Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9931. Wien, Sonntag, den 17. April 1892
[1]Oesterreichische Monarchen als Tondichter.
0002Ed. H. Als kürzlich in Berlin die musikalischen Com-
0003positionen Friedrich’s des Großen im Druck erschienen, mochte
0004sich mancher Oesterreicher fragen: Warum geschieht Aehn-
0005liches nicht bei uns? Haben wir doch gegen den Großen
0006Friedrich — diesen auch musikalisch „Einzigen“ im preu-
0007ßischen Königshause — eine ganze Reihe österreichischer
0008Monarchen aufzuführen, die sich als Componisten hervorge-
0009than. Während die Vorgänger Friedrich’s eher zu den Geg-
0010nern der Musik und seine Nachfolger wenigstens nicht zu
0011ihren Priestern zählen, bietet Oesterreich das merkwürdige
0012Schauspiel, daß mehrere Generationen ein und derselben
0013Dynastie sich durch regsten Antheil an der Tonkunst aus-
0014zeichnen. Von dieser speciellen Begabung und Thätigkeit der
0015österreichischen Herrscher im siebzehnten und achtzehnten Jahr-
0016hundert hat das große Publicum nur sehr vage Kenntniß;
0017etwa gerade so viel, als die gangbaren Lesebücher mittheilen.
0018Man weiß, daß Kaiser Max I. den bedeutendsten Orgel-
0019Virtuosen seiner Zeit, Paul Hofhaimer, hochgeschätzt und
0020geadelt hat, daß er den berühmtesten deutschen Contra-
0021punktiker Heinrich Isaak nach Wien berief; man weiß,
0022daß die mit Karl V. beginnende „spanische Zeit“ in Wien
0023des musikalischen Glanzes nicht entbehrte, daß endlich Ferdi-
0024nand I. und II. große Musikfreunde gewesen. Daß aber
0025mit dem Sohne des Letzteren, mit Ferdinand III., eine Reihe
0026von Habsburgern beginnt, welche als Virtuosen und Componisten
0027glänzten, das ist in seinen biographischen Einzelheiten und
0028musikalischen Documenten fast gar nicht bekannt. Am hellsten
0029noch leben im Bewußtsein des Volkes die sympathischen
0030Persönlichkeiten Maria Theresia’s und Joseph’s II., auch in
0031ihrem Verhältniß zur Musik. Der Wiener denkt mit Stolz
0032daran, daß die große Kaiserin auch eine vortreffliche
0033Sängerin und musikalische Erzieherin ihrer Kinder war;
0034daß Kaiser Joseph in seinen Hausconcerten als tüchtiger
0035Musiker und Partiturspieler mitwirkte, den Opernproben bei-
0036wohnte, mit Mozart und den bedeutendsten Tonkünstlern
0037liebevoll verkehrte. Aber den Vorfahren Maria Theresia’s
0038stehen wir seltsam fremd gegenüber. Und doch sind es gerade
0039sie, welche nicht blos genießende und ausübende, sondern
0040schaffende Tonkünstler gewesen. Die Kaiser Ferdinand III.,
0041Leopold I., Joseph I. und Karl VI. haben selbst componirt,
0042und das nicht wie große Herren, sondern wie geschulte
0043Musiker. Von den Compositionen Karl’s VI., in deren An-
0044erkennung die Musikgelehrten übereinstimmten, hat sich leider
0045nichts erhalten. Er war ein eifriger Schüler des berühm-
0046testen Theoretikers seiner Zeit, Johann Joseph Fux, dessen
0047grundlegendes Werk „Gradus ad Parnassum“ der Kaiser
0048auf eigene Kosten drucken ließ. Oft stellte sich Kaiser
0049Karl an die Spitze seines Orchesters und dirigirte
0050vom Clavier aus Kammermusiken und ganze Opern.
0051Bei einem solchen Anlasse rief einmal Fux ganz entzückt:
0052„Ach, wie schade, daß Majestät kein Virtuose geworden sind!“
0053— „Hat nichts zu sagen,“ entgegnete der Kaiser mit Humor,
0054„hab’s halt so besser.“ Es ist sichergestellt, daß Compositionen
0055von Karl VI. bei Hof und in der Kirche aufgeführt worden
0056sind; trotz der eifrigsten Nachforschungen in Oesterreich und
0057Spanien ist es jedoch nicht gelungen, auch nur eine der-
0058selben aufzufinden. Das ihm allgemein zugeschriebene
0059„Miserere“ erwies sich als von der Hand Kaiser Leopold’s
0060herrührend.
0061Hingegen sind uns werthvolle Compositionen geistlichen
0062und weltlichen Inhalts von den Kaisern Ferdinand III.,
0063Leopold I. und Joseph I. erhalten. Dieselben gelangen jetzt
0064in sorgfältiger Auswahl zum erstenmale an die Oeffentlich-
0065keit. Dem Unterrichtsminister Freiherrn v. Gautsch ge-
0066bührt das Verdienst, zuerst vom Kaiser die Bewilligung zu
0067dieser Herausgabe erbeten zu haben. Das prachtvoll aus-
0068gestattete Werk führt den Titel: „Musikalische Werke
0069der Kaiser Ferdinand III., Leopold I. und
0070Joseph I. Herausgegeben im Auftrag des k. k. Unter-
0071richtsministeriums von Dr. Guido Adler.“ Der Band ent-
0072hält drei Werke von Ferdinand, zehn von Leopold, eins
0073von Joseph — durchaus geistlichen Inhalts. Ein zweiter
0074Band soll weltliche Gesänge und Instrumental-Com-
0075positionen dieser Kaiser bringen. Dieses monumentale
0076Werk ist in der kostbaren Ausstattung des berühmten
0077Wiener Verlages Artaria eine Seltenheit und soll
0078auch eine Seltenheit bleiben. Es werden nämlich,
0079außer 20 zu Geschenken bestimmten Prachtexemplaren, nur
0080200 numerirte Exemplare für Subscribenten hergestellt
0081und die Platten sodann eingeschmolzen. Erst in späterer Zeit
0082sollen einzelne dieser Compositionen (blos im Clavierauszug)
0083in einer „Volksausgabe“ erscheinen. Die Herstellung dieser
0084Publication verlangte viel Arbeit und Sorgfalt. Wie schwer
0085war nicht aus den Hunderten von Werken Kaiser Leopold’s
0086eine richtige Auswahl zu treffen! Die Compositionen, zum
0087allergrößten Theil nur in Stimmen vorhanden, mußten erst
0088in Partitur gesetzt werden. Mancherlei Lücken und zweifel-
0089hafte Lesarten erforderten einen philologisch und musikalisch
0090erfahrenen Herausgeber, der in seinem Revisions-Bericht sich
0091gegen alle Einwendungen hieb- und stichfest erweisen mußte.
0092Den rechten Mann dafür hat der Unterrichtsminister in
0093einem jüngeren österreichischen Gelehrten, dem Professor der
0094Musikgeschichte an der deutschen Universität in Prag,
0095Dr. Guido Adler, gefunden. Professor Adler ist den Fach-
0096genossen als Mitherausgeber der bei Breitkopf & Härtel er-
0097scheinenden „Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft“ rühm-
0098lich bekannt. Wenn ihn nicht schon seine zahlreichen eigenen
0099Aufsätze als gründlichen Musikforscher beglaubigt hätten, das
0100Vertrauen der ersten deutschen Musikgelehrten, Spitta und
0101Chrysander, welche sich ihn als Dritten im Redactions-
0102bunde erwählten, würde es thun. Nicht blos in der sorg-
0103fältigen Redaction des musikalischen Theils, auch in der
0104ausführlichen historischen Einleitung dazu hat sich Professor
0105Adler seiner Aufgabe vollkommen gewachsen gezeigt. An
0106dieses Vorwort anlehnend, möchten wir unsere Leser zu den
0107Kaiser-Compositionen selbst geleiten.
0108Kaiser Ferdinand III., von dem drei Kirchen-Compo-
0109sitionen den Band eröffnen, hatte Musikliebe und -talent
0110von seinem Vater geerbt. Athanasius Kircher, eine der
0111ersten musikalischen Autoritäten, schrieb, daß Ferdinand III.
0112als Musiker unter allen Regenten nicht seinesgleichen habe.
0113Diesem gelehrten Jesuiten widmete der Kaiser sein „Drama
0114musicum“ (1649), ein merkwürdiges Werk, weil eines der
0115ersten, das auf deutschem Boden in Nachahmung der neu
0116entstandenen italienischen Oper geschaffen wurde. Von den
0117zahlreichen geistlichen Compositionen des Kaisers offenbart das [2]
0118„Miserere“ am auffallendsten sein Talent. Noch eigenthüm-
0119licher erscheint uns sein Hymnus „De Nativitate Domini“
0120mit der charakteristischen Begleitung von drei Flöten und
0121drei Trompeten. Trotz der Stürme des ausgehenden dreißig-
0122jährigen Krieges sorgt Ferdinand unermüdlich für seine Ton-
0123künstler und für Gewinnung neuer tüchtiger Kräfte. Er sendet
0124die talentvollen jungen Musiker Froberger und Kerl nach
0125Italien und wirkt so vorbereitend für die heranwachsende Be-
0126deutung der süddeutschen Orgel- und Instrumental-Musik.
0127Es war die Zeit, da die Italiener immer mehr Boden ge-
0128wannen in Deutschland, vor Allem in Dresden, München
0129und Wien. Noch höher stieg ihr Einfluß unter Ferdinand’s
0130Nachfolger, Leopold I. Ein vielseitig unterrichteter, hoch-
0131gebildeter Mann, ursprünglich zum geistlichen Stand bestimmt,
0132hatte er sich vorzugsweise die Musik zur treuen Begleiterin
0133im Leben erwählt. Die Gesammtzahl seiner Compositionen
0134ist erstaunlich, ein Beweis für seine Kunstbegeisterung, wie
0135für seine unermüdliche Arbeitskraft. Die Historiker rühmen
0136den Gleichmuth und die Charakterstärke, mit welcher der
0137Kaiser so viele empfindliche Schicksalsschläge ertrug. Von
0138Natur friedliebend, brachte er doch sein Leben, mit geringen
0139Unterbrechungen, im Kriege zu: gegen Schweden, gegen die
0140Türken, gegen Frankreich. Dazu die Revolution in Ungarn,
0141die Belagerung Wiens durch die Türken! Aber nach jedem
0142Kummer, jeder Sorge flüchtete der Kaiser zu seiner Lieblings-
0143beschäftigung, der Musik. Er hat nicht weniger als 79 Kirchen-
0144musikwerke componirt, darunter acht Oratorien. Noch größer
0145ist die Zahl seiner weltlichen Compositionen: 155 ein- und mehr-
0146stimmige Gesänge, größtentheils Einlagstücke in die Opern und
0147Oratorien seiner Hofcapellmeister; ferner neun „Feste teatrali“,
014817 Ballette, aus welchen nur noch 102 Tänze erhalten sind. Alle
0149festlichen Familientage bei Hof verschönt der Kaiser mit
0150Musiken seiner Composition; für Todesfälle in der kaiser-
0151lichen Familie schreibt er selbst Requiems oder Trauergesänge.
0152In seinen drei „Trauerlectionen“ für seine zweite Gemalin
0153Claudia Felicitas kommt sein tiefstes Schmerzgefühl zum
0154Ausdruck. Kaiser Joseph I. und Karl VI. ließen diese Trauer-
0155lectionen jährlich am Todestag ihres Vaters aufführen,
0156pflegten überhaupt mit großer Pietät die Werke desselben.
0157Ein Zug stiller Schwermuth, den man schon in seiner Jugend
0158bemerkt haben will, charakterisirt die meisten Compositionen
0159des Kaisers. Welch merkwürdig charakteristische Erscheinung,
0160dieser kaiserliche Capellmeister von kleiner Statur und düsterem
0161Blick, stets in schwarzem spanischen Gewand und langer
0162schwarzer Allonge-Perrücke! Mit der Musik verscheuchte er
0163alle Kümmerniß. „Diesen Fasching,“ schreibt er 1666, „hätte
0164ich ziemlich still sitzen sollen wegen der Todten-Klagen, doch
0165haben wir etliche Festl in camera gehabt; denn es hilft den
0166Todten doch nit, wann man traurig ist.“ Kaiser Leopold gab
0167mit Vorliebe Feste mit Musik und sah es gern, wenn seine
0168Familie im Vereine mit dem hohen Adel selbst an den Auf-
0169führungen mitwirkte. Sein Sohn, der römische König Joseph,
0170und dessen Gemalin folgen diesem Beispiel, und ihre Kinder
0171feiern mit musikalischen Productionen die Festtage der Eltern.
0172Diese Uebung erhielt sich bei Hofe noch lange Zeit. Alle
0173Kinder Karl’s VI. waren musikalisch gebildet, insbesondere
0174geübte Sänger. Gesangskunst und Geschmack für den bel canto
0175vererbten sich in der kaiserlichen Familie. Davon geben auch
0176die Compositionen Kaiser Leopold’s Zeugniß; sie sind alle
0177sangbar und fließend geschrieben. Sein Meisterwerk ist der
0178Psalm „Miserere“, der lange für ein Werk späterer Zeit ge-
0179halten, ja direct dem Kaiser Karl VI. zugeschrieben wurde.
0180Indeß liegt jetzt der Entwurf von der Hand Kaiser Leopold’s
0181vor, aus dessen letzten Lebensjahren das Stück stammt. Ein
0182Facsimile desselben liegt der Publication bei. Von einem
0183Italiener, dem Grafen Portia, erzogen, faßte Kaiser Leopold
0184schon in der Jugend eine Vorliebe für die italienische Sprache
0185und den italienischen Musikstyl, dessen Herrschaft sich über
0186ganz Deutschland auszubreiten begann. Demungeachtet com-
0187ponirte Leopold auch drei deutsche Singspiele und zwei
0188Oratorien in deutscher Sprache, deren Pflege damals noch
0189sehr im Argen lag. Das Italienische war die Sprache des
0190Hofes und der vornehmen Gesellschaft. Ein alter Biograph
0191Leopold’s verwundert sich sogar, daß der Kaiser überhaupt
0192gut Deutsch sprechen konnte, „absonderlich da in Oester-
0193reich diese Sprache fast in fremden Landen ist.“ Von seiner
0194Mutter her und seiner ersten Gemalin Margarethe zuliebe
0195pflegt der Kaiser auch die spanische Sprache, setzt selbst Musik
0196zu spanischen Intermezzos und verlangt wiederholt von seinem
0197Gesandten Compositionen aus Spanien. So sehen wir den
0198Kaiser im regen Verkehre mit den Ländern, wo Musik ge-
0199pflegt wurde. Sein Ruf als musikkundiger Fürst und der
0200Ruhm seiner Hofcapelle verbreiteten sich weit. „Seine Ca-
0201pelle,“ schreibt Leopold’s erster Biograph Rink, „kann wol
0202die vollkommenste in der Welt genennt werden, und dieses
0203ist gar kein Wunder, nachdem der Kaiser allemal selbst das
0204Examen anstellte, wenn einer darinnen sollte angenommen
0205werden, da denn blos nach Meriten und nicht nach Nei-
0206gungen geurtheilt ward. Wenn alle Collegia in Wien auf
0207solche Art untersucht und besetzt worden, so ist kein Zweifel,
0208Wien wäre ein Paradies auf Erden gewest. Man kann aus
0209der Menge der erfahrensten Künstler urtheilen, wie hoch sie
0210dem Kaiser zu stehen kommen!“ Freilich kamen sie ihm sehr
0211hoch zu stehen, denn sie waren fürstlich bezahlt und sehr
0212zahlreich, aber auch gehörig angestrengt im Dienst. Während
0213innerhalb des Zeitraumes 1630 bis 1657 nur sechzehn
0214Aufführungen von Opern und Oratorien stattgefunden
0215hatten, wurden unter Leopold von 1658 bis 1705 mehr als
0216vierhundert veranstaltet. Der Kaiser nahm die Musiker auch
0217auf seinen Reisen mit. Dieser strenge Dienst — und wie wir wol
0218beisetzen dürfen, der mitunter in Rückstand gebliebene Sold —
0219machte die Musiker zeitweilig mürrisch und nachlässig. Da
0220tritt der Kaiser einmal persönlich mit seiner Autorität ein
0221für Disciplin und Gehorsam. Eigenhändig entwirft er die
0222strengen Verhaltungsregeln, die im Facsimile von des Kaisers
0223Handschrift dem Buche beigegeben sind. („Punti ch’io voglio
0224che siano delli miei Musici sempre inviolabilmente
0225osservati.“) Für seine Hofmusiker zeigt Leopold fortwährend
0226das größte Interesse. Er befreit sie von einem Theil der
0227Kopfsteuer, fördert junge Talente, schafft das Amt der „Hof-
0228compositoren“, um tüchtige Meister, die nicht als Capell-
0229meister oder Organisten angestellt werden können, zu unter-
0230stützen. Der berühmte Johann Joseph Fux, ein Steier-
0231märker, war der Erste in dieser neuen Würde. In seiner
0232Vorliebe für prächtige Instrumentation erscheint Leopold als
0233echter Repräsentant des süddeutschen Geschmacks; seine Rich-
0234tung beförderte jenen Sinn für Klangschönheit und Instru-
0235mental-Colorit, der für unsere Musik charakteristisch wurde.
0236(Ein Beispiel liefern die glänzenden Eintritte der Cornetti
0237in seinem Psalm „Laudate pueri“.) So bildete sich die
0238Grundlage, auf welcher im kommenden Jahrhundert die
0239Wiener Kunst sich zur Classicität erheben sollte. Die Liebe
0240zur Musik blieb dem Kaiser treu bis zur letzten Stunde.
0241Als Leopold sein Ende herannahen fühlte, befahl er, daß seine
0242Capelle im Nebenzimmer mehrere seiner Lieblingsstücke
0243spielen solle. Unter den Klängen derselben entschlief er.
[3]
0244Im Gegensatze zu dem unerschütterlich gelassenen Gleich-
0245muthe Leopold’s war das Temperament seines Sohnes
0246Joseph I. lebhaft und feurig. Von schneller Auffassung und
0247ehrgeizig, gehörte er zu jenen hochbegabten Prinzen, an deren
0248Thronbesteigung sich die schönsten Hoffnungen knüpfen. Leider
0249starb er, 33 Jahre alt, schon im sechsten Jahre seiner Re-
0250gierung. Sein musikalisches Talent war noch persönlicher
0251und intensiver, als das seines Vaters und Großvaters. Nur
0252drei Compositionen sind uns von ihm erhalten, eine geist-
0253liche und zwei weltliche. Aber diese Proben berechtigen zu
0254der Vermuthung, Joseph I. wäre ein bedeutender Componist
0255geworden, wenn seine Geburt ihn nicht zum Herrscher über
0256ein großes Reich bestimmt hätte. Allerdings haben seine
0257wissenschaftlichen und ritterlichen Beschäftigungen, seine
0258Regentenpflicht, endlich auch ein Zug von Ungeduld in
0259seinem Charakter zusammengewirkt, um sein musikalisches
0260Talent nicht völlig zur Reife kommen zu lassen. Joseph’s
0261Compositionen zeigen gegen die seiner Vorfahren ein origi-
0262nelleres Talent und einen merklichen Fortschritt in der
0263musikalischen Kunst. Er stand eben auf den Schultern
0264einer vorgeschrittenen Zeit. Während seine Ahnen in
0265einer musikalischen Uebergangszeit geschaffen hatten, schrieb
0266Joseph bereits unter dem Einflusse eines genialen,
0267epochemachenden Meisters wie Alessandro Scarlatti. Nicht
0268nur seine Kirchen- und Kammermusik stand auf hoher Stufe,
0269auch die Opernaufführungen unter Joseph I. übertrafen an
0270musikalischer Vollkommenheit und äußerer Pracht noch die
0271berühmten zu Leopold’s Zeit. Joseph I. erbaute als Ersatz
0272für das 1699 abgebrannte Opernhaus ein prächtiges neues,
0273das zwischen der Hofbibliothek und der kaiserlichen Reitschule
0274stand. Hier wurden die besten Werke der italienischen Meister
0275Alessandro Scarlatti, Ziani, Bononcini, Ariosti, Caldara in
0276vollendeter Ausführung gehört. Mit der glänzenden Sopran-
0277Arie Joseph’s I. „Regina coeli“ schließt der uns vorliegende
0278Band des großen musikalischen Kaiserwerkes. Wir dürfen
0279demselben nicht blos musikgeschichtliche Wichtigkeit, sondern
0280auch ein eminent culturhistorisches Interesse zuerkennen. Die
0281ganze gebildete Welt, die jetzt zum erstenmal einen Einblick
0282in das musikalische Schaffen der habsburgischen Dynastie
0283empfängt, wird dasselbe mit Antheil verfolgen. Wir Oester-
0284reicher aber betrachten mit Stolz und Rührung dieses
0285Monument einer sich forterbenden künstlerischen Thätigkeit,
0286welche in der Culturgeschichte nicht ihresgleichen hat.