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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4033. Wien, Mittwoch, den 17. November 1875

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Concerte.


0002Ed. H. Sowol die „Philharmoniker“ als die „Musik-
0003freunde“ haben ihr erstes Concert hinter sich. Beide mit
0004der reichsten Ernte an Beifall und Besuch. Letzterer hat bei
0005den Philharmonie-Concerten sogar die Normalhöhe so be-
0006trächtlich überschritten, daß zweihundert frühere Abonnenten
0007und wol noch mehr neue Bewerber diesmal leer ausgehen
0008mußten. Wir erinnern die „Philharmoniker“ an den Vorschlag,
0009Doppelaufführungen zu veranstalten, musikalische Nachmittags-
0010vorstellungen oder philharmonische Parallelclassen, wie man sie
0011bei Ueberfüllung der Schulen eröffnet. Um noch einer an-
0012dern Aeußerlichkeit zu erwähnen: es scheint der neue Diri-
0013gent der Philharmoniker, nach seinem ersten Programm zu
0014schließen, eine mäßigere Concertdauer einführen zu wollen.
0015In dieser Tendenz verdient er ausdrücklich bestärkt zu wer-
0016den. Mit langen Mittagsconcerten erweist man weder den
0017vorgetragenen Compositionen, noch den Spielern, noch end-
0018lich dem Auditorium einen Gefallen. Als im jüngsten Gesell-
0019schaftsconcert nach halb 3 Uhr der „Lobgesang“ noch im
0020vollen Zuge war, entwischten erst leise einzelne verschämte
0021Hungrige, dann wuchs die Emigration an Zahl wie an
0022Kühnheit und lief, von den mißbilligenden, aber nicht neid-
0023losen Blicken der alten Garde verfolgt, herzhaft davon.


0024Im Philharmonischen Concert hingegen verblieb Alles
0025in frischer Empfänglichkeit bis zur letzten Note.


0026Das erste Philharmonie-Concert begann mit Richard
0027Wagner’sFaust-Ouvertüre“, welche von unserm doch
0028hinlänglich Wagner-holden Publicum diesmal, wie bei früheren
0029Aufführungen, kühl aufgenommen wurde. Musikalisch Aber-
0030gläubige konnten es fast als böses Omen ansehen, daß der
0031Jahreslauf der Philharmonie-Concerte mit einem so un-
0032philharmonischen Thema eingeweiht wurde, wie es das
0033obendrein von dem brutalsten Instrument, dem Baßbombardon,
0034intonirte Anfangsmotiv dieser Ouvertüre ist.


0035Es folgte das gleichfalls bereits bekannte G-dur-Con-
0036cert für Streichinstrumente von J. Sebastian Bach, dessen 
0037markige Rhythmik und gesundheitstrotzende Harmonie wie ein
0038Stahlbad auf die Hörer wirkte. Zwischen die beiden einzigen
0039Sätze des Originals wurde das Adagio aus einer Bach’schen
0040Violinsonate eingelegt, welche von Ferdinand David mit einer
0041Clavierbegleitung versehen und in seiner Sammlung classi-
0042scher Geigenmusik publicirt ist. Unser Hellmesberger 
0043erhob das also erhöhte Solostück noch um eine Stufe höher,
0044ins Orchester, und spielte die Violinstimme mit so vollende-
0045tem Geschmack und Adel, daß wir schon um dieser Leistung
0046willen gern auf jeden Einspruch gegen das Passende dieser
0047Einlage verzichten. Von Seite des Orchesters war die Aus-
0048führung des Bach’schen Concertes fest und glänzend wie po-
0049lirter Stahl. Als dritte und letzte Nummer gab man
0050Beethoven’sEroica“. Eine anerkannte Musterleistung
0051der „Philharmoniker“, entsprach sie auch diesmal in Präcision
0052und feinster technischer Ausarbeitung den höchsten Anforde-
0053rungen. Die Tempi nahm Capellmeister Richter langsamer,
0054als wir sie gewohnt sind, namentlich im ersten Satz und im
0055Trauermarsch. Dadurch gewann allerdings das reiche musika-
0056lische Detail eine schärfere Beleuchtung und höchste Klarheit
0057der Contouren, aber häufig auf Kosten der unmittelbar zün-
0058denden Totalwirkung. Ein Hauch von Gelassenheit und re-
0059flectirter Vornehmheit strich kühlend über diese feuergewalti-
0060gen Gestalten; Tempo-Streitigkeiten bleiben jedoch immer ver-
0061fänglich für die Kritik. Einmal übt hier die Macht der Ge-
0062wohnheit, die als Tradition sogar ihre unleugbare Berechti-
0063gung hat, einen fast unwiderstehlichen Einfluß. Sodann steht
0064im Proceß über die Richtigkeit eines Tempos nicht nur
0065Keinem, außer dem Componisten, ein autorisirtes Richteramt zu,
0066es gehen mit dem letzten verhallenden Ton sogar der nackte
0067Thatbestand und alle Beweismittel für den Streit verloren.
0068Somit bleibt dem Einzelnen kein Proceß, sondern nur das
0069Aussprechen seiner individuellen Empfindung übrig; die meine
0070hätte im vorliegenden Falle mehr Feuer und Wärme ge-
0071wünscht. Die Augsburger Allgemeine Zeitung brachte vor
0072einiger Zeit einen geistreichen Artikel „wider die feurigen
0073Dirigenten“ — vielleicht wird der anonyme Verfasser nach
0074Jahr und Tag über die langsamen Dirigenten zu klagen
0075haben. Das Herzen des Tempos ist allerdings die verbrei
0076tetste, weil billigste und dankbarste Effecthascherei der Capell-
0077meister, aber sie ist nicht die modernste. Die Wagner’sche
0078Schule hütet sich davor, seit ihr Meister das allzu feurige
0079Dirigiren als „mendelssohnisch“ gebrandmarkt hat. Mit
0080mehr objectivem Grunde, als die immerhin mehrdeutige Auf-
0081fassung des Tempos läßt sich der willkürliche Wechsel des
0082Zeitmaßes im Verlaufe desselben Satzes anfechten. Man
0083weiß, woher dieser Wind weht: aus Wagner’s Broschüre:
0084Ueber das Dirigiren“, worin die „von unseren Dirigenten
0085mit tölpisch abweisender Verketzerung behandelte Modifi-
0086cation des Tempos
“ anbefohlen wird. Wir fordern
0087aber sogar vom Pianisten, daß er im Tact bleibe und da-
0088nach den verschiedenen Empfindungsschattirungen in einem
0089und demselben Stücke gerecht werde. Umsomehr vom Or-
0090chester, das durch ein systematisches Tempo rubato allmälig
0091den Charakter unserer classischen Compositionen gefälscht
0092haben wird. Hanns Richter, der es löblicherweise unterließ,
0093die bekannte Horn-Prolapsis im ersten Satze der „Eroica“
0094wagnerisch zu corrigiren, brachte dennoch der „Modification
0095des Tempos“ die jetzt vorgeschriebenen Opfer durch Ritar-
0096diren fast aller mit „dolce“ bezeichneten Gesangstellen. Mag
0097man nun auch im Einzelnen anderer Meinung sein, als
0098Herr Richter, den Eindruck einer kräftigen, ernsten und
0099durchaus achtungswerthen künstlerischen Persönlichkeit wird
0100man von ihm gewiß empfangen haben. Gewinnt schon auf
0101den ersten Blick seine imposante, von jeder Geziertheit freie,
0102männliche Erscheinung, so wird dieser günstige Eindruck noch
0103verstärkt durch die ruhige Festigkeit seines Tactschlages und
0104die würdevolle Bescheidenheit seines ganzen Benehmens.
0105Jedenfalls ist es eine künstlerische Persönlichkeit von aus-
0106gesprochenem Talente, die jetzt Dessoff’s schwer zu ersetzen-
0107des Wirken aufnimmt und uns mit Vertrauen in die Zu-
0108kunft der „Philharmonischen Concerte“ erfüllt.


0109Feierte das Publicum der „Philharmoniker“ mit lautem
0110Beifall die Geburt eines neuen Dirigenten in der Person
0111Richter’s, so beging man im Ersten Gesellschaftsconcert
0112nicht minder festlich die Rückkehr eines altbewährten, um
0113unser Concertwesen hochverdienten Meisters: Johann
0114Herbeck
. Wer in musikalischen Dingen nicht völlig indiffe[2]
0115rent oder gedächtnisschwach ist, der weiß, daß Herbeck die
0116Gesellschaftsconcerte vor sechzehn Jahren aus einem Zu-
0117stande trostloser Stagnation zu hoher Blüthe gebracht und
0118gleichzeitig dem „Wiener Männergesang-Verein“ und dem
0119von ihm geschaffenen „Singverein“ zu hohem Ruhm ver-
0120holfen hat.


0121Kein Wunder, wenn die Musikfreunde gar betrübt
0122dreinsahen, als Herbeck vor einigen Jahren die Direction
0123all dieser Concert-Institute niederlegte, um die Leitung des
0124Hofoperntheaters zu übernehmen. „Kehr’ wieder, schließt sich
0125dir das Heil!“, so riefen ihm, wie Venus dem entrinnen-
0126den Tannhäuser, laut oder im Geiste die Genossen seiner
0127früheren Laufbahn nach. Und er ist wiedergekehrt, nachdem
0128manch unverdient bittere Erfahrung ihn veranlaßt hatte, die
0129theatralische Dornenkrone niederzulegen. Für die „Gesell-
0130schaft der Musikfreunde“ war es eine glückliche Fügung,
0131daß Herbeck fast im selben Momente frei wurde, wo
0132jene durch den Austritt einer künstlerischen Autorität
0133allerersten Ranges, Johannes Brahms’, einen schweren
0134Verlust erlitt. Nun bedurfte es keines Suchens, keines
0135Wählens, Herbeck war der einzig mögliche, der natürliche
0136Nachfolger in das schon einmal beherrschte Reich der Ge-
0137sellschaftsconcerte. Darf er doch mit einigem Recht der
0138Vater dieses Kunst-Instituts heißen, das er zwar nicht ins
0139Leben gerufen, aber zu neuem Leben gehoben, das er zur
0140Tüchtigkeit herangebildet und jahrelang sorgsam behütet hat.
0141So wurde denn Herbeck von seiner zahlreichen Gemeinde
0142mit jubelndem Zuruf begrüßt, als er am letzten Sonntag
0143wieder an das reichbekränzte Dirigentenpult des Musikver-
0144einssaales trat. Ob Herbeck der Alte geblieben? Durchaus.
0145Dasselbe stürmische Jugendfeuer, dieselbe drängende Energie,
0146nur noch gesteigert, beinahe bis an die Grenze des Wün-
0147schenswerthen. Auffallend war schon die Schnelligkeit, in
0148welcher das Finale der Haydn’schen Symphonie, allerdings
0149glänzend genug, dahinstürmte; noch mehr die fast leiden-
0150schaftliche Heftigkeit in der Auffassung von Mendelssohn’s
0151Lobgesang“. Sei es nun, daß wir den Gegensatz zu Hanns
0152Richter gerade jetzt greller empfanden; sei es, daß etwa 
0153Herbeck selbst sich in diesen Gegensatz zu Richter setzen
0154wollte — genug, wir fanden in seiner Leitung des „Lob-
0155gesangs“ etwas Gewaltsames, fortwährend Antreibendes
0156und Aufstachelndes, das nicht im Charakter dieses Ton-
0157werkes begründet liegt.


0158Ein oft gehörtes Stück, Haydn’s lebensfrohe G-dur-
0159Symphonie, eröffnete das Concert. „Wo man auf einem
0160Concertzettel eine Haydn’sche Symphonie angekündigt liest,“
0161sagt David Strauß, „da mag man getrost hingehen, man
0162wird sich gewiß nicht enttäuscht finden, es müßte denn durch
0163die Ausführung sein. Denn da kann es allerdings vorkom-
0164men, daß gerade sogenannte bessere Orchester es am schlimm-
0165sten machen. Sie wenden gerne ihre Effectmittel, ihre
0166schroffen Wechsel in Tonstärke und Tempo auf eine Musik
0167an, die nur der schlichteste Vortrag richtig zur Erscheinung
0168bringt.“ In diesen Fehler absichtlicher Modernisirung ver-
0169fiel die Herbeck’sche Aufführung nicht bei aller Virtuosität.
0170Aber es will uns scheinen, als alterire jedes so starkbesetzte
0171Orchester den ursprünglichen Charakter dieser Compositionen.
0172Da klingt Alles gleich so anspruchsvoll und war doch von
0173Papa Haydn so anspruchslos gemeint. Erfaßt von einer Le-
0174gion von Geigern, wird ein lustiges Passagenspiel, wie im
0175Finale der G-dur-Symphonie, zur stürmischen Windsbraut
0176und ein leichter häuslicher Kummer zum National-Unglück.
0177Wir fühlen das Mißverhältniß der aufgewendeten Mittel
0178zum Inhalt, die Masse von Ton lastet wie eine prahlerische
0179Rüstung auf Haydn’s netten, zutraulichen Gestalten. Voll-
0180ständig, wie sie sollen, wirken derlei ältere Symphonien in
0181einem kleineren Saale, vor einem kleineren Publicum, mit
0182einem kleineren Orchester. In unseren großen Concertsälen
0183macht mir eine Haydn’sche Symphonie ungefähr den Ein-
0184druck wie ein älteres musikalisches Conversationsstück auf der
0185Prachtbühne unserer Großen Oper. Wir haben jetzt Alles
0186größer und besser, ohne Frage; aber es ist nicht mehr
0187dasselbe.


0188Zum erstenmale hörten wir eine bisher verschollene
0189Tenor-Arie aus Schubert’s Opernfragment „Adrast“.
0190Nach Kreißle’s Vermuthung ist der Held des (von Johann 
0191Mayrhofer gedichteten) Librettos der griechische Philosoph
0192Adrastus von Philippopolis und die nur angefangene
0193Schubert’sche Composition eine Jugendarbeit aus dem Jahre
01941815. Die Arie schmeichelt sich dem Hörer ein durch ihre
0195weiche, süße Stimmung und einige melodische Knospen von
0196echt Schubert’schem Duft. Eine dramatische Ader tritt nir-
0197gends hervor. Der Componist schwelgt im behaglichen Aus-
0198strömen Einer zarten Empfindung, und ganz liedmäßige
0199Wendungen, Mißachtung der Declamation, unablässige Wort-
0200wiederholungen stören ihn nicht in seinem lyrischen Drange.
0201Die Morgenröthe eines großen Talents schimmert hier durch
0202unscheinbare, altmodisch möblirte Räume. Walter’s seelen-
0203voller Vortrag sicherte dieser Reliquie einen sympathischen
0204Eindruck. Zwei neue Vocalchöre von Herbeck: „Glocken-
0205töne“ und „Lieb’ und Traum“, fanden in trefflicher Aus-
0206führung durch den „Singverein“ lebhaften Beifall. In
0207schöner Klangwirkung des mehrstimmigen Vocalsatzes werden
0208es Herbeck Wenige zuvorthun; auch die genannten Novitäten
0209wirkten durch diesen Reiz, bei keineswegs bedeutender Erfin-
0210dung. Den einfacheren, sanft ausklingenden „Glockentönen“
0211geben wir unbedingt den Vorzug vor dem reicher figurirten
0212zweiten Chor, welcher, von mehr äußerlicher Lebendigkeit,
0213obendrein gar zu rücksichtslos gegen die Gesetze der Decla-
0214mation vorgeht. (So springt z. B. in den Versen: „Und
0215wo’s Schifflein nicht fährt“ und „Wo endlos der Raum“
0216die zweite Sylbe von „Schifflein“ und von „endlos“ ener-
0217gisch in die Sext hinauf und werden die folgenden Wörter
0218„nicht“ und „der“ lang genommen.)


0219Die zweite Abtheilung des Gesellschaftsconcertes füllte
0220Mendelssohn’s Symphonie-Cantate „Lobgesang“. Zwei
0221in Wien gebildete junge Sängerinnen, Marianne Lieder 
0222und Marie Hellmer, traten darin zum erstenmale vor
0223die Oeffentlichkeit. Fräulein Lieder besitzt eine der schön-
0224sten und stärksten Sopranstimmen, die man gegenwärtig hier
0225hören kann, ein beneidenswerthes Material von allerdings
0226noch unzureichender Schulung. Ihr Vortrag ermangelte der
0227Wärme und nuancirenden Färbung; wahrscheinlich hat der
0228Alpdruck des ersten Auftretens (dem wir auch das sehr häu[3]
0229fige Athemholen zuschreiben wollen) noch zu stark auf Fräu-
0230lein Lieder gelastet. Die Altistin hat im „Lobgesang“ gar kein
0231Solo und wirkt in einer einzigen Nummer, dem Frauen-
0232duett, mit. Wir können deßhalb vorläufig von Fräulein
0233Hellmer nur berichten, daß sie ihre kleine Aufgabe mit
0234kräftiger Stimme und befriedigendem Vortrag löste. Herr
0235Walter steht in der schwierigen Tenorpartie des „Lob-
0236gesangs“ wol ohne Rivalen da; die Zartheit und ruhig aus-
0237tönende Empfindung, mit der er die rein lyrischen Stellen
0238sang, steigerte sich in der dramatisch bewegten Scene: „Hüter,
0239ist die Nacht bald hin?“ zum starken Pathos. Nur der Chor
0240unseres „Singvereins“ stand ihm ebenbürtig zur Seite. —
0241Was Mendelssohn’s Composition betrifft, so ist ihr
0242Reiz in den letzten zwanzig Jahren stark verblaßt. Nur ein-
0243zelne hervorragende Schönheiten, wie in der Symphonie das
0244Allegretto, in der Cantate das Frauenduett und das drama-
0245tische Tenorsolo (der Höhepunkt des Ganzen), üben noch
0246ihren alten Zauber. Unter den geistlichen Compositionen Men-
0247delssohn’s hat der „Lobgesang“ mit all seiner silbernen Klarheit
0248die wenigste Tiefe. Ueberdies läßt sich die Heterogenität der beiden
0249aneinandergefügten Theile, des symphonischen und des voca-
0250len, nur schwer verwinden. Wie kommt nur ein Symphonie-
0251Allegretto von der weltlichen Grazie dieses Sechsachteltactes
0252zu dem Inhalt des „Lobgesangs“? Stets kommt mir die
0253Vermuthung, daß irgend eine unbekannt gebliebene äußere
0254Veranlassung den Meister zu dieser Koppelung bewogen oder
0255genöthigt habe. Vielleicht eine angefangene Symphonie, für
0256die sich kein rechter Abschluß finden wollte, und eine Can-
0257tate, die für das Festconcert des Gutenberg-Jubiläums (1840)
0258zu kurz erschien? Eine Nachahmung der Neunten Sym-
0259phonie war gewiß nicht beabsichtigt; nicht nur fehlt im
0260Lobgesang“ gänzlich die psychologische Motivirung, welche
0261dort den Eintritt der Menschenstimme erklärt; es hielt sich
0262auch Mendelssohn’s maßvolle, bescheidene Künstlernatur zeit-
0263lebens fern von der heute florirenden Irrlehre, der moderne
0264Componist müsse an Beethoven’s letzte Schöpfungen „an-
0265knüpfen“. Der „Lobgesang“ ist seit mehr als einem Decen-
0266nium in Wien nicht gehört worden, daher seine Wieder-
0267aufführung im Gesellschaftsconcert vollständig zu rechtferti
0268gen. Von Zeit zu Zeit wird man die Mendelssohn’schen
0269Chorwerke immer wieder mit Vortheil ans Licht ziehen, ein-
0270mal wegen ihrer musikalischen Schönheiten, dann im In-
0271teresse der Sänger, welche sich in Mendelssohn’s effectvollem
0272Chorsatz und fließender Stimmführung jederzeit wohl fühlen.
0273Was der Bach-strenge M. Hauptmann seinerzeit über
0274Mendelssohn’s geistliche Musik äußerte: „sie sei das Beste
0275dieser Art in unserer Zeit, wenngleich letztere nicht die beste
0276sei für die Art“, war gerecht und treffend. Heute gilt der
0277Ausspruch nicht mehr vollständig. Man macht in unserer 
0278Zeit wieder geistliche Musik von tieferem Ernst und mäch-
0279tigerem Gepräge, als jene Mendelssohn’sche. Das heißt,
0280„man“ macht sie nicht, aber Brahms macht sie.


0281Apropos Brahms! Wen hat es nicht befremdet, auf
0282den für diese Saison veröffentlichten Gesammt-Programmen
0283sowol der Philharmonischen als der Gesellschaftsconcerte den
0284Namen Brahms nicht zu finden? Kein einziges Stück
0285von diesem Tondichter in dem ganzen Jahreslauf unserer
0286beiden einzigen großen Concert-Institute ! Es ist wirklich so.
0287Auf den ellenlangen musikalischen Speiszetteln, die einen so
0288großen Raum für Symphonien von Hofmann, Bruck-
0289ner
, Goldmark, Rufinatscha und Anderen haben,
0290fehlt just der Name Brahms. Wir zweifeln nicht, daß es
0291den Herren Herbeck und Richter ebenso gut gelungen wäre,
0292wie es Herrn Hellmesberger gelungen ist, irgend eine No-
0293vität von Brahms zur Aufführung zu erhalten. Und falls
0294sie diese Mühe scheuten, sind etwa die vor drei Jahren von
0295den Philharmonikern gespielten „Orchester-Variationen über
0296ein Haydn’sches Thema“ nicht der Wiederholung werth?
0297Keines der zahlreichen Chorwerke von Brahms (die zu
0298pflegen unser „Singverein“ überdies eine persönliche Ver-
0299pflichtung hätte) der Wiederholung werth? Wir wissen
0300nicht, ob diese Ausschließung des anerkannt bedeutendsten
0301Concert-Componisten seit Schumann aus der Wiener In-
0302strumental- und Vocal-Aristokratie aus Vergeßlichkeit oder in
0303bewußter Absicht geschah. Das Eine wäre nicht minder un-
0304begreiflich und niederschlagend als das Andere. In jedem
0305Falle bleibt der unschuldig Gestrafte einzig und allein —
0306das Publicum.