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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3958. Wien, Mittwoch, den 1. September 1875

[1]

Vom Hofoperntheater.

Wien, 31. August.


0003Ed. H. Die Dornen um Herbeck’s Schläfe haben Rosen
0004getragen — für seinen Nachfolger. Franz Jauner über-
0005kam die Direction des Hofoperntheaters mit einer künstleri-
0006schen Unabhängigkeit, wie sie so höchst persönlicher, schwie-
0007riger Stellung jederzeit gebührt hätte, aber niemals zuge-
0008standen war. Jauner besaß den Muth, seinen Eintritt in
0009dieses Amt unerschütterlich an die Bedingung vollkommen
0010freier Action zu knüpfen, er bestand darauf, und das unbe-
0011siegbar scheinende Zwing-Uri der „General-Intendanz“ fiel
0012lautlos. Damit hat er nicht allein sich selbst, sondern dem
0013gesammten deutschen Bühnenwesen einen unschätzbaren und
0014hoffentlich folgenreichen Dienst erwiesen. Jauner erkaufte
0015diese Befreiung allerdings mit der Uebernahme erhöhter
0016Pflicht und Verantwortlichkeit. Die Hofbehörde verlangt von
0017ihm durchgreifende finanzielle Reformen, Auslangen mit der
0018festgesetzten Subvention und Abschwören der alten Gewohn-
0019heitssünde: Deficit. Die ersten Wochen des Jauner’schen
0020Directorats — es begann erst kurz vor den Theater-Ferien
0021— vergingen über der angestrengten Vorarbeit zu durchgreifen-
0022den finanziellen Reformen. Den Aufführungen selbst schenkte
0023der neue Director während jenes ersten administrativen
0024Sturmes keine Aufmerksamkeit, er mußte sie eben ablaufen
0025lassen, wie eine von anderer Hand aufgezogene Uhr. Jetzt
0026erst, nach Beendigung der Sommerferien, beginnt seine künst-
0027lerische Thätigkeit, sein Walten auf der Bühne, und von
0028diesem Augenblick wird auch für uns die neue Direction
0029interessant. Die vielgerühmten und gewiß viel rühmens-
0030werthen Ersparnisse gehen ja den Kunstkritiker nicht näher an.
0031An sich von unbestrittener Wichtigkeit, haben sie ja wol auch
0032den ersten Anstoß gegeben zur Berufung Jauner’s. Das Hof-
0033operntheater brauchte in seinen Finanz-Calamitäten zunächst
0034einen tüchtigen Administrator und Geschäftsmann. Als solcher
0035war Jauner bekannt. Ueberdies hatte er sich unter den Augen
0036von ganz Wien als energischer, erfolgreicher Bühnenleiter,
0037als eminenter Regisseur, endlich als ein feingebildeter, geist-
0038reicher Schauspieler erprobt — eine helle Aussicht nach drei 
0039Seiten auf Jauner’s neue Thätigkeit. „Aber er ist ja kein
0040Musiker!“ hört man oft einwenden. Musiker von Fach aller-
0041dings nicht, aber so recht was man einen „geschmackvollen
0042Kenner und Liebhaber“ zu nennen pflegte, von Hause aus
0043musikalisch, von Jugend auf Sänger und Pianist, seit De-
0044cennien endlich Vertrauter des Opernlebens und Opernwesens
0045unserer Zeit. Daß ein Hofopern-Director Musiker von Fach
0046sein müsse, daß vielleicht gar hierin seine nothwendigste Qua-
0047lität bestehe, gehört zu den dilettantischen Vorurtheilen. Die
0048fachmäßige Musikkenntniß im Operntheater repräsentiren die
0049Capellmeister, nicht der Director. Lieben und schützen soll er
0050die Tonkunst, er braucht nicht mit ihr verheiratet zu sein.
0051Die Fähigkeit, ein Theater gut zu leiten, steht unabhängig
0052von eigenen musikalischen Leistungen, ist ein Talent, eine
0053Wissenschaft, eine Kunst für sich. Jauner hat im Carl-
0054Theater gezeigt, wie man als Director ein großes Per-
0055sonal streng und doch liebenswürdig in Zucht halten, tüch-
0056tige Kräfte gewinnen, ein anziehendes Repertoire gestalten
0057und beleben kann; er hat als Regisseur gezeigt, wie
0058ein Stück glänzend in Scene zu setzen und selbst gering-
0059fügigen Novitäten durch ein musterhaftes Zusammenspiel
0060Wirkung abzuzwingen sei. Mit lebhaftem Interesse sah ich ihn
0061manchmal bei Proben jedem Einzelnen nicht blos erklären,
0062sondern selber zeigen, wie dies und jenes zu machen war.
0063Hier half dem Director der eigene Schauspielerberuf. Und
0064von diesem hoffen wir eine günstige und erhebliche Einwir-
0065kung auf die Vorstellungen im Opernhause, eine Einwirkung,
0066wie sie bisher von keinem Director dieses Theaters ausge-
0067gangen ist, noch ausgehen konnte. Es nahm uns Wunder,
0068in den zahlreichen Journal-Artikeln, welche Jauner als neuen
0069Operndirector begrüßten, diese seine Eigenschaft als Schau-
0070spieler so gut wie gar nicht betont zu finden. Sie ist ein
0071völlig Neues in dem gegenwärtigen Verhältniß und mit das
0072Interessanteste. Ich gestehe gern meine Vorliebe für Jau-
0073ner’s schauspielerische Leistungen; ein feines, durch vielseitige
0074Bildung geschärftes Talent für charakteristische Darstellung
0075waltete bald gemüthvoll durchwärmt, bald übermüthig be-
0076lebt in seinen größeren Rollen. Wie oft sah man ihn nicht
0077mit einer virtuosen Charakterfigur den Preis des Abends
0078davontragen und Tags darauf in einer bescheidenen Neben-
0079rolle mit gleichem Eifer für das Ganze mitwirken. Was es 
0080einen solchen, in voller Frische wirkenden Schauspieler kosten
0081mag, auf die Freude des Selbstschaffens und Selbstspielens,
0082auf die liebgewohnte Musik des Händeklatschens und Bravo-
0083rufens mit Einemmale zu verzichten, das dürften viele von
0084Jauner’s jüngsten Gratulanten gar nicht ahnen. Möge ihm
0085selbst und uns ein Ersatz werden in der neuen Verwerthung
0086seines Darstellertalentes zum Frommen unserer Opernsänger.
0087Diese waren bisher sich so gut wie selbst überlassen in Bezug
0088auf dramatische Charakteristik, Declamation und Mimik,
0089sogar in Bezug auf die Maske. Freilich wird keine Unter-
0090weisung im Stande sein, das mangelnde dramatische Talent
0091zu ersetzen und den Opernsänger zugleich zum Charakter-
0092spieler umzuschaffen. Das Publicum stellt auch thatsächlich
0093mäßige Anforderungen nach dieser Richtung und wird bei
0094vortrefflichem Gesang sich wol jederzeit mit einer bescheide-
0095nen Ausfüllung der dramatischen Contouren begnügen.
0096Aber die Contouren selbst sollen richtig sein. In vielen
0097Leistungen am Hofoperntheater sind sie das schlechterdings
0098nicht, vielleicht blos darum, weil dem Darsteller die wün-
0099schenswerthe Führung fehlte.


0100Um eine der bekanntesten Vorstellungen als Beispiel zu
0101wählen — was wird Herr Jauner nicht Alles in Gounod’s
0102Faust“ zu corrigiren haben, falls er die Aufführung mit
0103derselben strengen Wachsamkeit prüft, wie vordem im Carl-
0104Theater! Im ersten Act agirt Herr Adams den Faust wie
0105einen vom Schlagfluß gerührten achtzigjährigen Greis, der
0106an Händen und Füßen zittert. Und dieser lebensmüde
0107Pfründner, dem wir höchstens noch den Wunsch nach einem
0108soliden Strohsacke zum Sterbelager zutrauen, proclamirt
0109ungeduldig seine Sehnsucht nach Liebeslust und schönen
0110Frauen! Das sind Mißgriffe, die man einem sonst ver-
0111ständigen Künstler mit zwei Worten klarmachen und abstellen
0112kann. Was soll man vollends von der unglaublichen Figur
0113sagen, die Herr Scaria aus dem Mephisto macht? Er spielt
0114den „Geist, der stets verneint“, ungefähr wie den Marcell in
0115den „Hugenotten“, nur noch derber, bequemer und breit-
0116spuriger. Wenn das Dämonische, Ironisch-Aetzende Me-
0117phisto’s Herrn Scaria durchaus versagt (seine Persönlichkeit
0118reagirt allerdings gegen die Rolle), so sollte er doch
0119wenigstens in allem Aeußerlichen, in Maske und Haltung
0120das leicht Erreichbare anstreben. Herr Scaria verschmäht [2]
0121dies fast demonstrativ, er unterläßt sogar jede Andeutung
0122des Hinkens und legt in den drei letzten Acten auch das
0123nothdürftig schützende Mäntelchen ab, damit nur die Figur
0124noch derber und landsknechtmäßiger erscheine. Ein erster
0125Opernsänger könnte sich doch leicht einmal ansehen, wie
0126Lewinsky und Lobe als Mephisto gekleidet oder ge-
0127schminkt sind, wie sie gehen und stehen. Wir acceptiren ja
0128willig jede Darstellung, welche diesen schillernden Charakter
0129bei Einer wesentlichen Seite anfaßt; man gebe uns den
0130Mephisto als grinsenden Teufel oder als humoristischen
0131Schalk, nur nicht als Bierhalle!


0132Eine Albernheit, welche dem französischen Librettisten
0133zur Last fällt, ist es, daß Mephisto im zweiten Acte sich
0134vor der Kreuzform ihm vorgehaltener Schwertgriffe fürchtet.
0135Mephisto, der Gretchen im Beichtstuhle belauscht, Mephisto,
0136der als der weltläufigste und weltmännischeste unter seinen
0137Collegen zur Versuchung Faust’s ausersehen ward, sollte in
0138Krämpfe verfallen bei dem Anblick eines Schwertgriffes!
0139Da hätte ja der Herr statt eines Teufels einen Esel auf die
0140Erde entsendet. Die Scene kann man nicht füglich
0141streichen, wol aber durch die Darstellung sehr mildern,
0142indem Mephisto die unbequeme Geschichte möglichst
0143passiv an sich vorübergehen läßt und sich dann nicht
0144viel unglücklicher abschüttelt, als ein begossener Pudel.
0145Wollen doch die frommen Bürger mittelst der Kreuze
0146nur sich selbst schützen vor dem Bösen. Herr Scaria würzte
0147letzthin seine krampfhaften Zuckungen sogar durch einen
0148Schrei. Eine andere ganz leicht zu beseitigende Ungereimt-
0149heit verstimmt uns regelmäßig am Schlusse der Domscene:
0150Mephisto’s brutales Heraustreten aus der Coulisse mit dem
0151Ausrufe: Sei verflucht! Mag der Componist die Worte,
0152mit denen bei Goethe „ein böser Geist“ Gretchen bis zur
0153Verzweiflung ängstigt, immerhin von einer Baßstimme, der
0154des Mephisto, singen lassen, unsichtbar muß dessen Ge-
0155stalt jedenfalls bleiben, auch bei den letzten Worten; denn
0156wenn Gretchen sieht, daß es nur Mephisto ist, der ihr flucht, so
0157wird dies ihren Schmerz schwerlich bis zum Wahnsinn steigern.
0158In der französischen Partitur wird man auch vergebens nach
0159einer Andeutung suchen, daß Mephisto mit den Worten:
0160Marguerite, à toi l’enfer!“ leibhaftig vor Gretchen hin-
0161treten soll. In Deutschland empfinden wir dergleichen Unge
0162reimtheiten und Mißhandlungen des „Faust“-Dramas weit
0163ärgerlicher als in Frankreich und erachten es daher für
0164Recht und Pflicht unserer Theater-Directoren, das leicht zu
0165Aendernde mit einem Machtwort auch wirklich zu ändern.
0166Es bedarf wol kaum der Versicherung, daß ich es in diesem
0167Zusammenhange nicht auf einen Tadel des Herrn Scaria 
0168gemünzt hatte, den ich ob mancher gelungenen Leistung —
0169den prächtigen Falstaff vor Allem — oft und gerne ge-
0170rühmt. Habe ich doch Scaria’s Mephisto wiederholt mit
0171Unbehagen gesehen, ohne Aufhebens davon zu machen, mei-
0172nend, der Künstler werde sich bei der nächsten Wiederholung
0173gründlicher und eifriger der Rolle annehmen. Vielleicht
0174hätte er es auch gethan, wäre ihm der Rath eines in der
0175Schauspielkunst bewährten Directors zu Theil geworden. Es
0176sollte hier an einem nächstliegenden Beispiel lediglich gezeigt
0177werden, was wir gerade von Herrn Jauner in dieser Rich-
0178tung erwarten: eine aufmerksame dramaturgische Führung.
0179Wir hoffen bald berichten zu können, wie angelegen der
0180neue Director es sich sein läßt, nicht blos dem Hof-Aerar
0181Geld, sondern auch dem Zuschauer Aergerniß zu ersparen.


0182Die ersten Wochen der neuen Direction waren, wie
0183gesagt, ein bloßes Präludium, und konnten mehr nicht sein.
0184Trotzdem hat es Herr Jauner inmitten seiner finanziellen
0185Clausurarbeiten nicht an Rührigkeit fehlen lassen; ich erinnere
0186an die Vorführung des Verdi’schen Requiems, das er in
0187der elften Stunde den Händen unserer „Gesellschaft der
0188Musikfreunde“ entwand, und an die trefflichen „Aïda“-Auf-
0189führungen in italienischer Sprache unter Verdi’s Leitung.
0190Endlich an das Gastspiel der Frau Mallinger, dieses
0191den Wienern so lange unbekannt gebliebenen Sterns, über
0192dessen Unerreichbarkeit wir uns jetzt allerdings weniger
0193grämen. Gegenwärtig florirt aufs beste das Gastspiel einer
0194Berliner Primadonna, welche sich gewissenhaft Frau
0195Kupfer-Berger schreibt, die wir aber lieber ohne
0196montanistische Härten und Längen Frau Berger nennen
0197wollen. Frau Berger also sang gestern die Alice in „Ro-
0198bert“ recht beifällig, ohne damit noch den Namen einer
0199fertigen Künstlerin ansprechen zu können. Die Natur ist nicht
0200stiefmütterlich an der jungen Dame vorbeigegangen, sie hat
0201ihr eine wohlklingende, weiche, auch für anstrengende Scenen
0202ziemlich ausreichende Sopranstimme mitgegeben, dazu ein 
0203freundlich ansprechendes, blühendes Aeußere. Ihre musika-
0204lische Technik ist nicht fertig, nicht vollkommen sicher; der
0205musikalischen Phrase fehlt die scharfe Plastik, es kommt Vie-
0206les verschwommen oder verwischt zum Vorschein, der Ansatz
0207häufig tremolirend, die Intonation mitunter schwankend.
0208Der dramatische Ausdruck traf überall das Angemessene, doch
0209ohne Eigenthümlichkeit, ohne reiches inneres Leben. Das
0210selbe gilt von dem Spiel der Frau Berger, das durchweg
0211anständig und keineswegs ohne Lebendigkeit, doch mehr
0212äußerlich angepaßt war, als aus dem Innern quellend. Wir
0213möchten Frau Berger nicht etwa rathen, „mehr“ zu spielen,
0214auf die Quantität kommt es nicht an, und schon das „viel“
0215ist meistens vom Uebel. Wer von Haus aus alles Darzu-
0216stellende gleich dramatisch anschaut und tief empfindet, der
0217wirkt mit einem Blick, einem Ton überzeugender, rührender,
0218als der gewandteste Vielspieler mit einem ganzen Arsenal
0219von Gesten. Aber jene Gabe ist nicht weniger ein Geschenk
0220des Himmels, als eine schöne Stimme, und wol ein noch
0221selteneres. In dem spärlichen Beete nachwachsender deutscher
0222Primadonnen gehört Frau Berger jedenfalls zu den werth-
0223volleren Pflanzen, wenigstens ist sie in der Blüthe.


0224Eine von Herrn Jauner durchgeführte Reform, die
0225wir mit besonderem Dank begrüßen, ist die Tieferlegung
0226des Orchesters — eine Wohlthat für die Stimme des
0227Sängers, wie für das Auge des Zuschauers. Hingegen läßt
0228man leider den kaum erst beseitigten Mißbrauch des Hervor-
0229rufes bei offener Scene wieder lustig ins Kraut schießen.
0230Vielleicht ein Rückschlag gegen die Pedanterie, welche noch
0231vor Kurzem den Ballet-Tänzerinnen bei Strafe untersagte,
0232nach einem applaudirten Bravoursolo mit einem Knix zu
0233danken. Keine Pedanterie ist’s hingegen, sondern einfach eine
0234Forderung des ästhetischen Anstandes, wenn wir den drama-
0235tischen Zusammenhang in der Oper uns nicht jeden Augen-
0236blick durch eine Unsitte wollen zerreißen lassen, welche auf
0237den angesehensten Bühnen niemals geduldet war und jetzt
0238allmälig von den meisten großen Theatern verbannt wird.
0239Interessant bleibt es immerhin, zu beobachten, wie unendlich
0240schwer ein anerkannt nothwendiges und wiederholt sanctio-
0241nirtes Verbot aufrechtzuerhalten ist, wenn auf der einen
0242Seite die Eitelkeit zahlreicher Sänger agitirt und auf der
0243andern nichts als — die gesunde Vernunft.