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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3968. Wien, Samstag, den 11. September 1875

[1]

Zur Pflege der Musik in Frankreich.


0002Ed. H. Die Elasticität, mit welcher Frankreich nach so
0003furchtbarer Niederlage sich aufgerichtet, die Rüstigkeit, mit
0004der es an der Wiederherstellung seines volkswirthschaftlichen
0005und geselligen Glanzes arbeitet, sie haben in der Publicistik
0006gerechte Anerkennung längst gefunden. Allein auch in der
0007Pflege und Aufmunterung der schönen Künste bleibt die
0008neue Republik nicht zurück hinter der Monarchie. In Frank-
0009reich betrachtet man das als eine nationale Ehrensache, der
0010weder die Individualität des Staatsoberhauptes noch der
0011Regierung hindernd in den Weg treten darf. Um speciell
0012von der Musik zu sprechen, so hat Louis Napoleon seine
0013gänzlich unmusikalische Person überall willig hergeliehen, wo
0014es sich um eine glänzende Ermunterung französischen Musik-
0015lebens handelte. Die Republik, diese sparsamste, geschäfts-
0016mäßigste unter den Regierungsformen, kann für den holden
0017Luxus der Künste unmöglich schwärmen; in Frankreich hält
0018sie trotzdem jene Traditionen mit fast demonstrativem Eifer
0019aufrecht. Es kann nicht schaden, manchmal über die Grenzen
0020des eigenen Vaterlandes auszuschauen nach dem, was ander-
0021wärts von staatswegen für die Kunst geschieht; auch das
0022nicht unmittelbar Nachahmbare mag uns zielzeigend oder
0023wenigstens anregend nützen. Gerade in jüngster Zeit, in dem
0024einzigen Monat August, folgten einander in Paris eine Reihe
0025von Maßregeln und Demonstrationen, durch welche der
0026Staat und die Stadt ihren Eifer für musikalische Inter-
0027essen kundgaben.


0028Das Budget der Stadt Paris systemisirt eine jährliche
0029Auslage von 250,000 Francs zur Förderung der „schönen
0030Künste“, worunter jedoch ausdrücklich nur Malerei, Sculp-
0031tur und Kupferstecherkunst verstanden waren. Die Musik
0032erfreute sich einer Subvention nur für die sogenannten
0033„Orphéons“, die Liedertafeln und Gesangvereine, welche,
0034von Oben in jeder Weise begünstigt, sich zu besonderen
0035Lieblingen des französischen Volkes aufgeschwungen haben.
0036In der letzten Gemeinderathssitzung stellte der Municipal-
0037rath Herold (Sohn des berühmten Compositeurs der 
0038Opern „Zampa“, „Zweikampf“ etc.) den Antrag, es sei in
0039das Budget der Stadt Paris auch für musikalische 
0040Zwecke ein Posten, und zwar von jährlich 10,000 Francs
0041einzustellen. Dieser mit warmen, beredtsamen Worten
0042empfohlene Antrag fand sofort einhellige Zustimmung, und
0043die genannte Summe, deren Widmung „einen allgemeinen
0044Charakter tragen und keine Gattung Musik ausschließen
0045soll“, wird von nun an alljährlich zur Hebung gediegener,
0046volksthümlicher Musik in Paris verwendet. Der Präfect
0047äußerte ausdrücklich die Zuversicht, daß diese für den An-
0048fang bescheidene Summe sehr bald anwachsen werde. *)


0072Die feierliche Preisvertheilung im Conservatorium 
0073bietet alljährlich der französischen Regierung einen willkom-
0074menen Anlaß, das Interesse des Staates an dem musika-
0075lischen Unterricht zu documentiren. Sah ich doch selbst bei
0076den dieser Feierlichkeit vorangehenden Prüfungs-Productionen
0077den greisen Marschall Vaillant (Minister der schönen
0078Künste unter Louis Napoleon) an der Seite Auber’s sitzen
0079und die Leistungen der Schüler mit aufmunterndem Beifalle
0080verfolgen. Diesmal (am 4. August) erschien der Minister des
0081Cultus, des Unterrichts und der schönen Künste, Mr. Wal
0082lon, begleitet von seinem Staatssecretär und mehreren
0083höheren Beamten, bei der Preisvertheilung und hielt da-
0084selbst eine in ihrem Inhalte bemerkenswerthe, in der Form
0085musterhaft elegante Ansprache. Man konnte sie fast eine
0086artistische Thronrede nennen, da sie alle musikalisch und
0087theatralisch denkwürdigen Ereignisse des abgelaufenen Jahres
0088Revue passiren und daneben verlauten ließ, was für die
0089nächste Zukunft vorbereitet oder wünschenswerth sei. Der
0090Minister beklagte zuerst den Verlust mehrerer Tonsetzer,
0091Dichter, Lehrer, und nannte auch die Namen jener Sänger
0092und Schauspieler (Couderc, Melingue, Grenier, Caroline
0093Duprez etc.), welche der Tod vor Kurzem weggerafft. Diese
0094Verluste sind schmerzlich, aber die Kunst ist unsterblich und
0095macht in öffentlichen Festen das Gedächtniß ihrer Auser-
0096wählten wiederaufleben.“ Solch ein Fest, fuhr der Redner
0097fort, war das jüngst in Rouen gefeierte hundertjährige Jubi-
0098läum Boieldieu’s. Aehnliche Ehren stehen demnächst
0099dem Tondichter bevor, dessen Name gleich dem Boiel-
0100dieu’s unzertrennlich ist von der Komischen Oper:
0101Auber. Wenn die Vorsehung ihm nur noch einige
0102Jahre geschenkt hätte, Auber würde selbst seinen
0103hundertsten Geburtstag gefeiert haben, „und gewiß hätte er’s
0104mit einem jener Werke gethan, deren unsterbliche Jugend die
0105Hand der Zeit entwaffnet“. Mit kurzen Worten charakterisirt
0106hierauf der Minister den gegenwärtigen Zustand der Theater.
0107Es sei zu hoffen, daß eine Bühne von so reichem Repertoire,
0108wie die Opéra Comique, sich aus momentanem Herab-
0109sinken bald wieder erheben werde. Die Pracht der Großen
0110Oper
locke Besucher aus allen Theilen der Welt herbei;
0111aber gerade dieses außerordentliche Zuströmen verpflichte den
0112Director zu vermehrten Anstrengungen. Die Große Oper
0113bedarf neuer Sänger und neuer Werke. Sie allein kann
0114übrigens dem musikalisch-dramatischen Fortschritt nicht ge-
0115nügen; um überhaupt auf diese Bühne zu gelangen als
0116Sänger oder Componist, muß man einen Namen haben,
0117und um diesen zu erlangen, ein Theater. Für diesen Zweck
0118war vor einer Anzahl Jahren ein anderes Operntheater, das
0119Théâtre Lyrique, gegründet worden. Es bildete gleich-
0120sam einen Vorsaal zur Großen Oper, jedoch mehr als eine
0121bloße Versuchsbühne, denn Opern wie Gounod’s „Faust“ [2]
0122und „Romeo“ waren für dasselbe geschrieben. Dieses durch
0123die Brandlegungen der Commune zerstörte Théâtre Lyrique,
0124für welches die National-Versammlung in Hoffnung auf sein
0125Wiederaufleben eine Subvention von 100,000 Francs votirt
0126und aufbewahrt hat, sieht jetzt seiner Wiedereröffnung ent-
0127gegen.


0128Der Schluß der ministeriellen Ansprache betrifft das
0129Conservatorium und die durch Ambroise Thomas ein-
0130geführten Gesammt-Productionen der Zöglinge, ein wohlthä-
0131tiges „Präludium zur großen Oeffentlichkeit“. Aber nicht blos
0132die Musik, auch die Declamation und Schauspielkunst besitzt
0133in dem Pariser Conservatorium eine berühmte Schule, wel-
0134cher das Théâtre Français zu fortwährendem Danke ver-
0135pflichtet ist. Dieses Theater dürfe stolz sein auf den Erfolg
0136seines jüngsten Dramas: „La Fille de Roland“, „der beweist,
0137daß das Gefühl für Edles und Erhabenes weder bei den
0138Autoren, noch bei den Schauspielern, noch endlich bei dem
0139Publicum von heute verloren gegangen sei“. Meines Wissens
0140ist Frankreich das einzige Land, wo die Staatsregierung
0141ihren Antheil an der heimischen Kunst so eclatant bekennt,
0142daß sie durch den Minister den Erfolg einer Schaubühne be-
0143glückwünscht und die jüngstverstorbenen Lieblinge des Theater-
0144Publicums durch ein Wort der Trauer ehrt. Manches, womit
0145bei solchen Anlässen die französische Regierung ihren Respect
0146vor der Kunst documentirt, besteht allerdings in Worten und
0147kommt mehr der persönlichen oder nationalen Eitelkeit als
0148dem praktischen Bedürfniß entgegen — möge man es
0149darum nicht gering anschlagen und niemals vergessen, daß
0150unter Jenen, welche „nicht vom Brot allein leben“,
0151überall die Künstler obenan stehen. Das gute Beispiel der
0152Regierung wirkt auch auf das große Publicum, aus dessen
0153Mitte immer einige Kunstfreunde mit materiellen Unter-
0154stützungen nachrücken. So spendete zu dieser Preisverthei-
0155lung, wie schon zu früheren, die Witwe Erard zwei Con-
0156certflügel für den besten männlichen und den besten weib-
0157lichen Zögling der Clavierschule. Es kamen ferner zwei
0158Jahresrenten von 500 und von 300 Francs zur Verthei-
0159lung, welche Madame Ravinet, und eine Jahresrente
0160von 300 Francs, welche die Witwe Guérineau für
0161immerwährende Zeiten zu Gunsten hervorragender Conser-
0162vatoriums-Zöglinge gestiftet. Eine von der Witwe Leprince 
0163gestiftete Subvention von 3000 Francs wurde unter die
0164Laureaten des Grand prix de Rome getheilt. So folgt
0165dem lobenden Worte von Oben gerne die helfende That
0166von Unten.


0167Erwähnen wir gleich hier des letzten Jahresberichtes
0168der vom Baron Taylor gegründeten „Association dra-
0169matischer und musikalischer Künstler“, welche Pensionen an
0170alte oder erwerbsunfähige Künstler vertheilt. Die Musik-
0171zeitung Le Ménéstrel veröffentlicht diesen Bericht mit dem
0172Bemerken, es erscheine der Pensionsfonds für die Musiker zu
0173gering und für den nächsten Bedarf kaum ausreichend.
0174Diese Bemerkung begleitet der unermüdlich thätige Heraus-
0175geber Mr. Heugel auf der Stelle mit einer Subscription
0176von 500 Francs für jenen Fonds, „um Anderen mit gutem
0177Beispiel voranzugehen“.


0178Kehren wir zu den Theatern zurück, so finden wir
0179deren fünf in Paris, welche von der Regierung subventio-
0180nirt sind. Die National-Versammlung hat die betreffenden
0181Commissions-Anträge ohne Debatte angenommen und für
0182das nächste Jahr folgende Subventionen bewilligt: Große
0183Oper
: 800,000 Francs; Théâtre Français:
0184240,000 Francs; Opéra Comique: 140,000 Francs;
0185Odéon: 60,000 Francs; Théâtre Lyrique:
018697,000 Francs. Nachdem die vorjährige Subvention von
0187100,000 Francs für das Théâtre Lyrique unberührt geblie-
0188ben ist, wird dessen Director, Herr Campo-Casso, in
0189der beneidenswerthen Lage sein, sein Amt mit einem Zu-
0190schuß von beinahe 200,000 Francs für das erste Jahr an-
0191zutreten. Der Eifer, mit welchem alle die Kunst berühren-
0192den Journale und Vereine, dann die Behörden und legalen
0193Vertretungen in Frankreich für die Wiederherstellung und
0194Subventionirung des Théâtre Lyrique kämpften, verdient die
0195rühmendste Anerkennung. Ohne Widerspruch wurde geltend
0196gemacht, daß zwei subventionirte Opernbühnen für Paris 
0197nicht genügen, daß vielmehr neben der Großen und der
0198Komischen Oper das Théâtre Lyrique eine künstlerische Noth-
0199wendigkeit sei, ein Institut, dessen rühmliche Vergangenheit
0200ebensowenig vergessen, wie seine Zukunft untergraben werden
0201dürfe. Wäre in Wien für unsere so verheißungsvoll aufge-
0202blühte und so traurig verdorrte „Komische Oper“ der zehnte
0203Theil von dem geschehen, was Paris seinem dritten Opern
0204hause an moralischem und materiellem Succurs leistete, das
0205schöne Theater am Schottenring stände heute nicht verwaist.
0206Die französische Regierung subventionirt außer den fünf
0207Theatern noch das Conservatorium, und zwar für das
0208nächste Jahr mit dem Betrage von 224,000 Francs.
0209„C’est bien peu!“ ruft der Ménéstrel aus.


0210Seit einigen Wochen besitzt Frankreich noch eine ganz
0211neue Institution zu Gunsten der schönen Künste. Es ist
0212dies der „Conseil supérieur des beaux arts“.
0213welcher soeben unter dem Vorsitze des Unterrichtsministers
0214seine erste Sitzung gehalten hat. Dieser Oberste Kunstrath
0215soll durch seine Permanenz jeder Veränderlichkeit der Mini-
0216sterien widerstehen und alle seine Arbeiten ruhig fortsetzen
0217und beenden können, ohne sich um die Fluctuationen der
0218Politik zu kümmern. Also ein dem Unterrichtsministerium
0219beigeordneter selbstständiger Senat, welcher, „stabil und doch
0220aus sich selbst erneuerbar, ebensosehr die Traditionen be-
0221wahren, als den Geist des Fortschrittes in sich aufnehmen
0222soll“. Dieser Rath ist zusammengesetzt aus zwölf Künstlern
0223(sechs Maler, zwei Bildhauer, zwei Architekten, ein Kupfer-
0224stecher, ein Tonkünstler), aus zwei Mitgliedern der Académie
0225des inscriptions et belles lettres, dem ständigen Secretär
0226der Akademie der schönen Künste und dem Seine-Präfecten:
0227ferner aus den Directoren des Conservatoriums, der Kunst-
0228schule, der Civilbauten, der Museen, einem Mitgliede für
0229die Porcelan-Manufactur von Sèvres, endlich aus acht
0230durch ihre Kunstkennerschaft ausgezeichneten Männern. Als
0231Präsident fungirt der Minister, als Vice-Präsidenten sein
0232Staatssecretär und der Director der schönen Künste. Der
0233Oberste Kunstrath versammelt sich Einmal in jedem Monate
0234und gibt in allen die Kunst betreffenden Fragen, über Aus-
0235stellungen, Preisausschreibungen, Anschaffungen von Kunst-
0236werken etc., sein Votum ab.


0237Diese Zusammenstellung von Thatsachen aus aller-
0238jüngster Zeit bezeugt jedenfalls, daß die französische Re-
0239publik die schönen Künste und deren Repräsentanten als
0240einen der wichtigsten Bestandtheile des nationalen Ruhmes
0241ansieht und ermuntert. In Deutschland lieben die Höfe und
0242Regierungen — vielleicht aus Verehrung für Schiller —
0243die Huldigung der Künste; in Frankreich finden wir
0244wenigstens neben dieser auch eine Huldigung den Künsten.

Fußnoten
  • *)Die erste Verwendung dieser 10,000 Francs wurde folgen-
    dermaßen beschlossen:
    1. Preis von 300 Francs und einer von 200 Francs für
    jene zwei Volksschullehrer, welche die besten Musikzöglinge in ihrer
    Schule aufzuweisen. 500 Francs.
    2. Drei Medaillen zu 500 Francs für die drei vorzüglichsten
    Privat-Musik-Institute. 1500 Francs.
    3. Ein jährlicher Preis von 3000 Francs für das bedeutendste
    nichttheatralische Tonwerk (Symphonie, Cantate, etc.). 3000 Francs.
    4. Zwei Preise zu 500 Francs für jene Privat-Gesangvereine,
    welche den besten Frauenchor auszubilden. „Denn wir brauchen
    in Frankreich,“ heißt es in der Motivirung, „solche Chöre von
    Diletantinnen, um die großen Werke von Bach und Händel 
    regelmäßig aufführen zu können.“ 1000 Francs.
    5. Zwei Preise zu 1000 Francs für einen einstimmigen, von
    dem Volke unisono vorzutragenden Gesang patriotischen Inhalts
    und einen solchen vierstimmigen für die Pariser Orphéons. Die
    Poeten erhalten für den Text je 500 Francs. „Es sollen keine
    kriegerischen
    Lieder sein, sondern vaterländische Gesänge ohne
    Bezug auf Krieg und Politik.“
    6. Ein jährlicher Betrag von 1000 Francs soll die Kosten der
    vorgeschriebenen Musikprüfung für Mädchen bestreiten, welche sich
    dem Lehramt widmen.