Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 3993. Wien, Mittwoch, den 6. October 1875
[1]Hofoperntheater.
(Das neue Ballet „Brahma“. — Frau Kupfer als Gretchen.)
0003Ed. H. „Brahma“ paradirt seit einigen Jahren als das
0004Lieblingsballet Italiens; Römer und Florentiner, Sicilianer
0005und Lombarden harmoniren brüderlich im Preise seiner
0006Tugenden. Die Erfindung des Balletmeisters Monplai-
0007sir ist nicht ohne Verdienst; durch den farbenbunten Teppich
0008von Tänzen und Aufzügen schlingen sich einige leidenschaft-
0009lich dramatische Scenen, welche nicht blos auf das Auge,
0010sondern auch auf das Herz des Zuschauers es abgesehen
0011haben. Im Gegensatz zu den beliebtesten neuen Balleten
0012(Taglioni’s insbesondere), in welchen alle Wirkung in den
0013Massen liegt und der Chor keine Solopartie aufkommen
0014läßt, bietet „Brahma“ in seinen beiden Hauptrollen zwei
0015dankbare dramatische Aufgaben und sogar noch überdies
0016einige schärfer individualisirte Nebenfiguren. An Unsinn fehlt
0017es auch nicht, das versteht sich von selbst in einem ernsten
0018Ballet; zu beklagen ist nur, daß er gerade hier so leicht zu
0019vermeiden, ja so ganz unnöthig gewesen. Warum hielt sich
0020der Balletdichter nicht an die indische Legende, wie sie in
0021erschütterndster Einfachheit bei Goethe auftritt, dessen „Gott
0022und die Bajadere“ ihm doch offenbar vorschwebte? Dort
0023nimmt „Mahadöh, der Herr der Erde“, freiwillig menschliche
0024Gestalt an, um auf der Erde zu wandeln, als unseresgleichen
0025„mitzufühlen Freud’ und Qual“. Wo er es am wenigsten
0026vermuthete, bei einer Bajadere, findet er Mitgefühl, auf-
0027opfernde Pflege, Liebe bis in den Tod. Auch in Auber’s
0028Oper: „Le Dieu et la Bayadère“ bildet jene Absicht Brah-
0029ma’s die Voraussetzung der ganzen Handlung. Was
0030thut aber Herr Monplaisir? Um die Geister der Ab-
0031geschmacktheit und des Unsinns in ihrem durch unvordenklichen
0032Besitz geheiligten Balletrechte gleich in der Exposition zu in-
0033stalliren, läßt er den allmächtigen Brahma, den Schöpfer
0034des ganzen Universums, „wegen eines im Paradiese ver-
0035übten Vergehens“ (!) aus dem Kreise der Götter ausge-
0036stoßen und verbannt werden. Von wem denn? möchte man
0037fragen. Also der arme Allmächtige, der sich schlecht aufge-
0038führt, muß in Menschengestalt, müde und hungernd, fechten
0039gehen — car tel est Monplaisir — bis er ein Mädchen
0040gefunden, welches ihm die reinste, uneigennützigste Liebe ent-
0041gegenbringt. Brahma scheint dies sehr eilig zu haben, denn
0042gleich in der ersten Scene, bei einem chinesischen Volksfest,
0043rennt er, wie ein Maikäfer gegen alle Fensterscheiben, nach-
0044einander verschiedene Mädchen an und ist erbost, bei der
0045Einen „nur Dankbarkeit“, bei der Andern „nur Gefallsucht“
0046zu finden, und nicht gleich jene „reinste, aufopferndste Liebe“,
0047die er so dringend benöthigt. Im zweiten Act vergafft sich
0048der göttliche Schübling zuerst in eine vornehme Mandarins-
0049Tochter, welche mit einer großen Procession vor der Statue
0050Brahma’s betet. Aïte, so heißt die Dame, bewundert an-
0051fangs sein männliches Auftreten, doch — wir lassen jetzt
0052das Textbuch sprechen — „doch als sie bemerkt, wie andere
0053Frauen sich von ihm, bezüglich seines herabge-
0054kommenen Wesens, mit Scheu abwenden, lenkt sie
0055ihre verführungssüchtigen Blicke wieder nur allein an Kebil.
0056Abermals sieht sich Brahma in seinem Hoffen getäuscht, und
0057während Jubel und Lust um ihn herum ertönt, bleibt sein
0058Herz allein, verlassen, kalt zurückgestoßen. Ballabile.“ Dieses
0059lakonische Schlußwort: „Ballabile“, nach all dem Jammer,
0060ist unbezahlbar. Es erscheint noch an anderen ähnlichen Stellen
0061des Textbuches, immer als tröstlicher Stoßseufzer in schweren
0062Nöthen. Das gedruckte „Brahma“-Libretto unterscheidet sich
0063überhaupt merklich von den gewöhnlichen, in kanzleimäßiger
0064Trockenheit abgefaßten Ballet-Wegweisern durch das über-
0065schwengliche Mitgefühl des Verfassers für seine Personen.
0066Er überhäuft sie mit zärtlichen und preisenden Beiwörtern,
0067er wüthet gegen ihre schändlichen Widersacher und vergießt
0068Thränen über jedes ihnen zustoßende Mißgeschick.
0069„Das verkörperte Ideal seiner Hoffnungen“ findet
0070Brahma endlich in der Schänke des Herrn Kali, eines
0071Wirthes, „der, mißmuthig über den wenigen Besuch seiner
0072Herberge, herauskommt“. Es ist die schöne Padmana,
0073welche dem Brahma von allen ihm dort vortanzenden Baja-
0074deren am besten gefällt und die er deßhalb dem Wirthe ab-
0075kauft. Man möchte in hellen Zorn gerathen über Herrn
0076Monplaisir, der sich hier das poetischeste Motiv entgehen
0077ließ, eine jener seltenen Situationen, wo die Handlung selbst
0078zum Tanze drängt und der Tanz von innen heraus drama-
0079tisch wird. Diese Situation, welche einfach aus Auber’s
0080Oper: „Der Gott und die Bajadere“ herüberzunehmen war,
0081besteht darin, daß Brahma, um Zoloë (hier Padmana) auf
0082die Probe zu stellen, sie in jener Schänke absichtlich durch
0083Zurücksetzung kränkt. Zu tanzen aufgefordert, bietet Zoloë
0084ihre beste Kunst, ihre glühendste Empfindung auf, während
0085ihr Heißgeliebter, in eifriger Unterhaltung mit den anderen
0086Bajaderen, sie kaum eines Blickes würdigt. Immer tiefer
0087und leidenschaftlicher tanzt die Arme sich in den Schmerz
0088hinein und schließt endlich — mit einem Strom von Thrä-
0089nen. Die Taglioni hat in dieser echt dramatischen Scene
0090ihre schönsten Triumphe gefeiert. Es stimmt recht weh-
0091müthig, das moderne Ballet, „bezüglich seines herabgekom-
0092menen Wesens“, schon auf dem Punkte zu sehen, daß es
0093gerade dasjenige nicht wahrnimmt oder nicht darstellen mag,
0094was an dem gewählten Stoff das Feinste und Bedeutsamste
0095ist. Ballabile.
0096Mit einem kühnen Handstreich führt nun Herr Mon-
0097plaisir Brahma in den Palast des holländischen Statthalters
0098in Indien — wir ersehen daraus, aufs angenehmste über-
0099rascht, daß diese Incarnation Brahma’s in unseren Tagen
0100spielt. Der Statthalter scheint übrigens ziemlich liberal vor-
0101zugehen mit seinen Ball-Einladungen, denn außer dem von
0102Niemandem gekannten Brahma befindet sich unter den Ge-
0103ladenen auch „Hyder-Ali, das mächtige Haupt einer aller-
0104wärts gefürchteten Würgersecte“. Auf dem Balle rennt
0105unser guter Brahma wieder blindlings gegen die Tochter
0106des Statthalters mit einem Heiratsantrage an, holt sich
0107einen Korb und wird von der wachsamen Padmana ohne
0108viel Federlesens abgeführt. Sie rettet ihn hierauf mit eigener
0109Lebensgefahr vor den Dolchen einiger geistlicher Meuchel-
0110mörder, was er aber „als gewöhnliche Sklavenliebe“ nur so
0111hinnimmt. Jetzt drängen sich mit jeder Scene die Gefahren
0112und Prüfungen. Nebst dem „mächtigen Haupt der allerwärts
0113gefürchteten Würgersecte“ tritt nun auch der Gouverneuer
0114Loubah, „ein als grausamer Tyrann berüchtigter Renegat“,
0115in Action. Er macht Padmana Liebesanträge, wird abge-
0116wiesen, und verurtheilt, ihr zur Strafe, den Brahma zum
0117Feuertode. Als dieser den Scheiterhaufen besteigt, stürzt sich
0118die Bajadere, den Gott umklammernd, in die Flammen,
0119um vereint mit ihm zu sterben. Aus den Rauchwolken
0120entwickelt sich im Hintergrunde das Paradies, aus jeder [2]
0121Versenkung tauchen verlorene Kinder in appetitlichen Co-
0122stümen empor, dazu feuriges Gold und glitzernde
0123Diamanten, plätschernde Springbrunnen, Krystallgrotten,
0124geflügelte Genien, elektrisches Licht von allen Farben, kurz
0125alles Mögliche, was zusammengenommen „Apotheose“ heißt.
0126Reicher und glänzender kann man eine solche nicht sehen,
0127als in der Schlußscene des neuen Ballets, welche einen
0128Sturm von Beifall entfesselte. Brahma schwebt mit der
0129Bajadere zum Himmel auf, es freut sich die Gottheit, der
0130Balletmeister, der Director, es freut sich auch das Publicum,
0131welches lobend und befriedigt sich dem Ausgange zudrängt.
0132Das neue Ballet fand hier sehr günstige Aufnahme, insbe-
0133sondere der erste und der letzte Act. Wenn im ersten
0134das unübertrefflich arrangirte „Drachenfest zu Peking“ durch
0135seine Pracht und stürmische Heiterkeit ergötzt, so packen im
0136dritten die Sensations-Scenen durch ihre sich immer stei-
0137gernde dramatische Spannung. An dem Erfolge des „Brahma“
0138hat Fräulein Linda (Padmana) ein hervorragendes Ver-
0139dienst. Anmuthig und distinguirt in ihren Bewegungen, von
0140sicherer, dabei maßvoller Virtuosität in Schritt und Sprung,
0141wirkte diese junge Tänzerin überdies durch ausdrucksvolle
0142Mimik in den leidenschaftlichen Scenen. Sie darf sich ihres
0143wohlverdienten Erfolges herzhaft freuen. Neben Fräulein
0144Linda hatten auch die Herren Frappart und Price
0145Gelegenheit, sich als Mimiker auszuzeichnen. Loben wir
0146noch die bewunderungswürdige Präcision unseres Ballet-
0147corps, die Augenweide zahlloser prächtiger Costüme und
0148effectvoller neuer Decorationen von Brioschi; bedauern
0149wir schließlich, nicht auch die Musik des bösen Maestro
0150Dall’ Argine loben zu können, eine Composition, halb von
0151Blech, halb von Leder — so haben wir wol nichts Wichtiges
0152vergessen.
0153Aus dem Opern-Repertoire erwähnen wir die jüngste
0154Vorstellung von Gounod’s „Faust“, worin Frau Mila
0155Kupfer-Berger zum erstenmale als engagirtes Mit-
0156glied erschien. Frau Kupfer (so lautet jetzt der officielle
0157Clavierauszug ihres Namens) ist schon durch die natürlichen
0158Vorzüge ihrer Stimme und ihrer Erscheinung ein schätzbarer
0159Erwerb für jede Opernbühne. Sie dürfte, nach französischem
0160Theaterausdruck, eine grande utilité werden, und in Rollen,
0161welche eine gewisse leidenschaftslose Behaglichkeit nicht aus
0162schließen, mehr als das. Als Susanne in „Figaro’s Hoch-
0163zeit“ hatte Frau Kupfer ihren eigensten Boden gefunden und
0164ihr bestes Talent entfaltet. Hochdramatische, leidenschaftliche
0165Partien weiß sie auf der Oberfläche gefällig zu gestalten,
0166ohne in ihre Tiefen einzudringen und von da aus das Ge-
0167müth der Hörer zu erschüttern. Wie in gewissem Grade
0168schon ihrem wohlklingenden Organ, ihrer jugendfrischen Er-
0169scheinung, so fehlt ihrem Vortrag jene undefinirbare tiefere
0170Resonanz, jenes unausgesetzte Mitvibriren von Geist und
0171Herz, welches den Zuhörer aus dem bloßen Wohlgefallen
0172zur vollen Mitleidenschaft emporreißt. Alice und Gretchen
0173führte sie glücklich, so weit diese Rollen sich genremäßig, fast
0174soubrettenhaft entwickeln; sobald sie zu tragischer Höhe
0175wachsen, bleibt Frau Kupfer unter dem geforderten Maß.
0176Befriedigend in der ersten Begegnung und Anfangs
0177des dritten Actes von „Faust“, ließ sie schon in
0178dem Liebes-Duett Tiefe und Wärme der Empfindung
0179vermissen. Noch mehr versagte ihr im Dom die Energie der
0180Verzweiflung, in der Kerkerscene die rührende Beredsamkeit
0181des Unglücks. Auf diesen dramatischen Höhepunkten der Rolle
0182blieb Frau Kupfer unbedeutend, fast wirkungslos. Daß sie
0183in beiden Scenen sich mit den einfachsten schauspielerischen
0184Mitteln behalf, ist es nicht, was wir ihr vorwerfen. Seit
0185wir Frau Mallinger im „Faust“ gesehen, befängt uns
0186eine wahre Furcht vor allen geistreichen Gretchen. Wir wer-
0187den das Unbehagen nicht los, das uns diese gewiß hoch-
0188begabte Künstlerin durch ihr Uebermaß von dramatischem
0189Raffinement bereitet hat. Diese unaufhörliche „Geisttreiberei
0190und Geistschrauberei“, wie sie Fr. Vischer an einem un-
0191serer berühmten Romanschriftsteller rügt, raubt uns nicht
0192nur die unbefangene Freude an den Lichtpunkten der Dar-
0193stellung, sie erschüttert die Glaubwürdigkeit der ganzen Dar-
0194stellung selbst. Die Sucht nach neuen, geistreichen Nuancen
0195verleitete Frau Mallinger unter Anderm, in der Domscene
0196die Blätter aus dem Gebetbuch herauszureißen! Die-
0197ses Virtuositäts-Fieber ließ sie sogar übersehen, daß mancher
0198dieser „neuen, geistreichen Züge“ dem andern widersprach
0199und aus dem Styl des Ganzen herausfiel. Ein Gretchen,
0200das bei den Worten: „Meine Mutter ist todt“ sich die Augen
0201mit dem Aermel wischt, wie eine Bäuerin, darf nicht
0202beim Eintritt Faust’s sich in eine exaltirte Positur
0203werfen, wie Frau Mallinger that, um die stereotype Ver-
0204donnerungs-Attitude der Wagner’schen Heldinnen anzubringen.
0205Was sie alles für Sachen und Sächelchen mit dem Schmucke
0206trieb, ist nicht aufzuzählen, und was sie in der Domscene
0207und im Kerker an geistreichen, einander gegenseitig aufreiben-
0208den Effecten häufte, das war nicht mehr rührend oder er-
0209greifend, sondern blos unheimlich. Zum Studium, aber zu-
0210gleich zur Warnung empfehlen wir jungen Sängerinnen
0211diese Mallinger’sche Methode, jeden Tact, jede Note mit
0212einer eigenen ausdrucksvollen Mimik zu begleiten, diese Jagd
0213nach neuen Nuancen, diesen dramatischen Liqueur-Ausschank,
0214bei welchem man doch verdursten konnte. So läßt ein raffi-
0215nirtes Zuvielspielen, bei aller Anregung, die es dem Ver-
0216stande bietet, unser Gemüth im Grunde ebenso unbefriedigt,
0217wie eine zu dürftige Action. Die Hauptsache bleibt immer,
0218tief, lebhaft und wahr zu fühlen, das Empfundene rein und
0219einfach auszudrücken. Es lehrt sie freilich weder der Ge-
0220sanglehrer noch der Tanzmeister; eher noch Goethe selbst:
0221„Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich
0222selbst sich vor.“
0223In der letzten „Faust“-Vorstellung bemerkten wir dank-
0224bar an zahlreichen scenischen Verbesserungen Jauner’s
0225reformirende Hand. Im ersten Acte kleidet sich der verjüngte
0226Faust nicht mehr hinter Mephisto’s Mäntelchen zum Ballet-
0227tänzer um, sondern bleibt in seinem Talar; in der Dom-
0228scene stürzt Mephisto nicht mehr wie ein fluchender Drago-
0229ner in die Kirche, Faust und Mephisto erscheinen in neuen
0230charakteristischen Gewändern und Masken, wie sie der Dichtung
0231entsprechen. Herr Adams gab diesmal den Faust im ersten
0232Acte vortrefflich, im dritten wäre ihm ein weniger schleppendes
0233Tempo der Romanze zu empfehlen. Herr Scaria sang
0234und spielte mehrere Scenen Mephisto’s viel charakteristischer
0235als sonst, so die Dialoge mit Faust im ersten, mit Valentin
0236und Siebel im zweiten Acte. Manches wieder trug er genau
0237so vor wie früher, aber es wirkte anders und besser, weil
0238er anders gekleidet und geschminkt war. Man sah wenig-
0239stens immer, daß Mephisto spricht. Nur im letzten Acte
0240verfiel Herr Scaria wieder in ein Phlegma, das jedes
0241Teufelswamms Lügen strafte und uns zuzuflüstern schien:
0242„Laßt euch nicht irremachen, ich heiße Johann Gottlieb
0243Biedermeier.“