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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3982. Wien, Samstag, den 25. September 1875

[1]

Die Zuschauer auf der Bühne.


0002Ed. H. Es ist von eigenthümlichem Reiz, zu beobachten
0003welchen Einfluß der äußere Apparat des Theaters auf die
0004dramatische Kunst selbst, auf Dichter und Schauspieler zu
0005verschiedenen Zeiten ausgeübt hat. Frankreich, an seltsamen
0006Theatergebräuchen das reichste und in ihrer Aufrechthaltung
0007das conservativste Land, bietet ein lohnendes Feld für solche
0008Studien. Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts gewährte
0009die Bühne der Comédie Française und der Großen Oper
0010in Paris einen ebenso prächtigen als dramatisch widersinnigen
0011Anblick. Auf der Bühne befanden sich nämlich zu beiden
0012Seiten der Schauspieler Bänke für ein elegantes Publicum,
0013welches beinahe ein Drittheil des ganzen Bühnenraumes in
0014Beschlag nahm. Noch Goethe erlebte einen Nachklang dieser
0015Sitte in Deutschland; er erzählt uns im dritten Buch von
0016Wahrheit und Dichtung“ von den Zuschauern auf der
0017Bühne bei den französischen Theater-Vorstellungen zu Frank-
0018furt. In Paris erschien soeben eine mit Abbildungen und
0019Plänen illustrirte Monographie von A. Jullien: „Les
0020spectateurs sur le théâtre“, deren urkundliches, bisher un-
0021veröffentlichtes Material die französischen Theater-Archive
0022geliefert haben. Auch für deutsche Kunstfreunde dürfte Vieles
0023daraus von Interesse sein.


0024Das Erscheinen von Zuschauern auf der Bühne datirt
0025von den ersten bescheidenen Localitäten des französischen
0026Schauspiels. Wiederholt hatte die Comédie Française in so-
0027genannten Ballhäusern ein Asyl suchen müssen, wo die Zu-
0028schauer ganz nach Belieben Platz nahmen. Als der Besuch
0029sich nachhaltig steigerte, postirte man Stühle auf die Bühne
0030aus Nothbehelf für die im Saale nicht mehr unterzubringen-
0031den Zuschauer. Bald aber bestanden die Cavaliere, die Finan-
0032ciers, die Stutzer auf dem Vorrecht, regelmäßig diese Plätze
0033einzunehmen, welche ihre Eitelkeit und den galanten Verkehr
0034mit Schauspielerinnen begünstigten. So blieb denn diese Un-
0035sitte zum schweren Nachtheile der Kunst, aber zum Vortheile
0036der Kasse auch dann aufrecht, als die Comédie Française in
0037das neue Theater, Rue des Fossés Saint-Germain, über
0038siedelte. Es wurde am 18. April 1689 mit „Phädra“ und
0039dem „Médecin malgré lui“ eröffnet. Der Zuschauerraum
0040hatte drei Logenreihen, Parquet und Amphitheater; die Mu-
0041siker spielten auf einem Balcon, da der jetzige Orchester-
0042raum als „Stehparterre“ für Herren diente. Die auf der
0043Bühne rechts und links angebrachten Zuschauerbänke redu-
0044cirten die Breite der Scene auf fünfzehn, die Tiefe auf elf
0045Fuß; außerdem stand, ohne bestimmte Plätze, eine Menge von
0046Zuschauern im Hintergrunde und bildete eine Art Cercle um die
0047Schauspieler. Hier machten sich die Prunksucht, das Gecken-
0048thum, oft sogar die Trunkenheit der Lebemänner breit und
0049zerstörten jede dramatische Illusion. Konnte es etwas Un-
0050wahrscheinlicheres geben, als daß ein König in geheimer
0051Unterredung mit seinem Vertrauten oder ein einsam glück-
0052liches Liebespaar von zweihundert Personen umringt war?
0053Während der ganzen Vorstellung, die tragischesten Scenen
0054nicht ausgenommen, dauerte das Gewäsch und Geschwätz
0055auf der Bühne. Diese Flügelmänner des Reichthums und
0056der Mode gingen, von Lakaien begleitet, beliebig aus und
0057ein, plauderten, gähnten und lachten, während die Schau-
0058spieler ihre ganze Stimmkraft anstrengten, um den Lärm
0059zu übertönen. Oft wußte man nicht, ob der junge Herr,
0060der eben eintrat, der Liebhaber der Comödie sei, der seine
0061Rolle spiele. Der Schauspieler verfehlte fast immer seinen
0062Eintritt, kam zu früh oder zu spät, wie ein Gespenst trat
0063er aus der Zuschauermenge hervor, und wie ein Gespenst
0064verschwand er in derselben, ohne daß man sein Abgehen be-
0065merkte. Bei einer Vorstellung von Favart’s „Acajou“ war
0066die Bühne so dicht angefüllt mit Zuschauern, daß nur ein
0067einziger Schauspieler zum Auftreten kam, und Racine’s
0068Athalie“ konnte einmal (1739) aus demselben Grunde
0069nicht weitergespielt werden. Diese stabile Einengung der
0070Scene erklärt theilweise die unerbittlich strenge Beobachtung
0071der „Einheit des Ortes“ in den älteren französischen Dra-
0072men. Denn wie wäre es unter solchen Verhältnissen leicht
0073möglich gewesen, von Scene zu Scene den Palast in einen
0074Marktplatz, das Zimmer in einen Garten zu verwandeln?


0075Alle erleuchteten Köpfe sprachen gegen diesen unleid-
0076lichen Mißbrauch; vergebens war ihr Rathen und Rügen.
0077Auch die Schauspieler litten nicht wenig unter der unwill
0078kommenen Nachbarschaft und hätten sie gerne verbannt,
0079wäre nur das pecuniäre Interesse nicht so mächtig gewesen.
0080Wie viel Unziemliches und Lächerliches ereignete sich nicht
0081fortwährend auf der von Stutzern belagerten Bühne der
0082Comédie Française. Bei einer Aufführung von Dancourt’s
0083Opéra de village“ (1694) schritt der Marquis de Sablé 
0084halbbetrunken auf seinen Bühnensitz zu, als gerade Dancourt 
0085die Verse zu singen hatte: „Nos prés, nos champs seront
0086sablés.“ Herr v. Sablé argwöhnte eine Anspielung auf
0087seinen Namen und ohrfeigte sofort den Schauspieler, welcher
0088die Beleidigung stillschweigend hinnehmen mußte. Eines
0089Abends erging sich die Schauspielerin Dumesnil als ver-
0090zweifelnde Kleopatra in wilden Lästerungen gegen die Göt-
0091ter — da versetzt ihr ein alter Officier mit dem Ausrufe:
0092„So geh’ zu allen Teufeln, du Aas!“ einen tüchtigen Stoß
0093in den Rücken. Dieser Ausbruch naiver Ergriffenheit unter-
0094brach die Vorstellung, wurde aber von der Künstlerin als äußerst
0095schmeichelhaft für ihr Spiel aufgenommen. Die Zuschauer-
0096bänke auf der Scene verschuldeten den Mißerfolg von mehr
0097als Einer Novität, unter anderen von Morand’s Tragödie
0098Childéric“. In einer der pathetischesten Scenen vermochte
0099nämlich der Schauspieler, welcher den entscheidenden Brief
0100zu überbringen hat, die Zuschauermenge nicht zu durch-
0101brechen und agirte wie verzweifelt mit seinem Papier. „Platz
0102für den Briefträger!“ brüllte eine Baßstimme aus dem
0103Parterre, das ganze Publicum brach in Gelächter aus, und
0104um die Wirkung der Tragödie war es geschehen.


0105Zum Ueberflusse standen auch noch das Publicum auf
0106der Bühne und jenes im Parterre in offener Feindseligkeit
0107zu einander. Was oben Applaus erhielt, wurde in der Regel
0108unten ausgezischt. In der ersten Aufführung von Molière’s
0109Ecole des femmes“, die im Parterre häufiges Gelächter
0110erregte, rief der Philosoph Plapisson von seinem Bühnensitz
0111jeden Augenblick höhnend herab: „So lache doch, dummes
0112Parterre, lache doch!“ Molière selbst kämpfte natür-
0113lich nach Kräften jene unsinnige Einrichtung; er that es
0114sogar in seinen Theaterstücken „Les fâcheux“ und „Le
0115Misanthrope“; aber der Dichter blieb machtlos gegen die
0116vornehmen Gecken, die sich auf der Bühne spreizten. Nur
0117das Eine setzte er durch, daß anstatt der ewig rutschenden [2]
0118Stühle unbewegliche Bänke angebracht wurden. Ein reicher
0119Gegner aus dem Parterre machte sich eines Tages den
0120Spaß, alle Krüppel und Buckligen, die er auf dem Pont-
0121Neuf auftreiben konnte, mit Billetten für jenen vornehmen
0122Platz zu versehen. Der Vorhang ging auf, und das Parterre
0123brach in ein tobendes Gelächter aus beim Anblick so vieler
0124Buckliger auf den vordersten Bänken der Bühne. Häufig
0125ging aber der Unfug weit über die Grenzen des Spasses.
0126Grobe Unordnungen, Prügeleien gaben Anlaß zu gericht-
0127licher Untersuchung und zu wiederholten königlichen Ordon-
0128nanzen, welche jede Ruhestörung im Theater verpönen und
0129namentlich den Officieren, Garden, Chevauxlegers und
0130Musketieren bei strenger Strafe verbieten, in das Theater
0131einzudringen, ohne zu bezahlen. Diese Verbote blieben jedoch
0132sämmtlich so gut wie erfolglos.


0133In der Oper, welche Maschinerie und Decorations-
0134wechsel nicht entbehren kann, bereiteten die Zuschauerbänke
0135auf der Bühne begreiflicherweise noch weit ärgere Verlegenheit.
0136Sie wurden deßhalb auch in der Académie de musique viel
0137früher abgestellt, als im Schauspiel. Italien hatte lange vor
0138Frankreich die Zuschauer von der Bühne verbannt. In
0139England gab es keine förmlichen Bänke auf der Scene, aber
0140eine Anzahl reservirter Stühle, welche halb auf der Bühne,
0141halb zwischen den Coulissen standen. Auch dieses bescheidenere
0142Arrangement verursachte manche Störung. Die schöne, ge-
0143feierte Mistress Bellamy erzählt selbst in ihren Memoi-
0144ren, wie sie auf der Bühne von einem unverschämten
0145Enthusiasten plötzlich rückwärts auf den Hals geküßt worden
0146sei. Empört dreht sie sich um und gibt dem zärtlichen Herrn
0147vor aller Welt eine Ohrfeige. Der Lord-Lieutenant Chester-
0148field applaudirt ihr demonstrativ aus seiner Loge, das Pu-
0149blicum folgt seinem Beispiel, und der arme Gemaßregelte
0150muß schließlich noch vortreten und das Publicum um Entschul-
0151digung bitten. Dieser Zwischenfall führte in England das defini-
0152tive Verbot herbei, Zuschauer zwischen die Coulissen zu postiren.


0153In Frankreich kämpft selbst ein Voltaire mit all
0154seinem Witz und Verstand jahrelang vergeblich gegen die
0155heillosen „Banquettes“ auf der Bühne. Ihrem Einflusse
0156schreibt er zum Theil die ermüdende Trockenheit (sécheresse)
0157zu, an welcher so viele französische Dramen leiden. Es sei 
0158eine vollkommene Action der Schauspieler und eine passende
0159Auswahl von Decorationen dadurch unmöglich gemacht. Nie
0160vergaß er die Unbill, welche seinem Trauerspiel „Semi-
0161ramis“ bei der ersten Aufführung (1748) widerfahren, wo
0162der seiner Gruft entsteigende Schatten des Ninus sich unter
0163allgemeiner Heiterkeit durch einen Schwarm von Gecken
0164durchdrängen mußte. Das Stück fiel unter der Wucht dieser
0165Lächerlichkeit. Zwei Jahre später mußte Voltaire den tragi-
0166schen Schluß seines „Oedipus“ ändern, um ihm nicht ein
0167ähnliches Schicksal wie der „Semiramis“ zu bereiten.


0168Fragt man, wie es möglich gewesen, daß alle vernünf-
0169tigen Einwendungen gegen einen unsinnigen Mißbrauch über
0170ein halbes Jahrhundert ohnmächtig verhallten? Weil die
0171artistische Frage zugleich eine Geldfrage war. So oft Dichter
0172und Kritiker für die erste eintraten, wies die große Mehr-
0173zahl der Schauspieler (sie waren Mitinteressenten [Socié-
0174taires] der Comédie Française) auf die zweite und protestirte
0175im Namen der Kasse. Voltaire hätte ganz umsonst gegen
0176diesen Unfug geeifert, wäre ihm nicht ein kunst-
0177sinniger, reicher Privatmann in der Person des Gra-
0178fen Lauraguais zu Hilfe gekommen. Dieser brachte
0179der Comédie Française den großmüthigen Antrag
0180vor, die Kosten der nothwendigen Umgestaltung des Saales
0181selbst zu bestreiten. Der gefeierte Schauspieler Lekain 
0182machte unter seinen Collegen energische Propaganda, und
0183der Vorschlag des Grafen wurde angenommen. Man be-
0184nützte die vierzehntägigen Osterferien, um die verhaßten
0185Bänke abzubrechen, Parterre und Parquet ansehnlich zu ver-
0186größern; die Renovation kostete sechzigtausend Francs,
0187welche Lauraguais aus seiner Tasche zahlte. Von allen
0188Seiten strömte ihm Dank und Anerkennung zu, darunter
0189die Widmung von Voltaire’s Lustspiel „L’Ecossaise“, welche die
0190Bedeutung von Lauraguais’ künstlerischer und patriotischer
0191That mit warmer Beredsamkeit hervorhebt.


0192Die Wiedereröffnung des also umgestalteten Theaters
0193erfolgte am 23. April 1757. Es war eine glückliche Idee,
0194es mit demselben Drama einzuweihen, welches die Schluß-
0195vorstellung vor dem Umbau gewesen: den „Trojanerinnen“
0196von Châteaubrun. Fürs erste erforderte dieses Stück ein be-
0197sonders großes Personal, sodann erleicherte es dem Pu
0198blicum das Urtheil über die Wirkung der neuen Einrich-
0199tung. Anfangs war die Besorgniß verbreitet, es werde die
0200Bühne zu leer aussehen, wenn die Schauspieler sich oben
0201allein befinden; es bedurfte eines kleinen, von zwei Haupt-
0202personen erfolgreich gespielten Conversationsstückes („Les
0203legs“), um diese Befürchtung vollständig zu zerstreuen. Auf
0204dieses Vorspiel folgte die genannte Tragödie, die nun bei
0205vollkommener Freiheit der Schauspieler und glänzender
0206Scenirung einen überraschenden Effect erzielte. Die Jour-
0207nale rühmten einstimmig die vortheilhafte Neuerung, alle
0208Welt war damit zufrieden, nur die von der Bühne ver-
0209bannten Modeherren wütheten vor Zorn und zerschlugen am
0210ersten Abend alle Spiegel und Luster des Café Procope.


0211Voltaire jubelte, als er seinen Lieblingswunsch end-
0212lich erfüllt sah. „Die Nachricht,“ schreibt er, „daß dem
0213französischen Theater Ehre und Freiheit wiedergegeben
0214sind, erwärmt mein altes Gehirn!“ Obwol er erst kurz
0215zuvor Madame de Fontaine versichert hatte, er denke nicht
0216mehr daran, in seinem hohen Alter fürs Theater zu schreiben,
0217beginnt er nun doch ein neues Drama, ein Ritterstück, das
0218ihm jetzt erst möglich erscheint, „seit die Bühne von den ge-
0219puderten Gecken, von in den Rhinozeros- und Paradiesvogel-
0220Frisuren gesäubert ist“. Diese „Chevalerie“, welche Voltaire 
0221mit jugendlichem Enthusiasmus für das gesäuberte Theater
0222gedichtet, war „Tancred“. In der Zueignung des Stückes
0223an Madame de Pompadour spricht Voltaire folgende, in
0224ihrer einfachen Wahrheit unübertreffliche Worte: „Ich weiß,
0225daß der gesammte Pomp theatralischer Ausstattung nicht so
0226viel werth ist, als Ein erhabener Gedanke, Ein zartes Ge-
0227fühl. Ich weiß sehr wohl, welch geringes Verdienst darin
0228liegt, zu den Augen zu sprechen, aber ich wage zu behaupten,
0229daß das Schreckliche wie das Rührende uns ungleich mäch-
0230tiger ergreifen, wenn ein entsprechender Apparat sie unter-
0231stützt. Man muß Beides, das Auge und den Geist, zugleich
0232erobern. Dies wird das beidenswerte Theil der nach uns
0233kommenden Genies sein. Ich wünsche nur diejenigen zu er-
0234muthigen, welche mich selbst werden vergessen machen. In
0235diesem Sinne entwarf ich die vorliegende Skizze, sobald ich
0236erfahren hatte, daß das Pariser Theater umgestaltet und
0237endlich ein wahres Schauspiel geworden.“