Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10493. Wien, Samstag, den 7. November 1893
[1]Hofoperntheater.
(Gemma Bellincioni. Georg Müller.)
0003Ed. H. Mit großer Spannung und ein klein wenig
0004Mißtrauen drängte sich das Publicum zu der jüngsten
0005Aufführung von „Freund Fritz“, um Gemma Bellincioni
0006als Susel zu hören. Eine Welt liegt zwischen der vulcanischen
0007Natur und dem tragischen Schicksal der Santuzza oder Ro-
0008sella und dem freundlichen Schwabenmädchen, das sich als
0009Geburtstags-Gratulantin mit Knix und Blumenstrauß ein-
0010führt, beim Kirschenpflücken ihr Herz entdeckt und schließlich
0011aus einem leichten Mißverstehen als glückliche Braut hervor-
0012geht. Wird unsere heißblütige Italienerin sich wirklich in
0013diese kleinbürgerliche Idylle einleben, nicht blos hinein-
0014zwingen? Daß geniale Darsteller solche und noch viel schärfere
0015Contraste mit gleichem Erfolge bewältigt und heute in tragi-
0016schen, morgen in heiteren, sogar possenhaften Rollen geglänzt
0017haben, wissen wir aus der Geschichte der englischen und
0018deutschen Schauspielkunst. In der Reihe der weiblichen
0019Künstlerinnen wiederholt sich dieses Phänomen viel seltener,
0020wie das ja ihrer einheitlicheren, begrenzteren Natur und
0021ihrem von der äußeren Erscheinung stärker abhängigen Talent
0022entspricht. Die äußere Erscheinung — da liegt der einzige
0023Punkt, an welchem eine Art von Mißtrauen gegen unsere
0024italienische Susel sich nicht unbegründet erwies. Ihre Per-
0025sönlichkeit — aber nur diese — reagirt gegen das Bild,
0026das wir uns von der Susel machen: ein schüchternes
0027Mädchen, unerfahren, rothwangig und kerngesund. Dagegen
0028die lange, hagere Gestalt der Bellincioni, diese großen, dunkel-
0029glühenden Augen, diese scharfgemeißelten, bedeutenden Ge-
0030sichtszüge — eine Wahlstatt von Gedanken und Schicksalen!
0031Damit sind aber auch alle Bedenken erschöpft, welche bei
0032dem ersten Auftreten Susel’s vielleicht in uns aufsteigen.
0033Haben wir uns mit dieser Aeußerlichkeit befreundet oder
0034wenigstens abgefunden, so lohnt uns sofort der Genuß einer
0035vollendeten Kunstleistung. So wie die Bellincioni die Rolle
0036singt und spielt, wir könnten nicht das Geringste anders
0037wünschen und haben es niemals besser gesehen. Sie hat ihre
0038Aufgabe nirgends zu hoch gegriffen, nirgends zu stark ange-
0039faßt; kein Accent, keine Bewegung verrieth die eminente
0040Tragödin. Ihr Blut und ihr Talent triumphiren im
0041Sturm der Leidenschaften, aber ihrem Kunstverstand
0042fehlt nicht die Empfindlichkeit der feinen Wage.
0043Davon hat jede Scene uns überzeugt. Susel’s Verschämt-
0044heit im ersten, ihre aufblühende Neigung zu Fritz im zweiten
0045Act, im dritten endlich der Wechsel von Schmerz und un-
0046verhoffter Freude — es war Alles echt, natürlich und von
0047seelischer Anmuth durchhaucht. Ja, manche Stelle, die durch
0048ihre hohe Stimmlage und declamatorische Uebertreibung
0049leicht zu falschem Pathos verleitet — wie die biblische Er-
0050zählung am Brunnen — sang die Bellincioni viel
0051maßvoller, als unsere deutschen Sängerinnen. Nach Fritzens
0052Abreise sinkt sie nicht gleich vernichtet zusammen; ihre Ent-
0053täuschung äußert sich, sehr richtig, anfangs als bitterer Verdruß.
0054Sie zerpflückt hastig den für Fritz gewundenen Strauß, und
0055erst allmälig löst sich ihr Mißbehagen in Trauer und
0056Thränen auf. Kurz: eine große Kunstleistung und ein großer
0057Erfolg. Ein Erfolg, der, wie mir scheint, nicht allein die
0058Sängerin, sondern auch das Publicum ehrt. Denn dieses
0059hat, ein wenig voreingenommen, doch sofort die echte Künstler-
0060schaft der Bellincioni selbst in der ihr ferner liegenden und
0061recht undankbaren Susel-Rolle erkannt und gefeiert, trotz San-
0062tuzza und Rosella. Undankbar ist die Partie hauptsächlich
0063durch Schuld des Componisten. Ich will die rein persönliche
0064Empfindung nicht verhehlen, daß Mascagni’s Opern mir bei jeder
0065Wiederholung weniger Eindruck machen, um nicht zu sagen, einen
0066unangenehmeren. Nach längerer Pause, wie sie ja so förder-
0067lich ist zur Richtigstellung unseres Urtheils, habe ich gelegent-
0068lich des Bellincioni-Gastspiels die „Cavalleria“ sowie
0069„Amico Fritz“ wieder gehört und die Dürftigkeit ihrer
0070musikalischen Erfindung fast peinlich empfunden. In der
0071„Cavalleria“ wird sie durch das Aufgebot materieller Mittel
0072verdeckt, und der Contrast dieser Massengewalt hebt wiederum
0073das nur durch flachen Wohlklang wirkende, unverdient be-
0074rühmte Intermezzo. „Freund Fritz“ entbehrt die dramatisch
0075fortreißende Gewalt der „Cavalleria“, aber zu seinem Vor-
0076theil auch die Rohheit derselben. Das musikalische Flickwerk
0077im „Freund Fritz“, die Methode des Melodie-Anstückelns
0078springt jedesmal deutlicher in die Augen. Der zweite Act
0079enthält geistreiche Einfälle, Partien von feinem Lustspiel-
0080glanz. Aber rechts und links davon? Ein erster Act, der
0081einfach Null ist, und ein dritter, welcher mit aller An-
0082strengung es nicht über das Banale hinausbringt; beide unver-
0083blümt langweilig. Das Geschäft, uns über diese musikalische
0084Armuth zu täuschen, müssen die harmonischen Nadelstiche
0085besorgen, womit Mascagni die allergewöhnlichsten Melodien
0086ausstattet. Sie thun, was nur in ihrer Macht steht, uns
0087das Gehör zu ruiniren. Die einfachen Grundgesetze der
0088Harmonie sind in der Natur begründet, nicht willkürlich,
0089und ebenso unverletzlich wie in der Sprache die Gesetze der
0090Declination und Conjugation. Wenn Wilhelm Tell, um den
0091schlichten Anfang seines Monologs „pikant“ zu machen,
0092spräche: „Durch dieser hohler Gasse muß er gekommen“, so
0093würde man ihn schwerlich weiter anhören. In der Musik
0094aber läßt man sich alles Mögliche gefallen, so lange gefallen,
0095bis man selber nicht mehr wissen wird, ob im Molldreiklang
0096die große oder die kleine Terz und ob als Leitton ein ganzer
0097oder ein halber Ton richtig ist.
0098Wir haben das Künstlerpaar Bellincioni-Stagno noch
0099einmal gehört: im großen Musikvereinssaal. Concerte, von
0100Opernsängern veranstaltet, gewähren selten eine reine Be-
0101friedigung; sie bringen Allerlei, Vielerlei und doch selten
0102etwas Rechtes. Auch das Programm der Bellincioni spielte
0103in allen Farben und mehrte noch die Besorgniß, es würde
0104diese geniale dramatische Sängerin, abgetrennt von den
0105scenischen Hilfsmitteln, hinter ihren Opernleistungen empfind-
0106lich zurückbleiben. Für dieses Mißtrauen hat sie uns mit
0107der schönsten Ueberraschung bestraft. Wie der Troubadour
0108Bertrand de Born in Uhland’s Ballade sich rühmt, jeder-
0109zeit nur der Hälfte seines Geistes zu bedürfen, so hat die
0110Bellincioni thatsächlich mit der Hälfte ihres Könnens, näm-
0111lich der rein gesanglichen, ihr Auslangen und ihren Sieg
0112gefunden. Ja, sie zeigte im Concert eine neue Seite ihres
0113Talents, welche in den jüngsten italienischen Opern keine
0114Berücksichtigung findet: Geschmeidigkeit im leicht verzierten [2]
0115Gesang und fröhliche Munterkeit in scherzhaften Strophen.
0116Beides wirkte aufs effectvollste zusammen in einer Serenata
0117von Massenet und einem spanischen Lied von Barbieri.
0118Aus Opern hatte sie nur die Scene der Chimene („Pleurez,
0119pleurez mes yeux“) aus Massenet’s „Cid“ und das Gebet
0120der Elisabeth aus „Tannhäuser“ gewählt. Eines wie
0121das andere recht undankbar für den Concertvortrag;
0122das erste, weil es ohne die Handlung unverständ-
0123lich, das zweite, weil es langweilig wird. Die Bellincioni
0124sang beide Arien mit vollendeter Noblesse und mit Ver-
0125meidung aller stark theatralischen Accente. Sie erlaubte
0126sich in keinem ihrer Vorträge andeutende Gesten; einzig ihr
0127wunderbar bewegliches Mienenspiel und ihr leuchtendes Auge
0128halfen den Inhalt des Gesungenen erklären und beleben.
0129Ihre Mimik begleitet so spontan und unmittelbar jede Wen-
0130dung des Gedichtes, daß wir niemals den Eindruck des
0131Gewollten oder Gemachten empfangen. Mit dem Vortrag
0132zweier Lieder von Lassen und Rubinstein in der ihr
0133gänzlich fremden deutschen Sprache wollte die Italienerin
0134offenbar dem Wiener Publicum eine Artigkeit erweisen. Das
0135Wagstück gelang, aber es war mit großer, fast ängstlicher
0136Vorsicht ausgeführt. In diesen Liedern, sowie in zwei
0137Romanzen von Tosti und de Leva erwies sich die Stimme
0138der Bellincioni ungemein biegsam und modulationsfähig für
0139jede Klangfarbe. So haben wir sie denn auch im Concertsaal als
0140seelenvolle, feinfühlige Sängerin kennen gelernt und erwidern
0141ihren Abschiedsgruß mit einem herzlichen: Auf Wiedersehen!
0142Unmittelbar nach Gabillon’s vierzigjährigem Jubiläum
0143am Burgtheater begeht jetzt das Hofoperntheater ein ähn-
0144liches Fest: den fünfundzwanzigsten Jahrestag des Ein-
0145trittes von Georg Müller. Für einen ersten Tenoristen
0146bedeuten 25 Jahre angestrengter Thätigkeit ungefähr so viel,
0147wie für den Schauspieler vierzig. Zählt man die fünf Jahre
0148hinzu, welche Müller vor seinem Wiener Engagement an
0149anderen Bühnen zugebracht, so fragt man sich unwillkürlich,
0150ob es denn möglich sei, daß dieser Sänger, welcher heute
0151wie ein schmucker Vierziger aussieht und ein Kapital an
0152Stimmkraft besitzt, wirklich schon dreißig Jahre lang singe?
0153Fürwahr, ein seltenes Geschenk der Natur — und doch kein
0154bloßes Geschenk. Müller’s eigenstes Verdienst mußte hinzu-
0155treten: seine musterhafte Lebensführung und weise Schonung
0156der Stimme. Er hat sich drei böse, gegen das deutsche
0157Tenoristengeschlecht verschworene Dämonen vom Leibe ge-
0158halten: das Rauchen, Trinken und Wagnersingen. Unwan-
0159delbar hielt er stets an dem Grundsatz, daß auch für den
0160Opernsänger die Kunst des Singens das Erste und
0161Wichtigste sei; eine alte Wahrheit, die erst heute eine ver-
0162altete gescholten wird. Ihn berauschten nicht die materiellen
0163Effecte seiner schönen Stimme, jene mühelos hervor-
0164geschmetterten hohen B und C, denen der Applaus folgt „wie
0165die Thrän’ auf die Zwiebel“. Wir sehen ihn schon in den
0166ersten Jahren sorgfältig an der Veredlung seiner Gesangs-
0167technik arbeiten, und in diesem Streben ist er nicht still
0168gestanden. Seit Meister Walter’s Abgang hat Müller hier
0169keinen Rivalen in Mozart’schen Tenorpartien noch in jenen
0170italienischen, welche eine schön verbundene Cantilene und aus-
0171geglichene Coloratur verlangen. Als Müller im Frühjahr
01721868 hier gastirte, siegte er rasch über mehrere zum Theil
0173namhafte Concurrenten. Ich erinnere mich lebhaft seines
0174ersten Auftretens. Groß, schlank, brünett, im Gegensatz zu
0175den meist blond und klein gerathenen deutschen Tenoristen,
0176erschien Müller schon durch sein Aeußeres vorzüglich geeignet
0177für Heldenrollen. Er hat bis heute ein großes Gebiet des
0178Heldenfaches erfolgreich behauptet, insbesondere jenes, das
0179auch dem lyrischen Element Raum gibt. Kein „Raoul“ hat
0180seit einem Vierteljahrhundert ihn ausgestochen. Am glück-
0181lichsten schien mir Müller jederzeit in der Darstellung einfacher
0182Charaktere, bei denen auch der leidenschaftliche Affect auf dem
0183Grunde ernsten, schlichten Gemüthes ruht: Nemorino, El-
0184win, Don José. Es liegt in dem Wesen dieses Sängers ein
0185Zug von Redlichkeit und Treue, welcher unmittelbar sympa-
0186thisch anspricht und Gestalten, wie die erwähnten, mit über-
0187zeugender Kraft ausstattet. Jeder Schein von eitler Selbst-
0188bespiegelung müßte sie Lügen strafen. An Müller’s Liebhaber-
0189rollen hat man nie einen Zug von Geckenhaftigkeit oder
0190Gefallsucht wahrgenommen, wie er beispielsweise die besten
0191Leistungen Wachtel’s verunziert hat. Ernst und Wahrhaftig-
0192keit kennzeichnen jede einzelne Rolle Müller’s, wie seine ganze
0193Künstlerlaufbahn. Zumeist in den starken Partien des älteren
0194Repertoires beschäftigt, hat Müller doch noch in jüngster Zeit
0195mit Erfolg neue Rollen geschaffen. Die Wirkung seines vor-
0196trefflichen Turiddu in der „Cavalleria“ vermochte der Sici-
0197lianer Stagno nicht zu erreichen.
0198Dem Publicum lieb und werth als Künstler, ist Müller
0199für das Theater ein unschätzbares Mitglied. Die Direction
0200hat ihn niemals unzuverlässig, launenhaft, ungefällig ge-
0201sehen, vielmehr stets bereit, sie aus Verlegenheiten zu retten.
0202Wie oft ist er in den letzten Monaten für heiser gewordene
0203Collegen plötzlich eingesprungen, auch an zwei Abenden nach
0204einander in anstrengenden Rollen! In einer der letzten
0205Hugenotten-Vorstellungen konnten wir uns an der unge-
0206schwächten Kraft und Ausdauer Müller’s erfreuen, gleichwie
0207an dem unverminderten Beifall seines Publicums, mit wel-
0208chem der Sänger jetzt die silberne Hochzeit feiert. Das
0209ist das Seltene, herzlich Erfreuende bei Müller’s Jubiläum,
0210daß es von keiner Sorge, keinem Abschiedsgefühl verbittert
0211wird. Wie jeder Künstler, dem das Glück langjährigen Wir-
0212kens zutheil geworden, muß jetzt auch Müller jüngere
0213Kräfte an seiner Seite emporstreben sehen, welche mit ihm
0214den Beifall der Zuhörer theilen. Adolphe Nourrit,
0215Frankreichs erster Masaniello, Robert und Raoul,
0216klagte, als neben ihm Duprez aufkam: „Du-
0217prez hat einen ungeheuren Vortheil über mich —
0218er ist neu. Mich kennt das Pariser Publicum
0219auswendig.“ Das darf unsern Jubilar nicht anfechten; das
0220Publicum hat ihn neben seinen älteren Collegen geliebt, es
0221wird ihm nicht untreu werden neben seinen jüngeren.
0222Dem Wiener eignet von altersher der liebenswürdige
0223Zug, daß er für seine ersten Künstler ein persönliches In-
0224teresse, eine fast familienhafte Zuneigung empfindet. Diese
0225Theilnahme erstreckt sich über die Bühne hinaus auf die
0226Person, auf die Schicksale, auf das Familienleben des
0227Schauspielers. Georg Müller genießt nicht blos als Künstler,
0228sondern ebenso sehr als Mensch allgemeine Hochschätzung; er
0229wird dessen inne werden, wenn er morgen in derselben Rolle
0230auftritt, mit welcher er vor fünfundzwanzig Jahren sich
0231dem Wiener Hofoperntheater angetraut hat.