Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10507. Wien, Dienstag, den 21. November 1893

[1]

Hofoperntheater.

Der Bajazzo“ (Pagliacci). Oper in zwei Acten von R. Leoncavallo. Deutsch von L. Hartmann.


0003Ed. H. Von den italienischen Aufführungen der
0004Pagliacci“ im Ausstellungs-Theater und im Theater an
0005der Wien war mir ein widerlicher Nachgeschmack haften ge-
0006blieben. Trotz der unleugbaren Vorzüge der Composition
0007und der Sänger fühlte ich mich bis heute voreingenommen
0008gegen das Werk. Was war schuld daran? Nichts Anderes,
0009als die Barbarei des Da capo. Signor Beltrami tritt
0010im Harlekinscostüm vor den Souffleurkasten und singt einen
0011langweiligen langen Prolog, in welchem wir belehrt werden,
0012daß der Schauspieler auch ein Mensch sei, sozusagen. Er
0013geht ab, das Stück soll beginnen, aber das Publicum
0014applaudirt wie toll, Beltrami eilt zurück, schwenkt
0015sein Käppchen und beginnt aufs neue: „Signore!“ Und
0016wir müssen die ganze Predigt noch einmal aushalten.
0017Schon etwas nervös gereizt, sehen wir den Vorhang
0018aufziehen und hören nach einer kurzen Einleitung einen un-
0019ermeßlichen Glockenchor, worin die Bassisten mit ihrem hart-
0020näckigen Bim Bam (F, C; F, C) unsere Geduld auf eine
0021harte Probe stellen. Endlich kommen diese singenden Glocken-
0022schwengel zur Ruhe und wir athmen auf. Zu früh! Ein
0023fanatischer Applaus lockt die bereits hinter den Coulissen
0024verschwundenen Choristen wieder hervor. Bim Bam, Bim
0025Bam! Man glaubt verrückt zu werden und hört die fol-
0026genden besseren Nummern nur mit einer Art knirschenden
0027Gerechtigkeitsgefühls an. So dringend es noththut, daß
0028die stockende Handlung sich endlich vorwärtsbewege: das
0029Vogellied Nedda’s muß repetirt werden. Nicht genug.
0030Am Schlusse des Actes stürzt der von Eifersucht ge-
0031quälte Principal Canio nach einem kurzen Cantabile
0032besinnungslos ins Zelt. Die Scene ist effectvoll componirt
0033und erregt unser tiefes Mitgefühl. Gleichsam um dieses
0034Mitgefühl wieder zu vernichten und in galligen Aerger zu
0035verwandeln, begehrt das Publicum die Verzweiflung Canio’s
0036noch einmal zu sehen. Er stürzt also noch einmal außer sich,
0037genau wie früher, in sein Zelt. So ist dieser erste Act vier-
0038bis fünfmal tumultuarisch unterbrochen und durch lauter 
0039Da capos auf seine doppelte Länge ausgezerrt worden. Der
0040Musikkritiker — welcher, wie der Schauspieler, doch auch
0041ein Mensch ist, sozusagen — gelangt somit an den wirklich
0042sehr hübschen zweiten Act in einem Zustande zorniger Ver-
0043bissenheit. Der Spectakel vom Ausstellungs-Theater wieder-
0044holte sich im Theater an der Wien noch viel ärger. Es war
0045nicht zu ertragen. So oft ich später das Wort „Pagliacci“
0046hörte, glaubte ich, der dicke Beltrami rufe hinter mir her
0047„Signore!“ und alle Glocken und alle Bassisten Wiens machten
0048Bim Bam! dazu.


0049Von dieser fatalen Empfindung sehe ich mich durch die
0050Aufführung im Hofoperntheater endlich befreit. Herrscht doch
0051bei uns das segensreiche Verbot des Da capo-Singens!
0052Auch der gefürchtete Glockenchor wirkt hier nicht so auf-
0053regend, wie bei den Italienern, weil das Tempo weniger
0054schleppend genommen und das „Bim Bam“ der Bassisten
0055bedeutend gemildert wird. In einem Rückblick auf die
0056italienischen Novitäten des Ausstellungs-Theaters hatte ich die
0057Meinung ausgesprochen, es würden für das deutsche Theater
0058die „Pagliacci“ den einzigen reellen Gewinn bedeuten.
0059Schneller, als man gedacht, hat dieses Wort sich erfüllt; fast
0060alle größeren Bühnen Deutschlands geben den „Bajazzo“
0061und mit günstigem Erfolg. Die kleineren Theater dürften
0062bald nachfolgen, denn mit Mascagni’s Opern theilt der
0063Bajazzo“ den praktischen Vorzug der Kürze und eines
0064kleinen Personals, sowie einer sehr bescheidenen decorativen
0065Ausstattung.


0066Wie die „Cavalleria rusticana“, so wirkt auch „Der
0067Bajazzo“ durch eine dramatisch packende Handlung. Gleich-
0068falls ein comprimirtes Dorftrauerspiel, welchem obendrein
0069eine wirkliche Begebenheit zu Grunde liegt. Der Clown einer
0070Gauklerbande, Tonio, verfolgt seine Prinzipalin, Nedda, mit
0071Liebesanträgen. Von ihr schimpflich zurückgewiesen, rächt sich
0072der heimtückische, rohe Geselle, indem er Nedda’s Gatten, Canio,
0073ihr zärtliches Einverständniß mit dem jungen Bauer Silvio 
0074verräth. Canio stürmt wüthend auf Nedda ein, vermag aber
0075den Namen seines Rivalen nicht aus ihr herauszubringen.
0076Er wiederholt diesen Versuch immer heftiger im zweiten Act,
0077während der lustigen Comödie, die er mit seiner Frau vor
0078dem versammelten Dorfpublicum aufführt. Das Spiel wird
0079dem eifersüchtigen Gatten unversehens zum Ernst; er ersticht
0080auf der Bühne seine Frau und gleich darauf ihren zu ihrer 
0081Rettung herbeispringenden Liebhaber. Wie man sieht, ein
0082sehr einfacher, aber keineswegs unergiebiger Stoff. Von jeher
0083hat es dem Publicum ein apartes Vergnügen gewährt, das
0084Theater im Theater, die Schauspieler als Schauspieler
0085vorgestellt zu sehen. Von Shakespeare’s „Hamlet“ ganz ab-
0086gesehen, wo die Comödie in eminenter Weise dem drama-
0087tischen Zwecke dient, finden moderne Stücke wie „Kean“,
0088Narciß“, in komischer Gattung „Der Vater der Debütantin“
0089ihren Effect in diesem Doppelspiel. Für die Oper ist die
0090Comödie in der Comödie noch selten verwendet. Sie besitzt
0091also im „Bajazzo“ den großen Vortheil der Neuheit, oben-
0092drein verstärkt durch den ungewohnten Reiz, unsere ersten
0093tragischen Heldenspieler uns in der Harlekinsjacke zu zeigen.
0094Das Libretto ist vom Componisten selbst verfaßt und bis
0095auf die unverhältnißmäßige Ausdehnung des ersten Actes
0096geschickt ausgeführt.


0097Leoncavallo’s Musik verräth ein starkes heißblütiges
0098Talent, einen nachdenklichen Kopf und eine geschickte Hand.
0099Reichthum und Originalität kann man seiner melodischen
0100Erfindung kaum nachrühmen. In jeder von Mascagni’s
0101Opern blitzen einzelne überraschende Funken von Genialität
0102auf, wie sie in den „Pagliacci“ nicht vorkommen. Hingegen
0103sind letztere einheitlicher im Styl als die „Cavalleria“ und
0104machen gegen die „Rantzau“ und „Freund Fritz“ einen be-
0105friedigenderen Gesammt-Eindruck. Mascagni scheint mir das
0106originellere Talent zu sein, Leoncavallo der bessere Musiker.
0107Er hat mehr Sinn für die Form, für Abrundung der
0108einzelnen Theile eines Musikstückes und deren harmonisches
0109Verhältniß zu einander. Seine Musik ist weniger zerrissen
0110und sprunghaft. Eine prägnante eigene Physiognomie des
0111Componisten kann ich aus seinen „Pagliacci“ nicht ge-
0112winnen; möglich, daß sie in den „Medici“ schärfer, individueller
0113hervortritt. Mir sind die „Medici“ fremd und ich möchte bezüglich
0114Leoncavallo’s nicht vorschnell urtheilen, geschweige denn pro-
0115phezeien. Gewiß aber steckt eine ungemein dramatische
0116Energie in ihm. Wenn er sich einerseits vor unfruchtbarer
0117Grübelei, andererseits vor rohem Kraftaufwand hütet, wenn
0118er endlich Wagner’schen Einflüssen nicht in noch größerem
0119Umfange als bisher die Herrschaft über sein Ich einräumt,
0120so können wir noch Erfreuliches, ja Bedeutendes von ihm
0121hoffen. Leoncavallo ist kein Nachahmer Mascagni’s; über-
0122haupt sind beide Componisten nicht Nachahmer. Der [2]
0123Boden, aus dem sie emporwachsen, ist noch immer
0124Verdi, als derjenige Italiener, welcher zuerst mit starkem
0125dramatischen Accent und rücksichtsloser Orchesterwucht
0126revolutionirt hat gegen die weichliche melodiöse Mono-
0127tonie Bellini’s und Donizetti’s. Ueber diesem natio-
0128nalen Grunde weht jetzt, mehr oder minder heftig,
0129Wagner’sche Luft. Auch Leoncavallo ist von ihr beeinflußt,
0130aber doch mehr von Wagner’schen Aeußerlichkeiten, Orchester-
0131Effecten, Accordfolgen, als von Wagner’s Compositions-
0132Princip. Sein Orchester maßt sich bei aller Ueppigkeit doch
0133nicht als melodieführend die Herrschaft über die Sing-
0134stimmen an. Leoncavallo verschmäht die Gedächtnißfolter der
0135Leitmotive im engeren Sinne; er verbannt weder den Chor
0136noch das Duett, noch überhaupt selbstständige Musikformen.
0137Ohne Wagner wäre die blendende Orchester-Begleitung des
0138Vogelliedes und mancher packende dramatische Zug im
0139Bajazzo“ undenkbar; aber Leoncavallo gibt sich seinem
0140Vorbild nicht mit Haut und Haar zu eigen, wie unsere
0141jüngeren deutschen Operncomponisten, welche bisher regel-
0142mäßig diese sklavische Nachfolge sehr theuer bezahlt haben.
0143Leoncavallo ist glücklich im Treffen des dramatischen Aus-
0144drucks, im Ausmalen der Stimmung. Für diese Malerei
0145verwendet er leider übertrieben grelle Farben, auch wo
0146sie nicht hinpassen. Jede Wette kann man eingehen, daß
0147Zuhörer, welche, nicht eingeweiht in die Handlung, mit dem
0148Rücken gegen die Bühne stehen, den ersten Chor für den
0149Aufschrei eines fanatischen Revolutionspöbels halten werden.
0150Dieser betäubende Posaunen- und Paukendonner, diese Hetz-
0151jagd durch alle verminderten Septim-Accorde, dieses Fortissimo
0152der kreischenden Singstimmen — was geht denn da vor?
0153Harmlose Dorfbewohner freuen sich über das Eintreffen der
0154Comödianten. Eine schöne Freude, eine liebe Bevölkerung!
0155Leoncavallo’s lärmende Orchestrirung nöthigt auch den einzelnen
0156Sänger zum Schreien; sie ist — nicht durchwegs, aber zum
0157großen Theil — schuld daran, daß in der Première des
0158Bajazzo“ im Allgemeinen viel zu stark gesungen wurde.


0159Soll ich meine Leser in das Werk selbst einführen, so
0160stolpere ich gleich über einen Stein des Anstoßes. Das ist
0161der „Prolog“. Für meine Empfindung eine Geschmacklosigkeit
0162ohnegleichen. Der Hanswurst Tonio erzählt uns darin nicht
0163etwa die Handlung des Stückes, sondern belehrt uns zuerst:
0164„nicht Märchen allein seien der Zweck der Kunst“ (!); auch
0165was er wirklich sieht, schildert der Dichter, dann erreicht er
0166der Menschen Gunst“. Dann führt er aus, daß auch in 
0167des Gauklers Brust ein Herz schlägt u. s. w. Ich wüßte
0168nicht, was den Componisten zu diesem Ungethüm von Prolog
0169verleiten konnte, wenn es nicht die Speculation auf einen
0170neuen, pikanten Effect war. Den Eindruck des Stückes er-
0171höht er nicht; er schädigt ihn vielmehr, indem er, schnur-
0172stracks seinem Zweck entgegen, dem Zuhörer die Illusion
0173raubt. Der Act, viel länger und unbedeutender
0174als der zweite, trachtet uns durch allerlei Lückenbüßer
0175(Glockenchor, Vogellied) über den Mangel an Handlung
0176hinwegzuhelfen. Das Lied Nedda’s gefällt durch die Imitation
0177des Vogelgezwitschers im Orchester; ihr viel zu langes Duett
0178mit Silvio bewegt sich, wie fast alle lyrischen Stellen dieses
0179Aufzuges, in einer allgemeinen, leidenschaftlichen Phraseo-
0180logie, welche den Zuhörer in unbestimmter Aufregung er-
0181hält, ohne ihn durch die Schönheit neuer Gedanken musi-
0182kalisch zu befriedigen. Der kurze Schlußmonolog des ver-
0183zweifelnden Canio schlägt rührende Töne an. Für den Aus-
0184druck leidenschaftlicher Erregung verwendet der Componist
0185häufig dieselben drastischen Ausdrucksmittel: unvermittelte
0186tiefe Accordfolgen der durch eine Baßclarinette verstärk-
0187ten Holzbläser, chromatische Scalen in heftiger Gegen-
0188bewegung oder auch (an Verdi erinnernd) in Sextaccor-
0189den. — Unvergleichlich gelungener ist der zweite Act.
0190Zwar thut der Chor des ungeduldig harrenden Dorfpubli-
0191cums auch hier zu viel des Guten; aber von diesem Tumult
0192heben sich die folgenden Scenen in ihren einheitlich zarten
0193Farben um so lichter ab. Die musikalische Behandlung der
0194ganzen Pantomime ist voll Geist und Grazie. Aller Lärm
0195im Orchester schweigt plötzlich; keine Posaunen, keine Trom-
0196peten und Pauken; Alles fein, maßvoll, wohlklingend. Die
0197Musik bewegt sich in einem ungezwungen zierlichen
0198Rococo-Charakter, im Tone stellenweise an Delibes oder
0199Massenet erinnernd. Zuerst ein Menuettsatz von anmuthiger
0200Gravität; dann ein verliebtes Tenorständchen über pizzi-
0201kirten Accorden, durch welche stellenweise einige Flöten-
0202Staccatos huschen; später, als Colombine und Arlecchino 
0203sich zu Tische setzen, eine allerliebste, behagliche Gavotte in
0204A-dur. Nun tritt Canio ein, welcher den argwöhnischen
0205betrogenen Ehemann zu spielen hat und im bittersten Ernst
0206all die Qualen eines solchen empfindet. Der Ueber-
0207gang aus dem Spiel in die unselige Wirklichkeit hat der
0208Componist mit großem Kunstverstand ausgeführt; allmälig,
0209stockend, mit wiederholtem Zurückgreifen in die heitere Comö-
0210dien-Musik. Man fühlt das Gewitter in allen Gliedern, bis 
0211es endlich aus der unerträglichen Schwille hervorbricht. Die
0212blitzschnelle Ermordung Nedda’s trifft uns mit der Gewalt
0213eines Elementar-Ereignisses. Dieser zweite Act, in Text und
0214Musik etwas Neues und Wirksames, gereicht dem Com-
0215ponisten zur Ehre. Warum erfreuen wir uns an dieser Pan-
0216tomimen-Musik und nennen sie vortrefflich? Weil sie ein-
0217fach ohne Trivialität, melodiös und natürlich ist. Könnte
0218nicht, so fragen wir bescheiden, Leoncavallo auch bei anderen
0219Anlässen einfach, melodiös und natürlich schreiben? Im
0220Stücke selbst, nicht blos in der Parodie desselben?


0221Wie bereitwillig heute das Publicum ist, Gutes anzu-
0222erkennen, ja über Verdienst zu schätzen, beweist der außer-
0223ordentliche Erfolg dieser Erstlingsoper, welche Leoncavallo 
0224plötzlich zum berühmten und wohlhabenden Manne gemacht
0225hat. Sein „Bajazzo“ gehört übrigens zu den allerbesten Vor-
0226stellungen des Hofoperntheaters. Sämmtliche Rollen vor-
0227züglich besetzt, Chor und Orchester ausgezeichnet, desgleichen
0228die Scenirung, welche im zweiten Acte eine erfahrene, sehr
0229geschickte Hand erfordert. Als Nedda hat Fräulein Paula
0230Mark alle Erwartungen übertroffen. Im ersten Acte sehr
0231lobenswerth, war sie im zweiten entzückend. Erstaunlich, mit
0232welchem Talent sie sich in den Ton der Dorfcomödie eingelebt
0233hat. Ein feiner zierlicher Humor vergoldete die ganze Leistung.
0234Wie schmiegte jeder Ton, jede Bewegung, jeder Tanzschritt
0235sich genau und doch so ungezwungen der begleitenden Musik
0236an! Dazu diese natürliche Grazie und Geschmeidigkeit ihrer
0237Tanzbewegungen; ihr bezeichnendes, zwischen Selbstbezwin-
0238gung und wachsender Aufregung kämpfendes Spiel beim
0239Herannahen der Katastrophe! Kurz, eine Leistung, die ihr
0240so bald Niemand nachmachen wird. Ich constatire den
0241glänzenden Erfolg der talentvollen jüngsten Sängerin unseres
0242Operntheaters um so lieber, als ihre Laufbahn nicht mit
0243Rosen bestreut scheint. Bereits vier anonyme Briefe haben
0244mich (und wahrscheinlich auch andere Collegen) gegen Fräu-
0245lein Mark aufzuhetzen versucht, deren Erfolg nur ein Werk
0246der Claque und deren Kunst tief unter dem Niveau des
0247Hofoperntheaters stehe. Die Zumuthung, dieses häßliche Gift,
0248das wahrscheinlich unweit des Opernhauses gebraut ist, dem
0249Publicum einzutröpfeln, kann auf unbefangene Kritiker wol
0250nur die Wirkung haben, mit dem Gegengift gerechter An-
0251erkennung und Aufmunterung Fräulein Mark’s nicht zu
0252geizen. ... Herr van Dyck schuf aus dem Canio eine
0253lebensvolle, ergreifende Gestalt. Daß er, ein so vorzüglicher
0254Sänger und Schauspieler, sich in beiden Eigenschaften häufig [3]
0255übernahm, Ton und Geberde maßlos steigerte, ist wol nur
0256der Aufregung dieses ersten Abends zuzuschreiben. In der
0257Rolle des Tonio glänzte Herrn Ritter’s prachtvolle Stimme
0258und gefühlvoller Vortrag. Nur zu viel Stimme und zu
0259viel Gefühl! Vor Allem im Prolog. Der erzählende Cha-
0260rakter eines Prologs darf durch das subjectiv erregte Gefühl
0261des Vortragenden nicht gänzlich verwischt werden. Der
0262Bariton darf in dem Prolog nicht so schmerzlich be-
0263wegt singen und gesticuliren, als stünde er in den
0264leidenschaftlichsten Scenen des Tell, des Hanns Heiling,
0265des Amonasro auf der Bühne. Ritter’s Aufgebot
0266aller Stimmkraft und aller Leidenschaft verhinderte
0267nicht blos die unentbehrliche Deutlichkeit des Wortes, sondern
0268auch jenen Hauch von Ironie, ohne welchen wir uns diese
0269Bajazzo-Rede nicht denken können. Ueberhaupt fehlt dem
0270beneidenswerthen und künstlerisch geschulten Organ des
0271Herrn Ritter zu seiner vollen Wirkung nur Eins: die
0272Sparsamkeit. Herr Ritter läßt sich, wie mir scheint, zu
0273seinem Nachtheil (in dieser und anderen Rollen) die Stellen
0274entgehen, die sich dem Conversationston nähern. Warum
0275die höhnenden Worte Tonio’s „Ich that, was ich konnte;
0276ich hoffe, daß ich mehr noch dir schaden kann“, in gewal-
0277tigstem Fortissimo singen? Und wollte der lauernde Tonio 
0278im Hintergrunde die Worte „Oh, die Buhlen gefangen!“
0279so stark hinausrufen, wie Herr Ritter es thut, dann
0280würden die Liebenden gewiß eiligst fliehen, anstatt noch
0281ein Viertelstündchen ruhig zu kosen. Auch was die
0282schauspielerische Seite der Aufgabe betrifft, sollten sowol
0283Tonio als Canio selbst in ihren Gefühlsmomenten niemals
0284ganz auf ihren Stand, ihr Costüm vergessen. Tonio hat im
0285Prolog ganz recht, daß auch der Comödiant dieselben Em-
0286pfindungen habe, wie jeder andere Mensch — aber er wird
0287sie in anderer Form, in anderer Haltung ausdrücken, als
0288der König, der Kriegsheld, der Prophet. Von italienischen
0289Sängern haben wir dieses keineswegs leichte Zusammen-
0290stimmen des Affects mit der speciellen Rolle nie erwartet;
0291deutsche Künstler von der Intelligenz eines van Dyck und
0292Ritter werden gewiß dahin gelangen, diesen realistischen Fi-
0293guren auch eine realistische Färbung zu geben. ... Die
0294beiden kleineren, aber durchaus wichtigen Rollen des Sil-
0295vio und des Beppo wurden von den Herren Neidl und
0296Dippel vortrefflich gesungen und gespielt. Die „Pagliacci“
0297haben somit auch in deutscher Sprache bei uns einen voll-
0298ständigen Sieg zu verzeichnen.