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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4433. Wien, Donnerstag, den 28. December 1876

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Musik.


0002Ed. H. Die beiden Weihnachts-Akademien,
0003welche das Hofoperntheater, wie alljährlich, für seinen Pen-
0004sionsfonds veranstaltete, bereiteten dem Publicum viel Ver-
0005gnügen, geben uns jedoch wenig Stoff zum Kritisiren. Die
0006scenische Aufführung des „Manfred“ von Byron mit
0007Schumann’s Musik glich der vorjährigen aufs Haar.
0008Sehr beifällig spielte Herr Robert die Titelrolle, wirksam
0009mehr durch plastische Schönheit und Wohlklang der Rede,
0010als durch psychologische Tiefe und Wahrheit. Die andere
0011dieser Weihnachts-Akademien brachte die beiden ersten Acte
0012der Oper: „Lucia von Lammermoor“. Man lauschte
0013begierig, Frau Wilt zum erstenmale als Lucia zu hören.
0014Ihre Stimme ließ an Frische und Kraft, ihre Virtuosität
0015an Glanz nichts zu wünschen übrig, stellenweise höchstens an
0016Leichtigkeit; das Spiel blieb gewohntermaßen Nebensache.
0017Blendend wirkte wieder die Energie ihrer hohen Töne, die Schön-
0018heit des Trillers auf den absteigenden Noten b, as, g im Sextett
0019und so manches Andere. Schade, daß Frau Wilt in neuester Zeit
0020einem fast krankhaften Gelüste folgt, ihre so reichen Stimm-
0021Mittel noch ein klein wenig über ihr natürliches Maß anzu-
0022strengen. Am Schluß des Sextetts stieg sie bewunderungs-
0023würdig, lerchenartig, die Trillerkette as, b, c nach dem hohen
0024Des empor — aber dieses hohe Des! Es ward mit einer
0025Gewaltsamkeit forcirt, welche dem Ohr wehthat und die
0026volle Reinheit der Intonation vereitelte. Aehnlich schloß Frau
0027Wilt die brillant vorgetragene erste Arie mit einem drei-
0028gestrichenen Dolchstich. Adelina Patti, welche angeblich
0029rivalisirenden Anstoß gegeben haben soll für die Lucia, Ophelia,
0030Elvira unserer Wilt, wirkt gerade am schönsten durch
0031das allzeit Maßvolle ihrer Kunst. Man hat nie einen un-
0032schön gellenden und unreinen Ton von ihr gehört. Frau
0033Wilt’s unvergleichliche Stimme würde noch viel edler wirken
0034ohne jenes so kühn und gewaltthätig betriebene Hazardspiel
0035ihres neuesten Bravourgesanges.


0036Auf die „Lucia“-Vorstellung folgte eine Reihe von leben-
0037den Bildern, poetisch eingerahmt von Mosenthal und
0038musikalisch interpretirt von Doppler. Das Ganze heißt
0039Das Volkslied“. Genau durfte man das Gebotene
0040beileibe nicht auf diesen Titel examiniren. Aus der Zeit der 
0041„Trauernden Juden“ (erstes Bild) besitzen wir keine Spur
0042von hebräischen Volksliedern, können daher auch Doppler’s 
0043orientalische Weise nicht dafür annehmen. Ebenso fälschlich
0044wird uns die bekannte Romanze Blondel’s aus Grétry’s 
0045Richard Löwenherz“ für ein altes provençalisches Volkslied
0046ausgegeben; es ist weder alt, noch provençalisch, noch Volks-
0047lied. Die weiteren Melodien sind gut am Platz („Prinz
0048Eugen“, „Gaudeamus“ etc.), aber Schubert’sLinden-
0049baum“, diese Perle unseres modernen Kunstliedes, hat mit
0050dem Volksgesang nichts zu schaffen, also auch nichts mit dem
0051eine Apotheose des Volksliedes versinnlichenden Schluß-
0052tableau. In der Orchester-Einleitung spielt Doppler 
0053in ebenso discreten als geistreich harmonisirten Wen-
0054dungen auf die österreichische Volkshymne an; wie
0055aber letztere in die Nachbarschaft von Spohr’s Symphonie
0056Die Weihe der Töne“ (erster Satz) geräth, bleibt uns
0057räthselhaft. Die Kritik würde sich lächerlich machen, wollte
0058sie eine reine Unterhaltungs-Production mit der Loupe unter-
0059suchen; aber gänzlich die Augen zuzudrücken, ziemt ihr doch
0060auch nicht. Für künftige Fälle würden wir empfehlen, die le-
0061benden Bilder nicht so tief in den Hintergrund zu stellen;
0062die Gesichtszüge der darstellenden Personen müssen jedenfalls
0063erkennbar sein. Die von Gaul, Brioschi und Telle 
0064effectvoll arrangirten Tableaux gefielen übrigens so allgemein,
0065daß jedes derselben, kaum verschwunden, auch schon seine
0066zweite Auflage erlebte. Als das Sextett im zweiten Act der
0067Lucia“ applaudirt wurde, erhob sich Lucia aus ihrem Ohn-
0068machts-Fauteuil, Edgar zog wieder den schon eingesteckten
0069Säbel, und — das ganze Sextett wurde repetirt. Nicht ohne
0070Schamröthe constatiren wir diese Wiedereinführung einer
0071ästhetischen Barbarei, welche seit fünfundzwanzig Jahren im
0072Hofoperntheater streng verpönt war. Wir hatten also richtig
0073prophezeit, als wir vor Jahr und Tag unsere Klage gegen
0074Director Jauner über seine Wiedereinführung des „Her-
0075vorrufs bei offener Scene“ mit den Worten schlossen: „Nur
0076ein Schritt noch und es werden im Hofoperntheater ein halb
0077Dutzend Schreier das Da capo jeder beliebigen Nummer mit-
0078ten im dramatischen Zusammenhang der Oper durchsetzen
0079können.“ Dieser Schritt wäre also glücklich auch geschehen zur
0080gänzlichen Materialisirung unseres Opernwesens.


0081Gar seltsam stach uns auf dem Programm des vierten
0082Philharmonischen Concertes“ (26. December) die
0083erste Nummer in die Augen: „Ouvertüre zu „Horatius Cocles“ 
0084von Méhul, neu“. Selbst die andächtigsten Verehrer von
0085Méhul’s „Joseph in Egypten“ kennen seinen „Horatius Co-
0086cles“ schwerlich auch nur dem Titel nach. Es war dies eine
0087einactige Oper (Text von Arnaud) aus dem Jahre 1794,
0088als man auf allen Pariser Bühnen republikanische Helden
0089sehen wollte; Méhul, dessen Muse der französischen Re-
0090publik und Armee mancherlei Dienste geleistet, schrieb auch
0091diese rasch verschollene Oper „Horatius Cocles“ und ließ
0092sogar einen „Mutius Scävola“ folgen. Die von den Phil-
0093harmonikern gespielte Ouvertüre ist echt französisches Römer-
0094thum, voll theatralischen Pomps und Pathos bei geringfügigem
0095musikalischen Inhalt. Die auch bei Cherubini häufige Manier,
0096ein kleines Motivchen von wenig Noten sechs- bis achtmal,
0097auch noch öfter wiederholen zu lassen, bald höher, bald tiefer,
0098bald von diesem, bald von jenem Instrument, herrscht auch
0099in Méhul’s Ouvertüre bis zum Ueberdruß. Das Interessan-
0100teste darin ist die schon an Spohr erinnernde sentimen-
0101tale Chromatik des zweiten Themas. Die französische
0102Reliquie wurde von unserm Publicum sehr gleichgiltig
0103aufgenommen; unter den Ouvertüren von Spontini 
0104und Spohr wären manche unseren Concertbesuchern
0105ebenso neu wie dieser „Horatius Cocles“ und dabei des Wieder-
0106erweckens würdiger gewesen. Fräulein Vera Timanoff 
0107aus Petersburg spielte Rubinstein’s drittes Clavierconcert 
0108mit großer Bravour und elegantem Vortrag der zarten
0109Stellen. Die Kraft-Experimente des ersten und letzten Satzes
0110vollkommen à la Rubinstein auszuführen, kann man von
0111Mädchenhänden, selbst russischen, nicht verlangen; ja diese
0112Bravour des Walkens, Stechens, Hauens kommt uns recht
0113unweiblich vor. Fräulein Timanoff kam in diesen starken
0114Partien gegen das Orchester nicht auf, machte obendrein
0115durch übermäßigen Pedalgebrauch die Sache nicht besser, son-
0116dern nur undeutlicher. Das Andante — trotz der fatalen
0117Reminiscenz an Dinorah’s „Heilige Jungfrau!“ eines der
0118besten von Rubinstein — spielte Fräulein Timanoff mit
0119feinem Geschmack. Sie wurde wiederholt gerufen. Mit den
0120Mozart’schen Variationen für Streich-Instrumente und zwei
0121Waldhörner hatte Herr Hanns Richter dem Concerte eine
0122äußerst glückliche Wendung und mit Schubert’s C-dur-Sym-
0123phonie ihm den imposantesten Abschluß gegeben.


0124Wir haben noch einige Worte nachzutragen über die
0125neue Symphonie von Brahms. Es ist kaum noch vorge-
0126kommen, daß die gesammte Musikwelt mit so hochgespannter [2]
0127Erwartung der ersten Symphonie eines Componisten ent-
0128gegensah. Ein Beweis, daß man Brahms gerade in dieser
0129höchsten und schwierigsten Form Ungewöhnliches zutraute.
0130Aber je größer die Erwartung des Publicums, je dringender
0131das Verlangen nach einer Symphonie, desto schwieriger und
0132scrupulöser zeigte sich Brahms. Eine unerbittliche Gewissen-
0133haftigkeit und strenge Selbstkritik gehört zu den hervorstechend-
0134sten Charakterzügen Brahms’ — jedesmal möchte er sein
0135Bestes leisten mit Aufgebot aller Kräfte, er kann und mag
0136nichts „leicht nehmen“. Lange zögerte er mit der Composition
0137von Streichquartetten, und mehr als Eine Symphonie blieb
0138als Studie in seinem Pult verschlossen; auf das Drängen
0139der Freunde antwortete er gewöhnlich, er habe zu viel Re-
0140spect vor seinen großen Vorgängern, und mit einer Sym-
0141phonie könne man heute „nicht spassen“. Diese Strenge gegen
0142sich selbst, diese Sorgfalt im Kleinsten und Größten zeigt
0143sich auch in der bewunderungswürdigen Arbeit der neuen
0144Symphonie. Wenn sie sich vielleicht zu sehr zeigt und der
0145Hörer über der erstaunlichen contrapunktischen Kunst, die er
0146meistens gar nicht wahrnimmt, die unmittelbar zündende
0147Wirkung vermißt, so kann man ihm nicht ganz Un-
0148recht geben. Die neue Symphonie ist ein so ern-
0149stes, complicirtes, von gewöhnlichen Effecten so weit
0150absehendes Werk, daß es sich schnellem Verständniß nicht
0151gleich entfaltet. Das ist immerhin, wenn auch kein Fehler,
0152doch ein Mißgeschick, für den ersten Augenblick wenigstens.
0153Die nächsten Wiederholungen werden es tilgen. Grill-
0154parzer’s
Bekenntniß: „Ich wollte allerdings Effect machen,
0155aber nicht auf das Publicum, sondern auf mich selbst,“
0156könnte als Wahlspruch auf der Symphonie von Brahms 
0157stehen. Sie gehört, das leuchtet sofort auch dem Laien ein,
0158zu den eigenthümlichsten und großartigsten Werken der Sym-
0159phonien-Literatur. Der erste Satz fesselt durch sein leiden-
0160schaftliches Pathos, sein faustisches Ringen, zugleich durch die
0161ebenso reiche als strenge contrapunktische Kunst. Das Andante
0162besänftigt diese Stimmung in langgezogenem, edlem Gesang,
0163der im Verlaufe allerdings überraschende Unterbrechungen
0164erleidet. Das Scherzo (ein Allegretto grazioso im Zwei-
0165viertel-Tact) dünkt uns nicht auf gleicher Höhe mit den
0166übrigen Sätzen, das Thema entbehrt des melodischen und
0167rhythmischen Reizes, das Ganze der Lebendigkeit; der tonlos
0168abschnappende Schluß wirkt vollends befremdend. Der 
0169vierte Satz beginnt gleich höchst bedeutend mit einem
0170Adagio in C-moll; aus dunklen Gewitterwolken hebt sich
0171klar und süß ein Gesang des Waldhorns in C-dur
0172über tremolirenden Violinen. „Da zittern alle Herzen
0173mit den Geigen um die Wette,“ äußerte ein entzückter
0174Kenner. Der Eintritt des Allegros mit seinem einfach schö-
0175nen, etwas an den Freuden-Hymnus der Neunten Symphonie 
0176erinnernden Thema ist überwältigend, und höher, immer
0177höher schwingt es sich empor bis zum Schlusse. Mit den
0178Worten, daß kein Componist dem Styl des späteren Beetho-
0179ven so nahe gekommen sei, wie Brahms in diesem Finale,
0180glaube ich keine paradoxe Behauptung, sondern eine einfache,
0181kaum anfechtbare Thatsache zu bezeichnen. Ein hohes Lob,
0182das aber keineswegs einem Componisten alle Vorzüge oder
0183gar alle im höchsten Maße zuspricht. Jede große Einseitigkeit
0184wird ja mit dem Zurücktreten von Vorzügen auf der andern
0185Seite erkauft. Mozart wäre nicht Mozart, Weber 
0186nicht Weber, wenn sie zu ihren eigenen Reizen auch noch
0187die Erhabenheit und Tiefe Beethoven’s besäßen. Beetho-
0188ven
entbehrt wieder, und am meisten in seinen großartigsten
0189Spätwerken, den zarten Duft, den melodischen Zauber, die
0190zärtliche Innigkeit, durch die uns Schumann und Men-
0191delssohn
so unmittelbar, ohne Mühen und Räthsel ent-
0192zücken. In Schumann’s kleiner D-moll-Symphonie und
0193Mendelssohn’sItalienischer“, die wir beide ganz
0194kürzlich hörten, weht ein süßer Zauber, ein berauschen-
0195der Blüthenduft, wie er in Brahms’ Symphonie nur
0196an einzelnen Stellen, gleichsam verstohlen, athmet.
0197Aber weder Mendelssohn noch Schumann knüpfen in
0198ihren Symphonien an den späteren Beethoven an,
0199wir könnten sie uns recht gut denken ohne die Voraussetzung
0200von Beethoven’s dritter Periode. Weit eher biegen Mendels-
0201sohn’s
und Schumann’s Symphonien wieder zur An-
0202schauungsweise Haydn’s und Mozart’s zurück und führen
0203diese weiter. Die Quartette und die Symphonie von
0204Brahms hingegen sind nicht zu denken ohne die letzte
0205Periode Beethoven’s. Brahms hat sich in diesen ihm von
0206Haus aus verwandten Vorstellungskreis ganz hineingelebt, er
0207ahmt nicht nach; aber was er aus seinem Innern schöpft,
0208ist ähnlich empfunden. So erinnert denn Brahms in dem
0209eigenthümlich geistigen oder übersinnlichen Ausdruck und durch
0210die schöne Länge seiner Melodien, durch die Kühnheit und 
0211Originalität der Modulationen, durch die polyphone Gestal-
0212tungskraft, vor Allem durch den männlichen hohen Ernst des
0213Ganzen an Beethoven’s symphonischen Styl. Man hat als
0214einen Hauptcharakterzug das ethische Element in Beetho-
0215ven’s Musik hervorgehoben, welche stets überzeugen, nicht
0216blos erfreuen will. Dies sondert sie so auffallend von aller
0217„Unterhaltungsmusik“, womit wir noch keineswegs etwas künst-
0218lerisch Werthloses bezeichnen wollen. Diesen strengen, ethischen
0219Charakter von Beethoven’s Musik, welche selbst im Frohsinn
0220und Muthwillen einen ernsten Geist, eine dem Ewigen zuge-
0221wendete Seele verräth, finden wir sehr entscheidend auch in
0222Brahms. Jedoch auch von den Schattenseiten des späteren
0223Beethoven lagert ein gutes Stück auf Brahms’ neuesten
0224Werken. Beethoven’s Styl ist zuletzt häufig unklar, ver-
0225worren, willkürlich geworden; seine Innerlichkeit versank oft
0226in ein launisches grüblerisches Wesen. Die schöne Klarheit,
0227der melodische Reiz, die edle Popularität seiner ersten und
0228zweiten Periode scheinen verschwunden; fast möchte man das
0229Goethe’sche Motto umkehren und sagen: Was Beethoven 
0230im Alter wünschte (oder wir ihm wünschten), dess’ hatte er
0231in der Jugend die Fülle. Zu einseitig scheint auch Brahms 
0232das Große und Ernste, das Schwere und Complicirte zu
0233pflegen auf Kosten der sinnlichen Schönheit. Wir gäben oft
0234gern die feinsten contrapunktischen Kunststücke (wie sie in
0235Brahms’ Symphonie zu Dutzenden vergraben liegen) um
0236ein Stück warmen Sonnenscheins, bei dem uns das Herz
0237aufgeht. Drei Elemente, welche in der modernsten deutschen
0238Musik eine große Rolle spielen, verwendet Brahms mit auf-
0239fallender Vorliebe: die Synkope, den Vorhalt und die
0240Gleichzeitigkeit verschiedenartiger Rhythmen und
0241Tactarten. In diesen Punkten, der Synkope namentlich,
0242dürfte Brahms kaum mehr weiter gehen, als er in neuester
0243Zeit gegangen. So hätten wir uns denn auch unsere kleinen
0244Bedenken vom Herzen geredet und können in den freudigen
0245Ton, in dem wir begonnen, wieder einfallen. Die neue
0246Symphonie von Brahms ist ein Besitz, auf den die Nation
0247stolz sein kann, auf lange hinaus ein unausgeschöpfter Born
0248ernsten Genusses und fruchtbaren Studiums, ein Buch
0249musikalischer Weisheit, das öfter gesehen sein will und das
0250unsere musikalischen Vormünder und Nährväter uns hoffent-
0251lich oft zu lesen geben werden.