Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10845. Wien, Donnerstag, den 1. November 1894
[1]Neueste Liszt-Literatur.
(Lina Ramann. La Mara.)
0003Ed. H. Fräulein Lina Ramann hat endlich ihre ge-
0004waltige Liszt-Biographie zum Abschluß gebracht.*)
Eine
0007Regung schämiger Verlegenheit über dessen beispiellose Auf-
0008bauschung mag sie bewogen haben, den mehr als fünf-
0009hundert Seiten füllenden dritten Band als „zweite
0010Abtheilung des zweiten Bandes“ zu bezeichnen. Auch den
0011aufrichtigsten Verehrern Liszt’s dürfte die Lectüre dieser
0012drei Bände eine recht mühselige Unterhaltung gewähren.
0013Es ist ein apologetisches Buch im kühnsten Sinn des
0014Wortes, geschriebener Götzendienst. Wer sich der Verzückung
0015erinnert, mit welcher im ersten Band das kleinste Clavier-
0016stücklein Liszt’s bewundert worden, der konnte darauf gefaßt
0017sein, daß Fräulein Ramann bei den Symphonien und Ora-
0018torien der Athem ausgehen werde. Für sie ist eine Variation
0019in Liszt’s Opernphantasien „ein aufgefangener Strahl des
0020Prisma des Geistes“, und hat das „mächtige Crescendo“
0021darin nur noch seinesgleichen bei — Michelangelo!
0022Den kritischen Theil ihrer Arbeit hätte die Verfasserin sich
0023beinahe ersparen können, indem sie unter ein Verzeichniß
0024sämmtlicher Liszt’scher Compositionen einfach schrieb: Alles
0025im höchsten Grade bewunderungswürdig, genial, vollendet,
0026„bahnbrechend“ und „reformatorisch“. Die peinliche Um-
0027ständlichkeit der beiden früheren Bände war für den dritten
0028freilich schwer beizubehalten, sollte dieser nicht mindestens
0029tausend statt fünfhundert Seiten füllen; es mußten nament-
0030lich die langen historischen Excurse zu Gunsten der musi-
0031kalisch-kritischen Beleuchtung eingeschränkt werden. Der
0032weitaus größte Theil dieses neuen Bandes behandelt die
0033Weimar’sche Periode von 1848 bis 1861. Als Introduction
0034dient eine Charakteristik der Fürstin Caroline Wittgenstein.
0035(Warum sie in einem deutschen Buch stets „Carolyne“
0036genannt wird, ist mir nicht klar.) So kühl und ab-
0037günstig die Verfasserin im ersten Band von der
0038Gräfin d’Agoult, der Mutter von Liszt’s Kindern,
0039gesprochen hatte, so enthusiastisch preist sie jetzt die Fürstin
0040Wittgenstein — die Frau, „welche Liszt seiner hohen Be-
0041rufung zum Componisten zuführte“! „Ihre, wenn
0042auch oft phantastischen, aber immer idealgetränkten Ge-
0043danken über die Instrumentalmusik wirkten wesentlich hiebei
0044mit; insbesondere da, wo sie wie eine religiöse Naturgewalt
0045den Punkt im Wesen Liszt’s trafen, der, zurückgehaltene
0046Gluth, nur wahlverwandter Berührung bedurfte, um sich
0047zum Kunstwerk zu entzünden.“ Aus dem Qualm dieser
0048Rede entwickelt sich, daß Liszt die Anregung zu seiner
0049Dante-Symphonie der Fürstin verdankte. Höchst charakteri-
0050stisch für Liszt’s Musikanschauung und Methode ist es, wie
0051er sich die Form dieser Composition gedacht hat. Man höre:
0052„Das von Gropius in Berlin kurz vorher zur künstle-
0053rischen Höhe vervollkommte Diorama hatte Liszt wie die
0054Fürstin solchermaßen beeindruckt (!), daß der Gedanke bei
0055ihm wie bei ihr auftauchte: in der Verbindung des
0056Diorama mit der Musik müßte der letzteren noch
0057ungeahnte Wirkung erstehen. Die Malerei sollte in Bildern
0058dioramaartig die Symphonie begleiten und der Gesang
0059— ein Chor am Schluß des Werkes — die Krönung der
0060Leiden in der errungenen Seligkeit, in dem mystischen
0061Magnificat verkünden.“ Diese von L. Ramann bewunderte
0062„große Idee“ war Liszt durch äußere Verhältnisse aufzu-
0063geben gezwungen. Ich möchte es eher ein Glück für Liszt
0064nennen, daß er ein so ganz unkünstlerisches, dilettantisches
0065Vorhaben unausgeführt lassen mußte. Die Dante-Symphonie
0066erfährt in einem späteren Capitel natürlich die genaueste
0067Analyse — aber von dem bloßen Entwurf dazu kann die
0068Verfasserin schon in der Einleitung sich nicht trennen.
0069„Dieser Entwurf,“ sagt sie, „weist auf den Stand der
0070geistigen Sonnenuhr des Componisten hin, deren
0071Zeiger in der That nach den Höhenpunkten hinweist, die
0072seit Jahrtausenden Intellect und Phantasie der Denkbe-
0073flissenen beschäftigt haben, zu denen aber eine Leiter zu
0074bauen nur der kirchlichen Dogmatik gelingen wollte.“ Endlich
0075bildet dieser vielbesprochene „ideelle Entwurf der Dante-
0076Symphonie auch noch „gleichsam den geistigen Vermälungs-
0077ring“ Liszt’s mit der Fürstin Wittgenstein“.
0078Nach einer detaillirten Beschreibung der „Altenburg“
0079behandeln vier Capitel „Liszt’s bahnbrechende und
0080reformatorische Thätigkeit als Dirigent“.
0081(„Auf seinem Dirigentenpulte lagen bereits auf-
0082geschlagen die großen Partituren und die musikalischen
0083Reform-Ideen der Zeit.“) Es folgen als weitere Capitel:
0084Liszt als Lehrer der reproducirenden Künstler, Liszt als
0085Schriftsteller, Liszt’s Compositionen deutsch-natio-
0086naler Richtung (vier Capitel), Liszt’s Ungarische
0087Musik, Die symphonischen Dichtungen, Neue Schöpfungen
0088für das Clavier, Liszt’s Eintreten in die kirchenmusikalische
0089Reform und Abschluß der Weimar-Periode. Wer L. Ramann’s
0090unabsehbare Analysen der symphonischen Dichtungen oder
0091der Kirchen-Compositionen liest, worin theils mit über-
0092schwänglicher Sentimentalität, theils in dem trockenen philo-
0093sophischen Hegel-Jargon Brendel’s die tiefe Bedeutung jedes
0094Tactes ausgegraben wird — der behält wol für sein Leben-
0095lang einen unüberwindlichen Widerwillen gegen alle poetisch-
0096philosophische Musikbeschreibung und Nacherzählung.**)
Das
0111fünfte Buch behandelt die letzten Jahre Liszt’s mit den
0112Hauptstationen Rom, Weimar, Budapest. Hier durften wir
0113hoffen, Neues zu erfahren, insbesondere über die lange vor-
0114bereitete und dann in zwölfter Stunde gescheiterte Ver-
0115mälung Liszt’s mit der Fürstin Wittgenstein. Die Verfasserin
0116weiß jedoch über diese merkwürdige Begebenheit nichts Anderes
0117zu berichten, als was La Mara bereits in der
0118Münchener Allgemeinen Zeitung vom 22. October 1893
0119(„Liszt und die Fürstin Wittgenstein“) nach Mittheilungen
0120aus dem Munde der Fürstin selbst veröffentlicht hat. —
0121Der Hauptsache nach verlief dieses Drama folgendermaßen:
0122Die Fürstin Wittgenstein hatte Liszt 1847 in Odessa kennen
0123und lieben gelernt. Sie zerriß die nur noch äußeren Bande,
0124die sie an den ungeliebten Gatten ketteten, und verließ mit
0125ihrer zehnjährigen Tochter, Prinzessin Marie, Rußland, um [2]
0126sich auf der Altenburg bei Weimar, einer Besitzung der
0127Großherzogin, niederzulassen. Auch Liszt bezog einen Flügel
0128desselben Schlosses. Die Fürstin hatte bei der geistlichen
0129Behörde in Rußland eine Scheidungsklage eingereicht, auf
0130deren Erledigung sie, die Katholikin, viele Jahre lang harren
0131mußte, während ihr Gemal, als Protestant, die Lösung des
0132Ehebundes leicht erlangte, auch bald eine zweite Heirat schloß.
0133Im Frühjahre 1860 reiste die Fürstin nach Rom, um da-
0134selbst die bisher noch immer vergeblich erstrebte Lösung ihrer
0135Ehe persönlich zu betreiben. Endlich gelang es ihr, über die
0136Intriguen der ihr feindselig gesinnten polnischen Anver-
0137wandten zu siegen: der in Rußland geführte Scheidungs-
0138proceß wurde zu ihren Gunsten entschieden, und der Papst
0139ertheilte seine Sanction. An Liszt’s Geburtstag, dem
014022. October 1861, sollte in Rom in aller Stille die Trauung
0141stattfinden. Alles war dazu bereit. Da eilte die fromme
0142Fürstin Odescalchi, eine Polin von Geburt, nochmals zum
0143Papst mit der dringenden Bitte, den „Meineid“ der Fürstin,
0144wie sie es nannte, in letzter Stunde noch zu verhindern.
0145Pius IX. wurde erschüttert, verlangte schleunigst die Proceß-
0146acten zu nochmaliger Prüfung und befahl einen Aufschub
0147der Trauung. Von einer Art abergläubischer Scheu erfaßt,
0148verweigerte die Fürstin die verlangten Acten. Ihr durch
0149vierzehn lange Jahre so heiß erstrebtes Ziel schien nun
0150wieder in unbestimmte Ferne gerückt. Als bald darauf, im
0151März 1864, ihr Gemal Fürst Nikolaus Wittgenstein starb,
0152stand ihrer Vermälung mit Liszt freilich nichts mehr im
0153Wege. Sie verzichteten jedoch. Es war, als ob die Beiden
0154sich gesagt hätten: Jetzt freut es uns nicht mehr. Die
0155Fürstin war fromm geworden, trieb theologische Studien und
0156schrieb kirchenpolitische Schriften, und Liszt wurde Abbate.
0157Weit besser als aus den redseligen drei Bänden der
0158Lina Ramann lernen wir Liszt aus einem schmächtigen Buche
0159kennen, das den Titel führt: „Franz Liszt’s Briefe
0160an eine Freundin“, herausgegeben von La Mara.
0161(Leipzig, 1894, Breitkopf & Härtel.) Liszt zeigt sich hier von
0162der liebenswürdigsten und edelsten Seite seines Charakters,
0163aufrichtig und unbefangen. Diese vertrauten Briefe um-
0164fassen 31 Jahre seines Lebens; sie beginnen mit dem April
01651855 (also um die Zeit, da Liszt als Componist großer
0166Tondichtungen hervortrat) und enden im Juli 1886, wenige
0167Wochen vor seinem Tode. Und wer ist die Freundin, die
0168sich eines so langen, ununterbrochenen Briefwechsels mit
0169Liszt rühmen durfte? „Der Name thut nichts zur Sache,“
0170sagt uns Frau La Mara. Schade! Wir ehren so discrete
0171Verschwiegenheit, möchten sie aber dennoch beklagen im
0172Interesse der ungenannten Freundin selbst. Denn eine hoch-
0173begabte, geist- und gemüthvolle Dame mußte es sein,
0174welcher Liszt unwandelbar so rührende Theilnahme, Sorg-
0175falt und Offenherzigkeit bewahrt hat. Wir erfahren aus dem
0176kurzen Vorwort nur so viel, daß Madame X. eine zeitlang
0177in Weimar Liszt’s Unterweisung genoß und dann über
0178Paris nach Brüssel zu ihren Angehörigen zurückgekehrt ist.
0179In mißliche Vermögensumstände gerathen, wollte sie an-
0180fangs durch Clavierunterricht ihren und ihrer zwei Söhne
0181Lebensunterhalt gewinnen, betheiligte sich aber bald am Be-
0182rufe ihres Vaters bei diplomatischen Missionen und der
0183Redaction politischer Zeitschriften. Ihre Beziehungen setzten
0184sie in den Stand, Liszt über Constellationen und Vorkomm-
0185nisse der europäischen Politik zu berichten, noch bevor die-
0186selben öffentliches Gemeingut geworden waren. So füllen
0187denn abwechselnd rein persönliche, musikalische und politische
0188Mittheilungen diese durchaus in französischer Sprache ge-
0189schriebenen Briefe. Aus Liszt’s musikalischen Urtheilen inter-
0190essirte uns zumeist das über Schumann’s Oper „Genovefa“.
0191„Sie wissen,“ schreibt Liszt im April 1855, „daß mir selbst
0192die Dummheiten geistreicher Leute lieber sind, als der Geist
0193der Dummen, und gewisse Fehler angenehmer, als gewisse
0194Tugenden. In diesem Sinne gibt es verfehlte Werke, die
0195viel werthvoller sind, als andere wohlgelungene und sehr
0196erfolgreiche. „Genovefa“ steht unter jenen in erster Linie und
0197wird eine selbstständige Bedeutung behaupten in der Ent-
0198wicklung der deutschen Oper. Seit mehreren Jahren hören
0199wir bei allen Opern-Novitäten die stereotype Anklage gegen
0200das Textbuch. Seltsam, daß Schumann, welcher andere Opern-
0201texte so gut kritisirte, fast in dieselbe Schlinge gefallen ist.
0202Der Stoff hätte legendenhaft behandelt werden müssen, zart,
0203eigenartig, der katholischen Phantasie entsprechend. Vor Allem
0204durfte das erste Element des musikalischen Dramas, die
0205Leidenschaft, nicht fehlen, ohne welche der ganze Rest
0206überflüssig ist. Die Musik kann schlechterdings der Leiden-
0207schaft nicht entbehren. Sie ist ihr Lebensnerv, mehr noch
0208als das Geld für die Kriegführung. Dieser Nerv hat
0209Weber gerettet und ihm einen eigenen Platz gesichert neben
0210den in scheinbarem Wissen und zurücktrebendem Classicis-
0211mus eingesargten deutschen Componisten seiner Epoche. Bei
0212Schumann erreicht die Leidenschaft selten jene Momente
0213höchster Steigerung, wo sie augenblicklich aufblüht in Aller
0214Herzen; man könnte sagen, sie zog sich krampfhaft in seinem
0215eigenen zusammen — „und dann summt und brummt er
0216so dahin, wie ein specifisch musikalisches Spinnrad.“
0217(Die letzten Worte sind auch im Original deutsch.) Trotz-
0218dem verdient Schumann die höchste Beachtung, und man
0219muß ihn gut studiren, wenn man wissen will, was seit einem
0220Dutzend Jahren an vornehmster und bester Musik gemacht
0221wird. Joachim sagte mir sehr richtig von ihm: er ist von
0222allen Componisten derjenige, der am meisten und am natür-
0223lichsten Musik denkt. Das ist etwas, ist sogar viel, aber
0224es ist nicht das Ganze in einer Kunst, welche noch über
0225das Ganze hinaus streben soll.“
0226Ueber sich selbst, seine künstlerische Thätigkeit und
0227Richtung, macht Liszt der Freundin manch werthvolles Be-
0228kenntniß. Das Unterrichtgeben wird ihm bald lästig, so Aus-
0229gezeichnetes er als Lehrer geleistet hat. „Ich bin es höchlich
0230müde, zu lehren, was sich thatsächlich nicht lernen läßt —
0231und das ist gerade das Allerwesentlichste in der Musik.
0232Deßhalb bin ich sehr taub gegen die Pianisten beiderlei Ge-
0233schlechts, welche sich massenhaft bei mir anmelden, und habe
0234jetzt meine kleine Bande auf vier bis fünf reducirt.“ Von
0235seinen Werken spricht Liszt mit der ihm eigenen liebens-
0236würdigen Bescheidenheit, die sich nur selten Aeußerungen
0237stolzen Selbstgefühles gestattet. Ein Wort von Bayle, welcher
0238den Ehrgeiz „eine heilige Krankheit“ nennt, hat sich ihm tief
0239eingegraben; doch nennt Liszt diese Krankheit „mehr als
0240heilig, nämlich göttlich, und sie hat einen einzigen Arzt,
0241Christus, und eine einzige Arznei, das ewige Leben.“ Voll
0242Bewunderung spricht Liszt von dem Schauspieler Dawi-
0243son. „Das ist ein großer Künstler; seine Virtuosität hat
0244einige Verwandtschaft mit der meinigen. Er ist schöpferisch
0245im Reproduciren. Seine Auffassung des „Hamlet“ ist voll-
0246ständig neu.“ Am häufigsten und entscheidendsten betont
0247Liszt seine Mission als Kirchencomponist. Im Jahre 1856
0248schreibt er aus Wien: „Ich habe eine feste Stellung ge-
0249nommen als religiöser und katholischer Componist. Denn
0250da liegt ein unbegrenztes Feld für die Kunst, das zu be-
0251bauen ich den Beruf in mir fühle. Ich hege die volle [3]
0252Zuversicht, daß ich in drei bis vier Jahren vollständig werde
0253Besitz ergriffen haben von der Domäne der geistlichen Musik,
0254welche seit 20 Jahren nur von Mittelmäßigkeiten beherrscht
0255wird. Diese werden mir freilich vorwerfen, daß ich keine
0256religiöse Musik mache — was richtig wäre, wenn ihre
0257Dutzend-Marktwaare diesen Namen verdiente.“ Aus Rom
0258schreibt er im Jahre 1861: „Ich kümmere mich nicht um die
0259Verbreitung meiner Sachen und übe die sonderbare Tugend,
0260welche die Väter Jesuiten die „heilige Gleichgiltigkeit“ nennen.“
0261Wenn sein Mephisto-Walzer in Brüssel einen schlimmen
0262Erfolg haben sollte, was Liszt vorauszusehen scheint, so
0263werde ihn das nicht kränken. „So wie Velasquez, ohne an
0264seine Tadler ein Wort zu verlieren, sich begnügte, seinen Namen
0265unter das angefochtene Bild zu setzen, so habe ich für mein
0266Werk keine andere Prätension, als die, es geschaffen zu haben.“
0267Von Richard Wagner spricht er sehr oft und immer
0268mit derselben Liebe und Bewunderung. Seitdem Liszt durch
0269die erste „Lohengrin“-Aufführung in Weimar dem Freunde
0270die Ruhmesbahn geebnet, wird er nicht müde, für ihn zu
0271wirken, zu schreiben, zu sorgen. Daß dies nicht immer leicht
0272war, bestätigt (1861) ein Stoßseufzer Liszt’s: „Es liegt mir
0273sehr auf dem Herzen, die Correspondenz mit Wagner wieder
0274aufzunehmen. Gewiß kann Niemand ihm ergebener sein als
0275ich. Ich möchte auf eine oder die andere Art ihm gute
0276Dienste erweisen, unglücklicherweise verfüge ich nicht über die
0277hiezu nothwendigen Mittel. Er braucht durchaus viel Geld;
0278woher es nehmen?“ Liszt bemüht sich um die Aufführung
0279des „Tristan“, um das Schicksal des „Tannhäuser“ in Paris,
0280um die Amnestirung Wagner’s, um die Decorirung des-
0281selben mit dem Weimar’schen Falken-Orden u. s. w. Das
0282geht so fort bis zu Wagner’s Berufung nach München,
0283seinem plötzlichen Glückswechsel. Da hört Wagner auf, zu
0284schreiben. „Seit mehr als zwei Jahren,“ berichtet Liszt,
0285„habe ich kein Lebenszeichen von Wagner! Aber da er
0286glücklich ist, freue ich mich dessen und halte ihn mir gegen-
0287über für quitt.“ Und ein Jahr später: „Seit vier Jahren
0288hat meine Correspondenz mit Wagner aufgehört.“ Liszt sagt
0289das, ohne zu klagen oder anzuklagen, aber im Zusammen-
0290hang mit früheren Briefen fühlt man heraus, wie weh es
0291ihm thut. „Von allen Lastern halte ich Undankbarkeit für
0292das häßlichste,“ schreibt Liszt in einem anderen Briefe an
0293die Freundin.
0294Liszt’s werkthätige Freundschaft, sein Zartgefühl und
0295prunkloser Wahrheitssinn zeigen sich, den ganzen langen
0296Briefwechsel hindurch, in immer gleichem schönen Licht.
0297Ueber den ersten Briefen scheint mir der Nachglanz einer
0298zärtlicheren Neigung zu liegen. Später verwandelt sich das
0299Du seiner Ansprache in Sie, aus „Chère enfant“ wird
0300„Chère bienveillante amie“, und die frühere geheimnißvolle
0301Unterschrift „A. A.“ weicht dem vollen Namen „Franz
0302Liszt“. Schwärmerisch religiöser Sinn dictirt ihm meistens
0303die Schlußworte: „Priez pour moi!“, „Laisse-moi te
0304bénir“, „Prions Dieu qu’il nous accorde cette foi, qui
0305sauve“ etc. In den späteren Briefen vermissen wir diese und
0306ähnliche Wendungen. Erst in Rom (1863 bis 1865), wo
0307sich Liszt für den geistlichen Stand vorbereitet, tritt sein
0308katholischer Glaubenseifer wieder merklich hervor, ja derselbe
0309scheint aus der Entfernung auf die Freundin abzufärben;
0310muß ihr doch Liszt einen vom Papst selbst geweihten Rosen-
0311kranz versprechen. Am 1. Mai 1865 meldet er ihr, daß er
0312in der Capelle des Cardinals Hohenlohe die niederen Weihen
0313empfangen habe. Sie brauche nicht zu erschrecken, ihn im
0314geistlichen Gewand wiederzusehen, denn er trage es, wie
0315man ihm schmeichelhaft versichert, als hätte er niemals ein
0316anderes Kleid angehabt. „Ich fühle mich darin vollkommen
0317wohl und so glücklich, als ich es zu sein vermag.“
0318Fräulein La Mara (Marie Lipsius) hat sich durch
0319die Herausgabe dieser Briefe den Dank Aller verdient, die
0320sich für Liszt’s merkwürdige und sympathische Persönlichkeit
0321interessiren — und wer thäte das nicht? Wir hatten wieder-
0322holt Gelegenheit, ihren feinen Spürsinn, ihr Entdeckertalent
0323und ihren rastlosen Fleiß zu würdigen. Ihr im vorigen
0324Jahre (bei Breitkopf & Härtel) erschienenes Buch „Clas-
0325sisches und Romantisches aus der Tonwelt“
0326gibt gleichfalls Zeugniß davon. Es enthält ungedruckte Briefe
0327von Beethoven, Spohr, Marschner, Adolph
0328Henselt und Robert Volkmann, die allen anderen
0329Späheraugen bisher verborgen geblieben, nebst interessanten
0330Schilderungen aus dem Leben dieser Meister. La Mara
0331unterscheidet sich sehr vortheilhaft von Fräulein Lina Ramann
0332durch maßhaltendes Urtheil, Erzählertalent und literarischen
0333Geschmack. Man wandelt mit ihr auf reinlichem, geebnetem
0334Weg und weder auf Wolken noch auf Dynamit-Patronen.