen rufen. Ein braver
0073Diener aus dem Elternhause war dem Flüchtlinge zu Pferde
0074nachgejagt und hatte ihn glücklich im Momente der höchsten
0075Noth gefunden. In dem Hause des Herrn Mollin (nach-
0076mals Graf Mollin und Pair von Frankreich), dessen
0077Schwester später die zweite Frau des alten Boieldieu wurde,
0078fand der Kleine die liebevollste Aufnahme. Dies geschah im
0079Jahre 1790. Wir wissen nicht, wie und unter wessen Lei-
0080tung Boieldieu seine Studien während der zwei folgenden
0081Jahre betrieb. Ohne Zweifel hat der Besuch der Oper, der
0082entzückende Eindruck der Werke von Grétry, Dalayrac,
0083Méhul das Meiste gethan, sein Talent zu wecken und ihm
0084selbst zum Bewußtsein zu bringen. Im Herbste 1793 tritt
0085Boieldieu zum erstenmale vor die Oeffentlichkeit, und zwar 
0086in Rouen, mit einer zweiactigen Oper, „La fille coupable“,
0087welcher zwei Jahre später ebendaselbst die Oper „Rosalie
0088et Myrza“ folgte. Was die Textbücher dieser Erstlingsopern
0089betrifft, so wissen wir jetzt, daß es Boieldieu’s Vater selbst
0090war, der sie eigens für seinen Sohn geschrieben, um ihm
0091den ersten Schritt in die Oeffentlichkeit zu ermöglichen. Ein
0092interessantes und in der Operngeschichte wol alleinstehendes
0093Verhältniß. Der günstige Erfolg dieses Debüts in Rouen 
0094und der auf die Schreckensjahre etwas ruhiger gewordene
0095politische Zustand bewogen unseren Componisten zur Rückkehr
0096nach Paris. Durch den gefeierten Sänger Garat empfoh-
0097len und im Hause des Componisten Jadin collegial auf-
0098genommen, war der junge Boieldieu bald in der Pariser
0099Musikwelt bekannt. Mit Nahrungssorgen hatte er nicht zu
0100kämpfen, und die gewöhnliche Angabe, er habe als Clavier-
0101stimmer und Notencopist seinen Unterhalt verdienen müssen,
0102beruht nach neuerer Forschung auf Irrthum.


0103Seine ersten Erfolge in Paris verdankte Boieldieu zahl-
0104reichen Romanzen, welche Garat mit Vorliebe und unver-
0105gleichlichem Geschmack vortrug. Die Schwärmerei für „Ro-
0106manzen“ datirt, seltsam genug, aus den ersten Tagen der
0107Revolution; sie wuchs unter dem Directorium und Consulat,
0108bis sie endlich unter dem Kaiserreich zur völligen Manie
0109ausartete. Zur Zeit von Boieldieu’s Anfängen schrieb noch
0110die Elite der französischen Musiker (Cherubini, Dalayrac,
0111Berton etc.) Romanzen. Auch mit verschiedenen Clavierstücken
0112und Compositionen für die Harfe erzielte Boieldieu Erfolge
0113in den Salons. Jung, hübsch, geistreich, liebenswürdig, ver-
0114einigte Boieldieu damals alle Erfordernisse, Glück zu machen,
0115und das Glück ließ auch nicht lange auf sich warten.
0116Boieldieu erreichte 1797 das heißersehnte Ziel, im Théâtre
0117Feydeau eine einactige Oper aufzuführen: „La Famille
0118suisse
“, welche später den Stoff zu einer Lieblingsoper
0119der Deutschen („Die Schweizerfamilie“ von Castelli und
0120Weigl) geliefert hat. Die ersten größeren Opern Boieldieu’s,
0121welche in Paris zur Aufführung kamen, waren „Zoraïme
0122et Zulnare
“ (1798) und „Benjowski“ (1800, das
0123Sujet identisch mit Kotzebue’s Schauspiel), beide dreiactig
0124und beide sehr beifällig aufgenommen. In diesen zwei Wer-
0125ken nimmt Boieldieu’s Musik einen etwas kühneren Flug
0126und nähert sich dem ernsten, leidenschaftlichen Style der
0127großen Oper. Diesem hier keimenden Talent für starke dra-
0128matische Situationen blieb weitere Entwicklung versagt, da
0129Boieldieu’s spätere Opernlibrettos durchweg nur den heite[2]
0130ren Conversationston festhielten. Für die Große Oper hat
0131Boieldieu niemals gearbeitet. Ein wahres Zugstück wurde
0132Der Khalif von Bagdad“ (1800) — es war da-
0133mals die Blüthezeit der einactigen Operetten — der über
0134vierzig Jahre lang sich in der Opéra Comique erhielt
0135und auch in Deutschland zu großer Beliebtheit gelangte. Es
0136geschah während einer dieser Khalifen-Vorstellungen, daß
0137Cherubini im Foyer dem jungen Componisten begegnete,
0138ihn am Kragen faßte und mit seiner gewohnten Barschheit
0139anrief: „Unglücklicher! Schämst du dich nicht, solche Erfolge
0140zu haben und sie so wenig zu verdienen?“ Boieldieu blieb
0141sprachlos bei dieser Interpellation, aber er fühlte, daß sie
0142nicht unbegründet war. Er eilte zu Cherubini, um sich
0143dessen guten Rath zu erbitten. Durch zwei Jahre genoß er
0144die freundschaftliche Unterweisung des älteren Meisters und
0145nahm nun die Sache viel ernsthafter. In der kurzen Frist
0146von 1795 bis 1800 hatte er mit wenig Kunst acht Opern
0147geschrieben („la science n’y est entrée que pour bien
0148peu“, wie er sich ausdrückte); jetzt aber, seit er durch Che-
0149rubini gründliche Kenntnisse erworben, fühlte er seine ganze
0150Vergangenheit wie einen Vorwurf. Boieldieu machte eine
0151Pause von mehreren Jahren und trat erst 1803 mit der
0152dreiactigen Oper „Ma tante Aurore“ vor das Publi-
0153cum. Diese gehört zu den seltenen Opern, worin eine komi-
0154sche Alte die Hauptperson spielt. Tante Aurore ist nämlich
0155durch vieles Romanlesen so verschroben, daß sie die Hand
0156ihrer Nichte nur einem Freier gewähren will, der auf ganz
0157romantischem Wege, durch unerhörte Abenteuer und Helden-
0158thaten das Herz des Mädchens gewinnt. Die Nichte und ihr
0159gut bürgerlicher Liebhaber führen nun zwei Acte lang die drollig-
0160sten Abenteuer, erlogene Räuberscenen, Rettungen u. s. w. auf,
0161um das romanverhärtete Herz der Tante zu rühren. Das
0162Publicum unterhielt sich köstlich und applaudirte von Herzen.
0163Als aber im dritten Acte der alte Bediente als Amme ver-
0164kleidet mit zwei Säuglingen auf dem Arme aus einem
0165Thurme steigt, da fanden die Pariser den Spaß zu stark
0166und protestirten zischend und pfeifend. Bei den nächsten
0167Vorstellungen ließ man den ganzen dritten Act weg (mit
0168alleiniger Ausnahme der so berühmt gewordenen „Romanze
0169in drei Tönen“), und in dieser verkürzten Form erhielt sich
0170Tante Aurora“ jahrelang in der allgemeinen Gunst. Die
0171Strenge, mit welcher damals das Publicum Novitäten rich-
0172tete, mag den heutigen Parisern wie ein Märchen erscheinen,
0173denn jetzt ist das Auditorium der ersten Vorstellungen be
0174kanntlich so zuverlässig zusammengesetzt, daß ein Durchfall
0175nicht vorkommen kann. Der Erfolg von „Ma tante Aurore“,
0176mit welcher für Boieldieu’s Talent die eigentliche künstle-
0177rische Reise beginnt, stellte ihn in die erste Reihe der dama-
0178ligen dramatischen Componisten Frankreichs. Grétry hatte
0179aufgehört zu schreiben, Della Maria schimmerte nur einen
0180Moment lang, Isouard, eben erst angekommen, war vor-
0181läufig nur eine Hoffnung. Eine beneidenswerthe Laufbahn
0182that sich breit und einladend vor Boieldieu auf.


0183Wie kam es nun, daß er sie plötzlich aufgab und Frank-
0184reich verließ, um sieben seiner schönsten Jahre in Rußland 
0185zu verbringen? Dieses trübe Räthsel in Boieldieu’s Leben
0186war bisher nicht sowol ungelöst, als absichtlich verschleiert
0187geblieben. In Boieldieu tobte eine heftige Leidenschaft für
0188die ebenso reizende als leichtfertige Tänzerin der Großen
0189Oper, Clotilde Mafleuri. Nur einige Monate jünger als er
0190selbst, wußte sie Boieldieu durch planvoll angelegte, kokette
0191Sprödigkeit dahin zu bringen, daß er sie heiratete. Clotilde 
0192trug nun seinen ehrlichen und ruhmvollen Namen, mehr ver-
0193langte sie nicht, und nahm gleich nach der Hochzeit ihren
0194zügellosen Lebenswandel, ärger als zuvor, wieder auf. Boiel-
0195dieu wollte die Rolle des geduldigen und geduldeten Ehe-
0196mannes nicht spielen und suchte die Trennung der Ehe zu
0197erwirken. Aber Kaiser Napoleon, der nicht ungern auch in
0198Privatverhältnissen eine recht boshafte Vorsehung spielte, ver-
0199weigerte die Erlaubniß. „Wenn Boieldieu so dumm war,
0200eine Tänzerin zu heiraten, so soll er sie zur Strafe auch be-
0201halten.“ **) Der unglückliche junge Ehemann entschloß sich
0206sofort zur Auswanderung nach Rußland und setzte seine Ab-
0207reise rasch, fast heimlich ins Werk. Es war die Zeit der
0208ersten russischen Eroberungen auf französischem Gebiete —
0209im Theater nämlich. Eine Art Schwindel hatte die Pariser
0210Künstler erfaßt und zog sie nach Petersburg, dem Peru 
0211fremder Musiker und Schauspieler.


0212„Nur wenig fehlt,“ schrieb damals ein französisches
0213Journal, „und wir werden unsere Oper, unser Théâtre
0214Feydeau, unsere Comédie Française in Petersburg suchen
0215müssen.“ Sogar die Bühne bemächtigte sich satyrisch dieses
0216Stoffes, und man spielte in den Vaudeville-Theatern: „Le
0217départ pour la Russie“, „Allons en Russie!“ u. dgl. 
0218Boieldieu reiste im Juni 1803 nach Rußland, aufs Ge-
0219rathewohl, ohne eine Einladung oder ein Engagement in
0220Händen zu haben. Aber schon an der russischen Grenze kam
0221ihm ein Handschreiben von Kaiser Alexander zu, das mit
0222der schmeichelhaftesten Einladung an den Petersburger Hof
0223zugleich die Ernennung Boieldieu’s zum Hof-Capellmeister
0224enthielt. Unter sehr vortheilhaften Bedingungen trat Boieldieu 
0225in kaiserlich russische Dienste. Allerdings auch mit der enormen
0226Verpflichtung, jährlich drei neue Opern eigens für den
0227Kaiser zu componiren. Dieser hingegen hatte sich verpflichtet,
0228dem Componisten jährlich drei neue französische Textbücher
0229zu verschaffen. Keiner der beiden Theile hat sein Versprechen
0230gehalten. Die Verlegenheit, „woher ein Libretto nehmen?“
0231wiederholte sich fortwährend, und Boieldieu erhielt thatsäch-
0232lich nur ein einziges, und zwar miserables Textbuch („Abder
0233Kahn“) geliefert. Zu allen übrigen für Petersburg compo-
0234nirten Opern mußte Boieldieu entweder französische Lust-
0235spiele oder Opernlibrettos, die bereits früher von anderen
0236französischen Componisten in Musik gesetzt waren, benützen.
0237Gleich die erste von Boieldieu’s Petersburger Opern, die
0238dreiactige „Aline, reine de Golconda“, gehörte mit
0239der Musik von Berton in Frankreich längst zu den be-
0240kannten und beliebten Opern. Deßhalb war auch diese (und
0241manche andere) Opernpartitur Boieldieu’s für Paris ver-
0242loren. „Was ich unsäglich bedauere,“ schreibt Boieldieu 1806 
0243an Berton, „ist meine „Vestalin“, die eigens für mich
0244gedichtet war und mir nun von dem Spitzhuben Spontini 
0245weggefischt worden.“ Eine interessante und ganz überraschende
0246Enthüllung; denn bekannt war allerdings, daß Jouy sein
0247Textbuch „La Vestale“ Méhul angetragen hatte, nicht
0248aber daß es ursprünglich für Boieldieu bestimmt und
0249somit erst aus dritter Hand an Spontini gelangt war. Zu
0250beklagen haben wir diese Wendung nicht; Boieldieu’s zart-
0251besaitete Lyra hätte schwerlich die erforderliche Kraft und
0252Leidenschaft für solchen Stoff aufgebracht, und Spontini wäre
0253uns sein Meisterwerk schuldig geblieben.


0254Boieldieu’s Thätigkeit in Rußland hat ihm Lohn und
0255Ehren die Fülle eingetragen, weniger an bleibendem künst-
0256lerischen Ruhm. Dieser gedieh erst in Frankreich zu seinem
0257vollen Wuchs. Die gesundheitverderblichen Einflüsse des rus-
0258sischen Klimas und einiges Heimweh trieben den Meister
0259nach mehr als siebenjähriger Abwesenheit nach Paris zurück.
0260Hier war ihm inzwischen in Nicolo Isouard ein gefähr-
0261licher Rivale erstanden, dessen „Aschenbrödel“ allabendlich [3]
0262die Räume der Komischen Oper füllte. Boieldieu antwortete
0263darauf mit seinem „Jean de Paris“ (1812), dessen
0264Erfolg nicht minder glänzend und nachhaltig ausfiel. „Jo-
0265hann von Paris“ darf als der Anfang einer neuen, zweiten
0266Periode in Boieldieu’s Entwicklung gelten; ohne an Frische
0267und Leichtigkeit zu verlieren, nimmt seine Musik von jetzt
0268einen kräftigeren, höheren Schwung. Die Arie der Prin-
0269zessin: „Welche Lust gewährt das Reisen!“ ist, merkwürdig
0270genug, seiner in Petersburg componirten Oper „Tele-
0271mach
“ (!) entnommen. Derselben Periode und Manier ge-
0272hören die beiden folgenden Opern an: „Le nouveau
0273Seygneur du village
“ (1813), ein kleines Meister-
0274werk in einem Act, und „La Fête du village
0275voisin
“ (1816), dessen graziöse Musik leider durch ein
0276absurdes und langweiliges Libretto beeinträchtigt wird. Zur
0277Feier der Vermälung des Herzogs von Berry wurde
0278Boieldieu die Composition einer Gelegenheits-Oper, „Charles
0279de France
“, aufgetragen. Diese Composition war
0280für ihn eigentlich nur Vorwand und Anlaß zu einer guten
0281That. Er wollte dem talentvollen Herold nützen, dem
0282später berühmten Componisten des „Zampa“, welcher da-
0283mals noch vergeblich an irgend einer Bühne anzukommen
0284trachtete. Boieldieu riskirte es, den noch unerprobten
0285jungen Componisten sich als Mitarbeiter beizugesellen
0286und ihm die Composition des ganzen zweiten Actes
0287allein zu überlassen. Das Geheimniß ließ Boieldieu erst knapp
0288vor der Vorstellung enthüllen, und so feierte Herold unter
0289dem schützenden Mantel seines berühmteren Collegen den
0290langersehnten Einzug in die Opéra Comique. „Alles ver-
0291danke ich Boieldieu!“ schrieb damals der dankbare Herold 
0292in sein Tagebuch. 1818 erzielte Boieldieu’s „Rothkäpp-
0293chen
“ (Le petit chaperon rouge), ein Werk voll Grazie,
0294Noblesse und Feinheit, einen großen Erfolg, obwol die
0295Musik im Vergleich mit „Johann von Paris“ vielfach zu
0296schwer und gelehrt befunden wurde. Eine zweiactige komische
0297Oper: „Les voitures versées“ („Die umgeworfenen
0298Kutschen“), in Rußland geschrieben, kam theilweise umgearbei-
0299tet 1820 zur Aufführung; man applaudirte den Componisten
0300und pfiff den Dichter des Librettos unbarmherzig aus. In
0301dem langen Zeitraume von 1818 bis 1825 gab Boieldieu 
0302kein größeres neues Werk heraus; seine ganze Kraft und
0303Thätigkeit war absorbirt von der Composition der „Dame
0304d’Avenel“, wie die „Weiße Frau“ ursprünglich heißen sollte.
0305Selbst ein so verlockendes Textbuch wie Scribe’s „Schnee“ 
0306refüsirte er während dieser Arbeit; dasselbe hat bekanntlich
0307Auber zu seinem ersten großen Erfolg verholfen und die
0308lange, fruchtbare Allianz zwischen Auber und Scribe einge-
0309leitet. Ein zweites Boieldieu angetragenes Textbuch ist gott-
0310lob uncomponirt geblieben: Goethe’sFaust“, von
0311Antony Berand als komische Oper bearbeitet, mit einem
0312weiblichen Mephistopheles!


0313Auf den 10. December 1825 fällt die epochemachende
0314erste Aufführung von Boieldieu’s Meisterwerk „La Dame
0315blanche
“, dessen Stoff Scribe so glücklich aus mehreren
0316Romanen von Walter Scott gezogen hatte. Boieldieu arbei-
0317tete an dieser Partitur mit solcher Gewissenhaftigkeit, daß er
0318zum Beispiel Margaretha’s Spinnrad-Couplets nicht weni-
0319ger als fünfmal neu componirt hat. Nur zur Ouvertüre
0320drängte große Eile; Boieldieu’s Lieblingsschüler, Adolph
0321Adam, hat nach einigen Andeutungen des Meisters und
0322mit einzelnen der Oper entnommenen Motiven die ganze
0323Ouvertüre zur „Weißen Frau“ geschrieben. Man kennt den
0324beispiellosen, die ganze gebildete Welt rasch erobernden Er-
0325folg dieser Blüthe der französischen Opéra Comique. Der
0326Componist selbst mußte den Spaß erleben, daß „ihm zu
0327Ehren“ ein kleines Theater im südlichen Frankreich die
0328Weiße Frau“ ohne Musik aufführte; der Gesang sollte
0329laut Meldung des Theaterzettels ersetzt werden „par un
0330dialogue vif et soutenu“. Welch zarte Aufmerksamkeit!
0331Boieldieu selbst schrieb an einen Freund, er habe nie und
0332nirgends einen Erfolg erlebt, der so viel „Froufrou“ ge-
0333macht hätte wie die „Weiße Frau“! Schon im Jahre
03341862 feierte sie ihre tausendste Vorstellung an der Opera
0335Comique. Nach der „Dame blanche“ hat Boieldieu nur
0336noch Ein Werk geschaffen, das trotz der höchsten darauf ver-
0337wendeten Sorgfalt und Liebe ungünstige Aufnahme fand:
0338Die beiden Nächte“. Es wiederholte sich hier das Mißge-
0339schick, dem wir leider mehrmals in Boieldieu’s Laufbahn begegne-
0340ten; daß seine Musik an ein schwaches, albernes Libretto ver-
0341schwendet war. Also dasselbe traurige Schicksal, dem
0342früher „La Fête du village voisin“ und „Les voitures
0343versées“ zum Opfer fielen. Gleich diesen sind auch die
0344Beiden Nächte“, an welchen Boieldieu vier Jahre lang
0345gearbeitet und die er der „Weißen Frau“ gleichstellte, voll-
0346ständig verschollen. Lange hatte er sich gesträubt, das geist-
0347lose Libretto des alten Kinderschriftstellers Bouilly zu
0348componiren, welcher mit den „Deux nuits“ ein Seitenstück
0349zu seinen durch Cherubini berühmt gewordenen „Deux 
0350journées“ (Der Wasserträger) liefern wollte. Aber der
0351kindisch und eigensinnig gewordene Greis drang unermüdlich
0352in den gutmüthigen Boieldieu, welcher in der That be-
0353fürchtete, seine Weigerung würde ein tödtlicher Schlag für
0354Bouilly werden. Anstatt den Tod Bouilly’s herbeizuführen,
0355hat diese Oper das Ende Boieldieu’s beschleunigt. Die
0356Beiden Nächte“ erschienen 1829 in mangelhafter Auf-
0357führung und wurden von dem durch höchste Erwartungen
0358befangenen Publicum kalt aufgenommen. Boieldieu hat den
0359Schmerz über diesen Mißerfolg niemals verwunden; die
0360Kränkung gab seiner längst angegriffenen Gesundheit den
0361ärgsten Stoß. Aus Rußland datirt wahrscheinlich der Anfang
0362seines Kehlkopfleidens, das nun rapid zunahm. Boieldieu 
0363verlor vollständig die Stimme und mußte zur Conversation
0364Griffel und Schreibtafel zu Hilfe nehmen, wie einst Beethoven.
0365Die Aerzte urtheilten, daß nur ein längerer Aufenthalt im
0366Süden dieses gefährdete Leben retten oder wenigstens fristen
0367könne. Zu Anfang des Jahres 1830 begab sich Boieldieu 
0368mit seiner Frau und seinem Sohne in das südliche Frank-
0369reich, verweilte längere Zeit in Marseille, Toulouse, auf den
0370hyerischen Inseln. Diese kostspieligen Reisen zehrten seine
0371Ersparnisse auf. Leidender als je und verarmt obendrein
0372kehrte Boieldieu nach Paris zurück. In Folge der Juli-
0373Revolution ging die von Karl X. ihm ausgesetzte Pension
0374verloren, seine Bezüge am Conservatorium waren eingezogen,
0375von der bankerott gewordenen Komischen Oper erhielt er
0376keinen Sou. Es war das Verdienst des jungen, mächtigen
0377Ministers der Juli-Monarchie, Thiers, daß Boieldieu 
0378für diese Verluste schließlich durch eine Pension von sechs-
0379tausend Francs entschädigt wurde. In seinem Landhause zu
0380Tarcy, wo er in ländlicher Stille zwischen seinen geliebten
0381Blumenbeeten, die besten Stunden verlebt hatte, erwartete er
0382mit rührender Geduld und Fassung den Tod, welcher am
03838. October 1834 erlösend an sein Bett trat. Sein Leichnam
0384ruht auf dem Père-Lachaise neben Grétry, Dalayrac, Méhul,
0385Isouard und seinem geliebten Herold, der ihm vorangegangen
0386war. Auf Boieldieu’s ausdrücklichen letzten Wunsch spielte
0387die den Leichenzug begleitende Musik das Spinnradlied aus
0388der „Weißen Frau“.


0389Wenige Künstler haben so leichte glückliche Anfänge er-
0390lebt, wie Boieldieu, und so kummervollen, schmerzhaften Aus-
0391gang, wie er! Aber man darf behaupten, daß kaum Einer
0392im Leben aufrichtiger geliebt, im Tode aufrichtiger beweint
0393worden ist.

Fußnoten
  • *)So und nicht anders schrieb der Componist selbst seinen
    Namen, dessen unrichtige Orthographie Boïeldieu oder Boyeldieu 
    überaus häufig angetroffen wird, selbst auf Titelblättern seiner
    Compositionen und auf der Gedenktafel seines Geburtshauses. Der
    Diphtong ist wie in den Wörtern royaume, loyauté etc. auszuspre-
    chen, und der Name dreisylbig: „Boa-jel-dieu“, nicht wie man in
    Deutschland gewöhnlich hört, „Boal-dieu“.
  • **)Clotilde starb erst im December 1825, wenige Tage nach
    der ersten Aufführung der „Weißen Frau“. Boieldieu heiratete dann
    Madame Philis-Bertin, die er liebte und die ihm ein muster-
    hafte Gattin ward.