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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4013. Wien, Dienstag, den 26. October 1875

[1]

Carmen.“

Oper in vier Acten, von Meilhac und Halévy. Musik von Bizet. Erste Auf-führung im Hofoperntheater am 23. October 1875.


0004Ed. H. Prosper Mérimée beginnt seine Novelle „Car-
0005men“ mit der Schilderung eines Ausflugs in die andalusi-
0006schen Berge, wo er in einer einsamen Waldschlucht unver-
0007muthet auf den gefürchteten Räuberhauptmann Don José-
0008Maria stößt. Ein Zug von Schwermuth und von rauher
0009Ehrlichkeit in dem verwilderten Manne gewinnt ihm fast die
0010Sympathien des Erzählers. Einige Zeit nachher trifft er
0011Don José in Cordova bei einer jungen Zigeunerin, Namens
0012Carmen, welche den Erzähler in ihre Hütte gelockt, um ihm
0013Karten aufzuschlagen und nebenbei seine goldene Repetiruhr
0014zu entwenden. Eine wilde, seltsame Schönheit, anfangs
0015befremdend, aber unmöglich zu vergessen. Ihre wunder-
0016bar geschnittenen Augen hatten einen Ausdruck zugleich von
0017Wollust und von Grausamkeit, wie man ihn nur bei man-
0018chen wilden Thieren antrifft. („Zigeuneraugen — Wolfs-
0019augen“ sagt ein spanisches Sprichwort.) Diese Carmen ist
0020das böse Schicksal im Leben Don José’s, der, obwol Edel-
0021mann und Officier, aus Liebe zu ihr fahnenflüchtig wird,
0022sich zu Schmugglern und Räubern gesellt, um schließlich als
0023Mörder Carmen’s durch Henkershand zu enden. Mérimée 
0024besucht den Verurtheilten im Gefängniß, wo dieser ihm aus-
0025führlich, rückhaltlos seine traurige Lebens- und Liebesgeschichte
0026mittheilt. Diese Erzählung wirkt ergreifend durch die lebens-
0027wahre Schilderung der beiden Hauptpersonen und ihrer Schick-
0028sale, zugleich überzeugend durch die Stetigkeit und Schärfe
0029des psychologischen Processes. In diesen Vorzügen von -
0030rimée’s Novelle liegt der Reiz und die Gefahr für drama-
0031tische Behandlung. Eine Oper „Carmen“ wird uns die Fi-
0032guren und Begebenheiten anschaulich, aber kaum glaubwür-
0033dig machen, weil sie auf das Secirmesser und Mikroskop
0034des Psychologen verzichten muß. Die Verfasser des Opern-
0035Librettos haben wohlweislich einige der häßlichsten Züge Car-
0036men’s beseitigt: sie stiehlt wenigstens keine Taschenuhren und
0037gibt auch Don José nicht den Wink, ihren Mann, ein einäugiges
0038Scheusal, gelegentlich niederzuschießen. So viel sie der Heldin an
0039abstoßender Härte genommen, so viel mindestens hätten die 
0040Bearbeiter dem Don José an Muth und Ritterlichkeit bei-
0041legen sollen. Die Gestalt dieses armen Jungen bleibt immer-
0042hin rührend durch seine leidenschaftlich treue Hingebung, die,
0043hundertmal verwundet, dennoch in ihm nicht sterben kann.
0044Ein wahrer Sonnenstich der Liebe, der den Getroffenen
0045wehr- und willenlos macht. Derselbe Sonnenstich, der den
0046Chevalier de Grieux für Lebenszeit zu den Füßen der un-
0047getreuen und leichtsinnigen Manon Lescaut hinstreckte. Eine
0048Figur, die in der Original-Novelle gänzlich fehlt, ist das
0049Landmädchen Micaëla, welche — ein Seitenstück zur Alice 
0050in „Robert der Teufel“ — ihren Landsmann José aus den
0051Zaubernetzen der Carmen erretten und einem ruhigen Fa-
0052milienleben zurückgeben möchte. Die Bearbeiter empfanden
0053ganz richtig das Bedürfniß nach einem sanften Gegenbild
0054Carmen’s, und es ist kaum ihre Schuld, wenn der Com-
0055ponist nicht mehr daraus zu machen wußte.


0056Der Inhalt der Oper ist in aller Kürze folgender:
0057Ein junger Brigadier, José, soll eine Zigeunerin wegen
0058einer blutigen Rauferei ins Gefängniß escortiren. Von ihrer
0059koketten, wilden Schönheit berückt, läßt er sie entschlüpfen.
0060Für dieses Vergehen degradirt und eingesperrt, eilt er nach
0061überstandener Strafe gleich zu der leichtfertigen Carmen,
0062wird ihr Liebhaber und auf ihr Drängen Schleichhändler.
0063Immer wieder von ihr betrogen und verrathen, folgt er
0064ihr doch treulich auf ihren gefahrvollen Schmugglerzügen.
0065Endlich übermannt ihn die Eifersucht gegen einen von Car-
0066men begünstigten Toreador. Er will seine Ehre, sein
0067Lebensglück nicht vergebens hingeopfert haben; sie soll ihrem
0068Toreador, soll ihrer Schmugglerbande entsagen und mit
0069ihm fliehen. Da sie sich weigert und José höhnisch abweist,
0070ersticht er sie. Die Handlung entfaltet sich in vier Tableaux
0071von national spanischer Färbung: eine Straße in Sevilla 
0072mit einer Hauptwache, an der die Posten einander ablösen;
0073eine abgelegene Schänke für Schleichhändler und Dirnen;
0074eine Bergschlucht, in welcher die Zigeunerbande Halt macht;
0075endlich ein Platz in Cordova mit dem Circus der Stier-
0076gefechte als Hintergrund. Auf diesen Platz eilt Carmen als
0077Zeugin des Triumphes ihres Toreador, hier durchbohrt sie
0078der rächende Stahl des unglückseligen José.


0079Dem Textbuche gebührt das Lob einer geschickten, büh-
0080nenkundigen Arbeit; es bringt gewagte, aber originelle Cha
0081raktere und Situationen und bietet in drei Rollen lohnende
0082Aufgaben für das Talent der Darsteller.


0083In der Partitur Georges Bizet’s begrüßen wir
0084weder die That eines schöpferischen Genies, noch die Arbeit
0085eines fertigen Meisters; aber als eine interessante Production
0086von Geist und Talent muß man sie immerhin gelten lassen.
0087Gewiß auch als eine vielversprechende, leider durch den Tod
0088Bizet’s vernichtete Anweisung auf Besseres, das von ihm
0089nachfolgen sollte. Der Componist hatte nach einigen unsicher
0090tastenden Versuchen endlich mit der Oper „Carmen“ einen
0091festen Boden und seinen ersten Erfolg gefunden. Da ereilte
0092ihn, den Aufstrebenden, Jungen, Glücklichen, am 3. Juni
0093dieses Jahres ein plötzliches Ende — drei Monate nach der
0094ersten Aufführung von „Carmen“. Bizet genoß als streng-
0095geschulter, guter Musiker besonderes Ansehen bei der
0096neuesten musikalischen Schule Frankreichs, die ihn nicht
0097ungern als ihr Haupt bezeichnete. Diese jüngste
0098nach-Auber’sche Opernschule besitzt Geist und Gewandtheit
0099bei geringer musikalischer Urkraft; es charakterisirt sie die
0100specifisch dramatische Intention, die sorgfältige, mitunter
0101glänzende Technik, das raffinirt geistreiche Detail, leider nicht
0102die Fülle und Originalität der Erfindung. Halb an die Sen-
0103timentalität Gounod’s, halb an den Esprit A. Thomas’ an-
0104lehnend, sucht sie diese Elemente mit der dramatischen Me-
0105thode R. Wagner’s, so weit ihr dieser zugänglich, zu kitten.
0106Müssen wir auch lächeln, wenn das Pariser Opernpublicum
0107in jedem dissonirenden Accord, jedem chromatischen Motiv,
0108jeder unklaren oder unsymmetrischen Form sofort „du Wagnèr“
0109erblickt, so ist doch eine zunehmende Einwirkung des „Tann-
0110häuser“ und „Lohengrin“ auf die neuesten französischen Com-
0111ponisten unleugbar. Pariser Kritiker bezeichneten Bizet ge-
0112radezu als „un des plus farouches intransigeants de notre
0113jeune école wagnérienne“ und wunderten sich, daß er in
0114Carmen“ sich trotzdem maßvoll und manierlich benehme.
0115Nun, „Wagnerisch“ kann man Bizet nur finden, wenn man
0116ihn mit den früheren französischen Opern-Componisten und
0117nicht mit R. Wagner vergleicht. Allein der üppige Melodien-
0118strom in „Fra Diavolo“ und der „Stummen von Portici“, selbst
0119die sorglose Heiterkeit des „Postillon von Lonjumeau“, erscheinen
0120sie nicht wie ein goldenes Märchen, wenn man ihre jüngsten
0121Abkömmlinge daneben hält? Immer ernsthafter werden die [2]
0122Gesichter, immer zugespitzter der Ausdruck, immer sorgfälti-
0123ger und complicirter Harmonisirung und Instrumenta-
0124tion, aber unter der fortgeschrittenen Technik und den höhe-
0125ren „Intentionen“ sickert spärlich aus abgeleiteten Quellen
0126die melodische Erfindung. Werke dieser Art erheben und be-
0127glücken uns nicht, wie die Schöpfungen genialer Meister;
0128sie wollen andererseits ernster aufgefaßt und höher taxirt
0129sein, als bloße Unterhaltungsmusik vom Schlag der Operetten.
0130Also ein Mittleres zwischen zwei grundverschiedenen Ein-
0131drücken, halbe Kunst, wenn man so sagen darf, wie sie jetzt
0132nahezu allein herrscht auf dem Theater und in ihren besse-
0133ren Erzeugnissen ihm auch unentbehrlich ist. Wie geschickt
0134gerade die Franzosen darin sind, selbst ein mittleres Talent durch
0135eine gewisse Formvollendung und Sicherheit wirksam zu
0136machen; wie ihre Opern durch Feinheit, Esprit und Bühnen-
0137tact uns wenigstens lebhaft anregen und interessiren können,
0138das beweist unter Anderm auch die Oper „Carmen“. Sie
0139ist eine der besten aus nach-Auber’scher Schule und seit
0140Mignon“ (1866) wol der namhafteste Erfolg in der Opéra
0141comique. Im Laufe der Wiederholungen hat sich in Paris 
0142der Kreis ihrer Anhänger entschieden vergrößert, und da
0143ihre zahlreichen reizenden Details wirklich nicht auf den ersten
0144Blick hervortreten, dürften wir in Wien die gleiche Erfah-
0145rung erleben.


0146Erinnern wir uns flüchtig der hervorragendsten Num-
0147mern der Partitur. Gleich der lebendig bewegte erste Act
0148wird gut eingeleitet durch einen Soldatenchor, dessen etwas
0149gesuchtes chromatisches Thema pikant genug klingt. Muster-
0150haft ungezwungen verflicht sich darein das kurze Gespräch
0151Micaëla’s mit dem Brigadier Moralès; im leichten Aufbau
0152solcher Conversations-Scenen sind die französischen Compo-
0153nisten unübertroffen. Gefällig, doch ohne tieferen Eindruck
0154berührt uns das Duett Micaëla’s mit José. Die Chöre der
0155Fabriksarbeiterinnen tragen sowol in ihrer sorgfältigeren
0156Ausarbeitung als ihrem für diesen Anlaß etwas zu hoch-
0157gegriffenen Ausdruck ganz die Signatur der neuesten fran-
0158zösischen Schule. Aber erst mit dem Auftreten Carmen’s ge-
0159räth das Blut des Componisten und der Zuhörer in
0160Wallung. Ihr Strophenlied: „L’amour est enfant de
0161Bohème“ mit dem nach je acht Tacten kurz einschlagenden
0162Chor-Refrain „Prends garde à toi!“ verdankt einer spani
0163schen Volksmelodie seine Originalität, dem Componisten
0164Bizet seine effectvolle und elegante Einkleidung. Desgleichen
0165die (von Frau Ehnn reizend gesungene) Seguidilla, mit
0166welcher Carmen, die Hände auf dem Rücken gebunden, José 
0167den Kopf verrückt — ein Stück von charakteristischer, zier-
0168lichster Haltung. Im zweiten Act geht es noch lustiger her;
0169noch dominirender waltet hier die spanische Localfarbe, mit
0170den baskischen Tambourins und Castagnetten. Das Zigeuner-
0171lied Carmen’s, das, vom Chor begleitet, sich allmälig in einen
0172allgemeinen tanzenden Wirbel auflöst, hat, zusammenwirkend
0173mit der ganzen Scenerie, etwas Berauschendes. Der Toreador
0174Escamillo tritt in die Schänke; seine an banale italienische
0175Opernmelodien erinnernden Couplets erweisen sich trotzdem
0176hier wie in Paris als sichere Treffer, welche im Nachhause-
0177gehen leicht nachgeträllert werden. Wir ziehen die feineren
0178Züge des darauffolgenden Buffo-Quintetts weit vor, ein
0179rasches, halb flüsterndes Geplauder zwischen den drei Zi-
0180geunermädchen und zwei Schmugglern in der Manier des
0181bekannten Terzetts aus Herold’s „Zweikampf“. Es folgt ein
0182großes Duett zwischen Carmen und José, dessen C-dur-
0183Satz (Sechsachtel-Tact) mir das leidenschaftlichste und her-
0184vorragendste Stück der Oper scheint. Carmen’s drängendes
0185Zureden „Là-bas, dans les montagnes“, durchschnitten von
0186José’s immer heftigerem Ausruf: „Carmen!“, würde durch
0187etwas weniger gesetzten Vortrag sehr gewinnen. Auch hätte
0188gerade dieser Satz nicht gekürzt werden sollen, am wenigsten
0189in seinem ersten Theil; was man hier wegstrich, ist keines-
0190wegs bloße Wiederholung. Dem ziemlich unbedeutenden An-
0191dantino Don José’s in Des-dur hat die Kürzung nicht ge-
0192schadet, wol aber das etwas zu rasche Tempo; das Stück
0193wirkt nur, wenn man dem Sänger Zeit läßt, ein schönes
0194Portamento zu entfalten. Die beiden ersten Acte sind dra-
0195matisch und musikalisch die gelungensten. Der dritte Act fällt
0196durch den Stillstand der Handlung und die Dürftigkeit der
0197Musik nachtheilig ab; nur das Terzett der Kartenaufschläge-
0198rinnen erzielt als graziöses, feingemeißeltes Tonstück bedeu-
0199tendere Wirkung. Gegen den dritten Act hebt sich wieder
0200der vierte, aber mehr durch seine üppige Augenweide, als
0201durch musikalischen Reichthum. Der Festzug zum Stier-
0202gefecht mit dem trefflich dazu stimmenden nationalen Ballet
0203entfaltet hier eine Pracht, an welche die Pariser Aufführung 
0204nicht entfernt hinanreicht. Die Balletmusik in H-moll be-
0205strickt durch ihren exotischen Reiz, wenngleich das Pikante
0206ihrer monotonen Begleitungsfigur und der dazu dissoniren-
0207den Oberstimme hart ans Stachlige grenzt. Dies Alles ist
0208eigentlich nur die sich bequem ausbreitende Einleitung zu dem
0209kurzen, wie ein Beilhieb niederblitzenden Schluß des Ganzen;
0210eine fast brutale Tragik, die uns indessen nicht unvorbe-
0211reitet findet.


0212Die Aufführung der Novität gereicht dem Director und
0213dem Personale des Hofoperntheaters zur Ehre. Das Talent
0214unserer Ehnn hat an „Carmen“ eine neue verlockende
0215Aufgabe gefunden und dieselbe unter allgemeinem Beifalle
0216glücklich gelöst. Nichts Gefährlicheres für Dichter und Dar-
0217steller, als eine Heldin, die ohne jeden sittlichen Gehalt Alles
0218nur durch den Höllenzwang ihrer wilden Schönheit berückt.
0219Kaum wird man eine Künstlerin finden, die, hervorragend
0220als Sängerin und Schauspielerin, auch noch durch ihre Per-
0221sönlichkeit einem solchen Bilde entspräche. Es will schon viel
0222heißen, wenn die Rolle der Carmen gesanglich ganz be-
0223wältigt und dramatisch halbwegs glaubwürdig gemacht wird.
0224Das ist Frau Ehnn gelungen, welche die anstrengende
0225Partie mit jugendlicher Stimmkraft, voll Feuer und dra-
0226matischem Nachdruck sang, sie auch sehr gewandt spielte. In
0227den beiden letzten Acten, wo Carmen ihre stolze, kalt ab-
0228wehrende Seite hervorkehrt, schien uns Frau Ehnn noch
0229charakteristischer, als in dem der Koketterie gewidmeten ersten
0230Theil der Oper. Der Erfolg der ganzen Oper wird in
0231Deutschland, genau wie bei „Mignon“, einzig von dem Talent
0232der Darstellerin Carmen’s abhängen. Ein reich zugemessenes Lob
0233gebührt Herrn Müller für seine treffliche Leistung als
0234José. Es liegt in dem Wesen dieses Sängers ein Zug von
0235schlichter Redlichkeit und Treue, welcher ihn für Don José 
0236ganz vorzugsweise eignet. Jeder Schein von eitler Selbst-
0237bespiegelung oder Eleganz würde diese Rolle Lügen strafen.
0238Wir haben Herrn Müller noch nicht so leidenschaftlich spielen
0239gesehen, wie in der Schlußscene von „Carmen“; daneben
0240können wir auch eine kleine musikalische Rarität nicht un-
0241gerühmt lassen: seine langen, schöngeschwellten Triller in dem
0242Liebchen hinter der Scene. Von den übrigen Personen der
0243Oper treten, allerdings in ziemlichem Abstand von den zwei
0244Hauptcharakteren, noch Micaëla und Escamillo selbstständig [3]
0245hervor. Der Micaëla kam die freundliche Erscheinung, die
0246silberhelle Stimme und der in Wort und Ton durchaus
0247angemessene Vortrag der Frau Kupfer auf das günstigste
0248zu statten. Nicht ebenso vortheilhaft war der Toreador
0249Escamillo mit Herrn Scaria besetzt. Wie im Stiergefecht
0250der Toreador nicht durch rohe Muskelkraft, sondern durch
0251Schmiegsamkeit und Beweglichkeit siegt, so beruht seine
0252Rolle in „Carmen“ keineswegs auf einer massiven Stimme
0253und Persönlichkeit, sondern auf der Eleganz der Erscheinung
0254und des Spieles, musikalisch auf dem mühelosen freien Anschlagen
0255der hohen Töne und der vollkommenen Leichtigkeit des Vortrages.
0256Escamillo ist ein populärer Don Juan, eitel und galant;
0257er singt seine Couplets „avec fatuité“, wie der Componist
0258vorschreibt. In diesem Sinne ist die Rolle in Paris mit
0259Herrn Bouhy besetzt, einem schlanken, schmucken Bariton,
0260für den wir in Herrn v. Bignio den richtigen Doppel-
0261gänger besitzen. Bei Herrn Scaria kam Alles viel zu breit,
0262stark und gravitätisch heraus; weder seine gewichtige Person,
0263noch seine in hoher Lage gedeckt klingende und nur behutsam
0264verwendete Stimme passen für diese Partie. Nach seinen so
0265dankbaren Couplets im zweiten Acte erntete er übrigens
0266lebhaften Applaus. Die kleineren Rollen, jede wichtig an
0267ihrer Stelle, wurden von Fräulein Tagliana, Fräulein
0268Mordini, den Herren Hablawetz, Nollet, Neumann,
0269Lay und Schmitt sehr lobenswerth gegeben. Ist die Rolle von
0270Fräulein Tagliana undankbar, so wollen wir es nicht auch
0271sein. Im Gegentheil. Diese Sängerin verdient ein ausdrück-
0272liches Dankvotum dafür, daß sie jüngster Zeit zwei kleine
0273Rollen übernahm, die eine junge, anmuthige Darstellerin
0274unumgänglich brauchen und für den Erfolg des Ganzen
0275sehr wichtig sind: Papagena in der „Zauberflöte“ und
0276Mercedès in „Carmen“. Fräulein Tagliana hat beide, ohne
0277dazu verpflichtet zu sein, rein im Interesse der genannten
0278Opernaufführungen übernommen, welche nun durch diese
0279künstlerische Bereitwilligkeit ebensosehr gewonnen haben, wie
0280Fräulein Tagliana selbst in den Augen aller Musikfreunde.
0281Die Chöre und das Orchester lösten ihre zum Theil sehr
0282schwierige Aufgabe vortrefflich unter der Leitung des Herrn
0283Hanns Richter, welcher sich um das Gelingen von „Car-
0284men“ wacker und erfolgreich bemüht hat.