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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9898. Wien, Dienstag, den 15. März 1892

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Concerte.


0002Ed. H. Mendelssohn, der in unseren großen
0003Concerten immer seltener, in der Kammermusik fast gar
0004nicht mehr vorkommt, war in der vorigen Woche durch zwei
0005umfangreiche Chorwerke vertreten: der Wiener Männergesang-
0006Verein brachte die Musik zur „Antigone“, die Gesellschaft
0007der Musikfreunde die „Erste Walpurgisnacht“ zur Auf-
0008führung. Letzteres Werk ist das vollkommenere und dank-
0009barere. Die Walpurgisnacht und die Musik zum Sommer-
0010nachtstraum — auch die Hebriden-Ouvertüre kann man dazu
0011nennen — zeigen uns Mendelssohn’s Talent in seiner
0012schönsten und stärksten Eigenart. Sein feiner Natursinn,
0013seine Begabung für das Phantastische und Geisterhafte, das
0014er allerdings nicht bis zum Dämonischen hebt, durchdringen
0015diese Tondichtungen mit entzückender Frische und Unmittel-
0016barkeit. Doch hält ihn auch hier sein Formsinn und sein
0017geistiges Gleichmaß in festen Schranken. Er zauderte lange,
0018ob er bei der Instrumentirung des Hexenchors in der Wal-
0019purgisnacht die große Trommel nehmen dürfe oder nicht.
0020„Zacken, Gabeln und wilde Klapperstöcke,“ schreibt er seiner
0021Schwester, „treiben mich eigentlich zur großen Trommel,
0022aber die Mäßigkeit räth mir davon ab.“ Unseren heutigen
0023Tonmalern würde auch die große Trommel noch nicht ge-
0024nügen. Gegenüber der „Ersten Walpurgisnacht“, dieser
0025Jugendblüthe einer genialen Erfindungskraft, erscheint
0026die Musik zu „Antigone“ mehr als ein Product der Bil-
0027dung, freilich einer ungewöhnlich tiefen und umfassenden
0028Bildung. Keinem zweiten Musiker wäre so meisterhaft der
0029Versuch gelungen, die widerstrebende Verbindung zwischen
0030antiker Poesie und der modernsten, flüssigsten aller Künste
0031in einer Weise zu vollziehen, die zwar immer eine gewisse
0032Starrheit behält, aber doch bewunderungswürdig bleibt. Am
0033verständlichsten und stärksten wirken diese Chöre dort, wo sie
0034ursprünglich hingehörten: auf dem Theater, wie die Antigone-
0035Aufführungen im Stadttheater unter Laube dargethan haben.
0036Die mehr trennende als „verbindende“ Declamation ist ein
0037zweifelhafter Nothbehelf. Immerhin bleibt es dankenswerth, 
0038wenn unser trefflicher Männergesang-Verein, der in seinen
0039letzten Concerten viel modernen Abhub gebracht, sich zeit-
0040weilig wieder einem größeren, ernsten Werke zuwendet, das
0041schon seinem Stoffe nach auf einen populären Erfolg nicht
0042zählen kann. Nur wo der überwiegend reflectirende Chor in
0043Antigone“ sich ausnahmsweise zu begeisterter Lyrik erhebt,
0044wie in der Bacchushymne, da lodert auch die Hörerschaft
0045enthusiastisch auf.


0046Im Gesellschaftsconcert schlug die „Erste Walpurgis-
0047nacht“ unter Gericke’s Leitung und energischer Mitwirkung
0048des Singvereins kräftig ein. Herr Ritter sang den
0049Druiden sehr ausdrucksvoll, auch die Tenorstimme des
0050Herrn Tomschik wirkte recht günstig. Für die Altpartie
0051und den „Wächter“ hätten wir kräftigere Stimmen und
0052energischeren Vortrag gewünscht. Die beiden übrigen Nummern
0053des Programms waren für Wien Novitäten. Die Cantate
0054Also hat Gott die Welt geliebt“ hebt sich aus Bach’s 
0055Kirchenmusiken durch ihr helles, freundliches Colorit heraus.
0056Es paßt zu dem Charakter des Pfingstfestes, für das die
0057Cantate bestimmt ist — bestimmt, wenn auch nicht ursprüng-
0058lich geschrieben. Die beiden Arien, zu welchen Bach nach-
0059träglich einen Eingangs- und einen fugirten Schlußchor
0060hinzufügte, galten von Haus aus nicht dem lieben Gott,
0061sondern dem Kurfürsten Christian von Sachsen-Weißenfels.
0062Für ein Jagdfest zu Ehren dieses Herrn componirte Bach 
00631716 als Tafelmusik eine mythologische Cantate. Er benützte
0064dieselbe später noch für mehrere andere Festgelegenheiten und
0065verpflanzte schließlich zwei Arien daraus, etwas erweitert und
0066bereichert, in die Kirchencantate „Also hat Gott die Welt
0067geliebt“. Die bekannte reizvolle Sopran-Arie „Mein gläubiges
0068Herz frohlocke“ diente ursprünglich der Hirtengöttin Pales,
0069die Baß-Arie „Du bist geboren mir zu Gute“ dem Gott Pan 
0070zum Ausdruck weltlicher Empfindungen. Schwerlich wird es
0071Jemand bemerken, daß hier das fröhlichste Heidenthum sich
0072in christliche Frömmigkeit verwandelt hat. „Waren solche Ent-
0073lehnungen überhaupt möglich,“ erklärt uns Spitta, „so
0074kann eine Stylverschiedenheit zwischen Bach’s geistlichen und
0075weltlichen Compositionen nicht bestehen. Sie besteht auch
0076wirklich nicht. Der Bach’sche Styl war der kirchliche
0077und der kirchliche Styl war der Bach’sche.“ Jeden-
0078falls beweist auch dieses Beispiel zweierlei; einmal die
0079Vieldeutigkeit der Musik: daß zwar nicht alle Melodien
0080auf jeden Text passen, wol aber sehr viele Melodien auf
0081ganz verschiedene, oft recht heterogene Texte. Zweitens: das
0082Irrige der Meinung, es hätten unsere Classiker für jeden
0083Vers die einzig richtige Melodie immer und überall in hei-
0084liger Begeisterung aus ihrem tiefsten Gemüthe geschöpft.
0085Wie viele Opern-Arien und Liebes-Duette hat Händel in
0086seine Oratorien verpflanzt! Wie ungenirt benützte Gluck 
0087seine halb verschollenen italienischen Mode-Opern für seine
0088späteren „streng dramatischen“ Tragödien! Bach hat der-
0089gleichen seltener gethan, aber gethan hat er es
0090doch auch. Sie Alle waren eben, unbeschadet ihrer idealen
0091Richtung, praktische Musiker, die nicht gerne eine
0092ihrer glücklichsten Erfindungen verloren gehen ließen.
0093Zwischen der Bach’schen Kirchencantate und Mendelssohn’s
0094Walpurgisnacht“ stand Dvořak’s Orchester-Suite in D-dur
0095(op. 39) — ein nicht schwerwiegendes, aber in seiner freund-
0096lichen Anspruchslosigkeit durchaus liebenswürdiges Tonstück.
0097Die Suite enthält fünf Nummern, welche durch ihr knappe
0098Form und sparsame Instrumentirung einen serenadenartigen
0099Charakter festhalten. Der Componist behilft sich durchwegs
0100ohne Posaunen, in den ersten vier Sätzen auch ohne Trom-
0101peten und Pauken. Ein Pastorale mit eigensinnigem Dudel-
0102sackbaß übergeht in eine etwas nachdenkliche Polka in D-moll,
0103welche von einem sehr hübschen Menuett abgelöst wird. Wie
0104reizend klingt es, wenn in der „Romanze“ zuerst über ganz
0105leisen Geigen-Accorden die Flöte allein die zärtliche Melodie
0106anstimmt, dann Oboë und Englischhorn sich zu ihr gesellen!
0107Das Finale (ein „Furiant“, ohne welchen es Dvořak nun
0108einmal nicht thut) entfesselt in raschestem Dreivierteltact
0109volksthümlichen Scherz und Frohsinn. Wir hätten für die
0110Suite, die voll feiner und glücklicher Einfälle ist, einen leb-
0111hafteren Beifall erwartet. Das Publicum mochte sich davon
0112etwas Bedeutenderes versprochen haben. Aber gerade in un-
0113serer auf das Gewaltsame gestellten Zeit thut es wohl, wenn
0114einmal ein talentvoller Componist, vom „Bedeutenden“
0115ausruhend, sich in anspruchsloser Heiterkeit ergeht. Natürlich
0116muß es mit Geist und Anmuth geschehen, Eigenschaften, an
0117denen Dvořak nicht Mangel leidet.

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0118Herr Rosé bescherte uns in seiner letzten Quartett-
0119Soirée zwei Novitäten hinter einander — wahrscheinlich um
0120durch die Quantität hereinzubringen, was dem Neuen an
0121Qualität abging. Gernsheim’s D-dur-Quintett (mit
0122zwei Bratschen) zeigt keine starke Originalität; man könnte
0123fast bei jedem der vier Sätze auf ein dem Componisten vor-
0124schwebendes Muster hinweisen. Es bereitet uns in seinem
0125Verlaufe weder eine freudige Ueberraschung noch einen tief-
0126greifenden Eindruck. Hingegen sind die formellen Vorzüge
0127des Werkes nicht gering anzuschlagen. Die Themen sind gut
0128verwendbar und heben sich, wenn auch nicht bedeutsam, doch
0129plastisch und gefällig heraus; insbesondere im ersten Allegro,
0130das sich natürlich und nicht ohne Geist entwickelt. Das sehr
0131sangbare Andante wirkt durch breiten, schönen Wohlklang
0132und dürfte, trotz seiner Länge, bei guter Ausführung überall
0133Effect machen. Scherzo und Finale sind lebendig und
0134wie alles Uebrige geschickt gemacht; mehr ist davon nicht
0135zu rühmen. Unser Respect vor Gernsheim stieg be-
0136trächtlich durch das unmittelbar darauf folgende Clavier-
0137Quartett in C-moll von Eugenio Pirani, einem in
0138physiognomielosem Wohllaut und verbrauchten Clavierpassagen
0139selbstzufrieden herumschwimmenden Tonstück. Nach Gerns-
0140heim’s Quintett, das doch überall den geschulten, erfahrenen
0141Musiker verräth, nahm sich das Pirani’sche Stück aus wie
0142die Arbeit eines vornehmen Dilettanten. ... Unter den
0143fremden Virtuosen hat die anmuthige dänische Violinspielerin
0144Fräulein Frida Scotta den meisten Beifall gefunden,
0145ihn auch vollauf verdient. Eine echt musikalische Natur,
0146spielt sie mit sichtlicher Begeisterung, dabei immer natürlich,
0147unaffectirt. Ihr schöner, kräftiger Ton, graziöser Vortrag
0148und jetzt schon ansehnlich vorgeschrittene Technik sichern
0149Fräulein Scotta einen Ehrenplatz unter den immer zahl-
0150reicher auftauchenden „Geigenfeen“.


0151Uebrigens sind es die Sänger, die jetzt im Vordertreffen
0152stehen. Gustav Walter hat in zwei überfüllten Concerten
0153seine Hörer entzückt. Er erlebt jetzt eine zweite Jugend, die
0154ebenso merkwürdig wie erfreulich ist. Was eine vollendete
0155Herrschaft über das Organ im Verein mit einem warmen,
0156blühenden Gemüth auch bei abnehmender Stimmfülle ver-
0157mag, das kann man bei Walter wie bei keinem Andern er-
0158fahren. Auch das Concert des Baritons Herrn Bulss 
0159war dicht besetzt, das Podium durchwegs von Damen,
0160welche die schöne Stimme und den stattlichen Mann nicht
0161nahe genug haben konnten. Er sang Balladen von Löwe,
0162Lieder von Brahms und Anderen — Alles mit großem Beifall.
0163Wir denken lieber an den beherzten, kraftvollen Opernsänger im
0164Zampa“, „Nachtlager“, „Troubadour“ und glauben, Herr
0165Bulss würde auch im Concertsaal seine echtesten Erfolge mit
0166Opern-Arien, insbesondere italienischen, erzielen. In seinem
0167Lieder- und Balladenvortrag ist zu viel Stimme und zu
0168wenig Geist. Man erinnere sich, wie viel überzeugender,
0169wirksamer Gura mit seinem halbverblühten Organ die-
0170selben Löwe’schen Balladen sang. Es ist vielleicht eine harte
0171Zumuthung an einen Stimmkrösus wie Bulss, mit seinem
0172Schatze hauszuhalten; aber um jeden Ton wie einen Brillan-
0173ten à jour zu fassen, dazu singt man nicht Löwe’sche Balla-
0174den. Da schleichen sich auch leicht kleine Mißverständnisse
0175ein. „Der Trompeter thät’ den Schnurrbart streichen“ —
0176wie ungeheuerlich lang muß dieser Schnurrbart sein nach
0177Bulss’ Auslegung! In der Ballade „Der Taucher“ singt
0178Herr Bulss die Stelle: „Und da hing auch der Becher an
0179spitzen Korallen“ langsam, düster, mit tiefschmerzlichen Aus-
0180druck, während es doch der freudigste Moment für den Taucher
0181ist. Die fürchterlich lange und anstrengende Taucherballade 
0182von M. Plüddemann öffentlich zu singen, dünkt uns ein ebenso
0183seltsamer Einfall, wie der, sie zu componiren. Man verweise
0184nicht auf das Beispiel Schubert’s, der, von Zumsteg’s Vor-
0185bild angeregt, als junger Mensch im Convict sich ohne viel
0186Besinnen auf die breit erzählenden Schiller’schen Balladen
0187warf. Als reifer Künstler war er sicherlich von der Unfrucht-
0188barkeit dieser Versuche überzeugt und ließ sie auch niemals
0189drucken. Von allen Schiller’schen Balladen eignet sich aber
0190der „Taucher“ am allerwenigsten für Gesang, da er, fast
0191ohne jeden lyrischen Ruhepunkt, sich nur der Schilderung ein
0192und desselben Naturschauspiels hingibt. Obendrein wiederholt
0193sich durch das zweimalige Hinabtauchen des Knappen dieselbe
0194Situation. Eher noch als zum Gesang möchte der Taucher sich für
0195melodramatische Begleitung eignen. Aber auch diese würde tiefer 
0196kaum wirken, als eine ausdrucksvolle Declamation ohne Musik.
0197Die Phantasie des Hörers ist viel reicher, malt sich die
0198Schrecken der Meerestiefe viel geheimnisvoller, grenzenloser
0199aus, als die chromatischen Scalen, Tremolos und Arpeggien
0200eines Claviers es vermögen. Und viel mehr als diese bald
0201ausgeschöpften Mittel besitzt die Tonmalerei nicht, wenn ihr
0202auch heute durch die hochgesteigerte Claviertechnik grellere
0203Farben zur Verfügung stehen, als unserem Schubert vor
0204achtzig Jahren. Ob Herr Plüddemann Talent hat? Geschick-
0205lichkeit und Bildung gewiß. Aber ein ergiebiger Quell von
0206Musik sprudelt schwerlich in ihm, sonst würde eine musik-
0207widrige Aufgabe, wie Schiller’s Taucher, ihn nicht verlockt
0208haben. Die schwierige Begleitung spielte Herr Masbach 
0209recht geläufig. Seine Solovorträge hingegen vermochten nicht
0210zu genügen. Wer ein Beethoven’sches Adagio und eine der
0211zartesten Noctürnes von Chopin so abgezirkelt pedantisch ab-
0212spielt, mit so trockenem Anschlag und schwerer Hand, der ist
0213kaum zum Pianisten geboren.


0214Eine neue sehr anziehende Erscheinung trat uns in Frau
0215Lillian Sanderson entgegen. Die in Milwaukee ge-
0216borene schöne junge Dame ist eine Schülerin Stock-
0217hausen’s
, dessen vortreffliche Methode deutlich aus ihrer
0218Gesangsweise hervorleuchtet. Sie behandelt ihr Organ, eine
0219mäßig starke Altstimme von weichem Klang, mit feinem Ge-
0220schmack, intonirt rein und spricht musterhaft deutlich aus.
0221Was sie vorträgt, ist bis ins kleinste Detail studirt, mit ver-
0222ständiger Klarheit auseinandergesetzt. Eine leidenschaftliche
0223Betheiligung des Gemüths strömt nicht aus ihrem Gesang,
0224eher ein kühler Hauch, der zu der ruhigen, statuarischen Er-
0225scheinung der Sängerin stimmt. Das Programm der
0226Sanderson interessirte durch viele neue oder selten gehörte
0227Stücke von allerdings ungleichem Gehalt. Weder „Die
0228rothe Hanne“ noch „Die Kartenlegerin“ stehen unter
0229Schumann’s Liedern obenan. „Die Kartenlegerin“ mit
0230ihrem reizenden kleinen Vorspiel ist wenigstens lebhaft
0231und fein pointirt, wurde auch von Frau Sanderson,
0232leicht zwischen Singen und Sprechen schwebend, mit
0233graziöser Anschaulichkeit vorgetragen. Hingegen ist die „rothe
0234Hanne“ ein musikalisch unfruchtbarer Stoff, der mit seinem [3]
0235sechsmal wiederkehrenden schwerfälligen Refrain („Sei Gott 
0236du mit der rothen Hanne; der Wilddieb sitzt in sich’rer
0237Huth“) peinlich monoton wird. Noch ein drittes Lied von
0238Schumann sang Frau Sanderson, wol das allerkleinste und
0239allereinfachste, das je öffentlich gesungen ward: „Der
0240Schmetterling“. Es ist dem „Liederalbum für die Jugend“
0241(op. 79) entnommen und ein wirkliches Kinderlied. Nicht
0242von allen Stücken der Sammlung kann man das sagen, am
0243wenigsten von dem schönsten daraus: „Kennst du das Land?“,
0244das eine feingebildete Sängerin von ernstem, tiefem Gemüth
0245verlangt. Die vier Gesangstücke von August Bungert,
0246dem Haus- und Hofcomponisten der Carmen Sylva, haben
0247uns mehr interessirt als befriedigt, so gerne wir das
0248poetisch Anschmiegende und musikalisch Tüchtige darin an-
0249erkennen. Aber die Gedichte sind doch zu sonder-
0250bar und musikalisch unergiebig — mit Ausnahme des
0251kleinen Liedes“ das in seiner Anspruchslosigkeit auch
0252am günstigsten wirkte. Eine trostlose social-demokratische
0253Scene, dieser frierende „Sandmann“, der vergeblich vor allen
0254Häusern „Sand! Sand!“ ruft und daheim fünf hungernde
0255Kinder hat. Dann der unglückliche Schuster, der in „ein
0256wundernettes Füßchen mit rosenrothen Zehen“ verliebt ist.
0257Endlich gar „der junge Haiduck“! Dem ist ein Kuß seiner
0258Liebsten „ins Blut eingedrungen“ und er „durchschweift die
0259ganze Erde mit seinem Kusse“, bis ihm die weiße Frau be-
0260gegnet, ihm den Kuß der Liebsten wegnimmt und in ihren
0261Gürtel steckt! Das macht doch ein bischen zu starke Anfor-
0262derungen an unsere Fassungskraft und unser Mitgefühl.
0263Jedenfalls verlangte diese offenbar rumänische Volkssage von
0264der Musik eine entsprechend nationale Färbung. Noch mit
0265vielen anderen Liedern erntete Frau Sanderson lebhaften
0266und wohlverdienten Beifall. Sie ist keine Sängerin von
0267hinreißendem Temperament oder mächtiger Stimme, aber
0268eine sehr interessante und vornehme Künstlernatur. Unter-
0269stützt wurde sie von dem jungen talentvollen Geiger Herrn
0270v. Kunits, der ein Adagio von Nardini und eine
0271Romanze eigener Erfindung spielte. Zwischen beiden Com-
0272positionen liegt ein volles Jahrhundert, aber in ihrer Lang-
0273weiligkeit treffen sie wie in einem Mittelpunkt zusammen.