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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10829. Wien, Dienstag, den 16. October 1894

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Vom Strauß-Jubiläum.


0002Ed. H. Die Strauß-Festlichkeiten haben sich vom Theater
0003an der Wien in die Hofoper und von da in den Musikvereins-
0004saal fortgepflanzt, ohne in diesen drei Tagen an Glanz oder
0005Wärme einzubüßen. Ja, in dem großen Festconcert gestaltete
0006das Verhältniß zwischen den Zuhörern und dem Jubilar sich
0007noch intimer, da Strauß (in seiner Parterreloge weithin
0008sichtbar) dem ganzen Publicum nahe gerückt war und fast zu
0009diesem gehörig schien. Bei seinem Erscheinen und nach jedem
0010Stücke des (nur Strauß’sche Compositionen enthaltenden)
0011Programms lebhaft ausgezeichnet, mußte er immer und
0012immer wieder sich dankend verneigen; dabei cedirte er mit
0013bescheidener Handbewegung jeden Beifall an das Orchester.
0014Dem Concert ging ein Festgedicht von Alfred Freiherrn
0015v. Berger voran, das Frau Hohenfels mit der ihr
0016eigenen warmen und schlichten Herzlichkeit vortrug. Sinnig, dabei
0017schwungvoll belebt, wie ihre Rede, ist auch der Prolog selbst,
0018der in jeder seiner zwölf Strophen einen treffenden Gedanken
0019bringt. Aus Berger’s Gedicht — einem der besten mir be-
0020kannten Gelegenheits-Prologe — fühlt man heraus, daß der
0021hochbegabte Dramaturg und Aesthetiker auch musikalischen
0022Enthusiasmus besitzt. Nun spielte das Hofopern-Orchester
0023(unter Director Fuchs’ Leitung) ganz unvergleichlich die
0024Ouvertüre zur „Fledermaus“. So hat sie der Componist
0025gewiß noch nicht gehört und wir auch nicht. Es klang bei-
0026nahe classisch. Auf dieses Gaudium folgte, unter Jahn’s 
0027Direction, die reizende Balletmusik aus dem „Ritter Pazman“.
0028Zur vollen Wirkung dieser Composition gehören unbedingt
0029die charakteristischen Tänze selbst, die schmucken Tänzerinnen
0030in slavischer und ungarischer Nationaltracht, umgeben von
0031der Pracht der königlichen Festhalle. Die geistvollen Einzel-
0032heiten der Instrumentirung konnte freilich der Musiker,
0033unabgelenkt von diesem Anblick, noch aufmerksamer genießen
0034und bewundern, als in der Oper. Damit auch die über-
0035seeischen Colonien des Walzerkönigs nicht unvertreten bleiben,
0036spielte das Hofopern-Orchester den „Egyptischen Marsch“
0037und Herr Alfred Grünfeld den „Persischen“. Stürmi-
0038schen Beifall erhielt eine neue Concert-Paraphrase des „Fleder-
0039maus“-Walzers von Grünfeld. Die beänstigenden Schwierig-
0040keiten dieses Bravourstückes werden zum Glück etwas ver-
0041deckt durch die wundervolle Rhythmik und Elasticität, mit
0042welcher Grünfeld Tanzweisen vorzutragen weiß. Auch der
0043Wiener Männergesang-Verein steuerte zwei
0044Strauß’sche Walzerpartien zu dem Festconcert: „Wein, Weib
0045und Gesang“ und „An der schönen blauen Donau“. Beide
0046Chöre, von dem Dirigenten Kremser mit hübschen Vor-
0047tragseffecten ausgestattet, machten Furore. Demungeachtet
0048höre ich sie weit lieber vom Orchester allein. Die Tanz-
0049melodie ist wegen ihres so stark hervorgehobenen Rhythmus
0050wesentlich instrumentaler Natur; einem hundertköpfigen
0051Männerchor in den Mund gelegt, wird sie leicht plump
0052und aufdringlich. Ueberdies merkt man den genannten Chor-
0053walzern nur zu deutlich an, daß die Musik nicht aus der
0054Dichtung hervorgewachsen, sondern diese dem fertigen Ton-
0055stücke nachträglich angepaßt ist. Franz Gernerth hat dieses
0056Geschäft mit bewährter Geschicklichkeit verrichtet — das Ganze
0057bleibt aber doch bestenfalls eine Ehe zur linken Hand.


0058Für Strauß war dieser dritte Tag ebenso ehren- und
0059jubelvoll, wie die beiden vorausgegangenen, über welche eine
0060andere Feder bereits ausführlich und lebensvoll berichtet
0061hat. Ich werde mich auf einige wenige Ergänzungen be-
0062schränken; weiß ich doch, daß man sich niemals an Strauß,
0063wol aber bald an Strauß-Feuilletons übersättigt.


0064Der außerordentliche Erfolg der neuen Strauß’schen
0065Operette „Jabuka, oder: Das Apfelfest“ verspricht nachhaltig
0066zu bleiben. Er ist überwiegend ein Sieg der Musik, nicht des
0067Librettos. Das Textbuch vermochte durch einige lyrische
0068Ruhepunkte schöne Musik hervorzulocken, keineswegs aber
0069durch die eigentliche Handlung, die sich zähe und uninter-
0070essant fortspinnt, noch durch die handelnden Charaktere,
0071welche theils physiognomielos und verbraucht, theils recht
0072unsympathisch sind. Es verlautet, daß von den beiden auf
0073dem Theaterzettel genannten Autoren Herr Davis (der
0074Verfasser eines im Burgtheater beifällig aufgenommenen
0075Lustspiels) die Handlung erfunden hat, während die
0076Gesangstexte von Herrn Max Kalbeck herrühren.
0077Letzteres konnte man beinahe errathen, denn so
0078formschöne, echt musikalische, dabei sogar vernünftige Verse
0079macht heute kaum ein zweiter Textdichter. An der Musik 
0080von Strauß kann man sich ehrlich freuen. Noch immer so
0081viel Schaffenskraft und gute Laune! Es ist erstaunlich.
0082Selbst von einem Fortschritt kann man sprechen. Das
0083Apfelfest“ scheint mir viel besser, als seine Vorgängerin,
0084die „Fürstin Ninetta“; es ist natürlicher, ruhiger und ein-
0085heitlicher. Freilich, jener hinreißende Walzer-Rhythmus
0086von elementarer Kraft, wie er frühere Werke von Strauß 
0087durchschäumt, fehlt der neuen Operette, in welcher eine Vor-
0088liebe für langsames Walzertempo und empfindsame Stim-
0089mungen vorherrscht. Auch liebt Strauß in neuester Zeit
0090häufiger Tact- und Rhythmuswechsel, Abreißen und Wieder-
0091anknüpfen des melodischen Fadens gegenüber der früheren
0092Geschlossenheit seiner Form. Mit schöner Wirkung benützt
0093Strauß im „Apfelfest“ Anklänge an serbische Volkslieder;
0094so in dem echt poetischen Chorliede „Ueberschneit von tausend
0095weißen Blüthen“, in dem reizenden Gesang der Jelka „Welch
0096ein Schwanken“ mit seiner originellen Beschleunigung des
0097Rhythmus nach den ersten acht Tacten, endlich in dem aller-
0098liebsten Zweigesang „Wiehern hell die Rosse dein“. Ich
0099erinnere noch an das kleine Duett zwischen Mirko und
0100Jelka im ersten Act, dann an das ländlerartige Quartett
0101der beiden Liebespaare mit der reizenden Flötenbegleitung.
0102Das sind lauter werthvolle Stücke, denen die Frische der
0103Jugend eignet und zugleich die Feinheit des erfahrenen
0104Alters. Manche weniger originelle Nummern sind wieder
0105durch die Kunst der Instrumentirung so sehr gehoben und
0106verschönt, daß man ihre Aehnlichkeit mit früheren Strauß’-
0107schen Melodien leicht vergißt. Ein Componist von der außer-
0108ordentlichen Fruchtbarkeit unseres Strauß kann nicht in
0109jeder Nummer neu und originell sein. Genug, daß er
0110stets nur an sich selbst erinnert, niemals bei Anderen borgt.
0111An der lebendigen, dabei stets vornehmen Klangschönheit
0112seines Orchesters kann man sich nicht satt hören. Ich erinnere nur
0113an die Begleitung von Mirko’s Strophe „Und sollt’ ich darum
0114sterben müssen“ am Schluß des ersten Actes. Welch wunder-
0115barer Zusammenklang von Harfenaccorden, pizzikirten Vio-
0116loncellen, Flöten und leisen Geigenklängen, die wie feine
0117Silberfäden sich durch das Ganze ziehen! Zauberisch wirken
0118ferner durch ihre Instrumentirung die zarten Zwischenact-
0119musiken vor dem zweiten und dem dritten Act. — Die Auf-
0120führung war sehr sorgfältig vorbereitet und von Herrn Capell[2]-
0121meister Müller mit Umsicht dirigirt. Fräulein Pohlner,
0122eine stimmkräftige und tactfeste Sängerin, gab die Jelka;
0123ihr ist es leider nicht gegeben, durch liebenswürdige Anmuth
0124oder einen Anflug von Humor diesen ziemlich unausstehlichen
0125Charakter zu mildern. Herr Streitmann (Mirko)
0126verdient alles Lob dafür, daß er sich mehr als sonst mäßigte.
0127Herr Felix (Vasil), ein hübscher junger Mann mit einer
0128hinaufgetriebenen Baritonstimme, ist als Sänger ganz Natu-
0129ralist. Herr Josephi und Frau Biedermann thaten
0130für ihre ganz undankbaren Rollen alles Mögliche und noch
0131etwas mehr. Alle Mitspielenden überragt Herr Girardi,
0132welcher aus dem Gerichtsdiener Joschko eine unvergeßliche
0133Figur schafft. Durch seinen Humor weiß Girardi diesen ge-
0134meinen Lumpen, welcher für Geld zu jeder schmutzigen In-
0135trigue bereit ist, fast liebenswürdig zu machen.


0136Gleich dem „Apfelfest“ dürfte auch das neue Ballet
0137Rund um Wien“ noch lange, nachdem die Strauß-
0138Jubiläums-Fanfaren verklungen sind, dem Publicum Ver-
0139gnügen bereiten. Das Sujet (von Gaul und Willner) ist
0140dem modernen bürgerlichen Leben entnommen, greift aber zu-
0141gleich durch Einführung allegorischer Figuren („der gute
0142Genius“, „der böse Genius“) auf den Geschmack der Raimund’-
0143schen Epoche zurück. Die Handlung wird mehrmals für
0144längere Zeit unterbrochen, um irgend einem glänzenden
0145Schaustück Raum zu geben, das mit dem dramatischen
0146Inhalt gar nichts zu thun hat. Auch in der historischen
0147Anordnung herrscht die größte Liberalität. Unmittelbar nach
0148einem Fest für Johann Strauß in der Rotunde und einem
0149Wettrennen in der Freudenau, mit Bookmakern und
0150Cavalieren, welche (natürlich nur zur Hebung der
0151edlen Pferdezucht) ihr Hab und Gut verwetten,
0152erscheinen Truppenkörper aus der Zeit des sieben-
0153jährigen Krieges! Indessen, ein Ballet sieht man auf
0154solche dramatische Seitensprünge nicht so genau an, wenn
0155sie nur sehenswerth und geschmackvoll sind. Und dieses Lob
0156verdienen die Bilder in „Rund um Wien“ vollauf: das
0157Wettrennen, die Volksscenen beim Heurigen, die militäri-
0158schen Evolutionen und vor Allem das Ballfest in der Ro-
0159tunde, das durch ein Potpourri Strauß’scher Walzer blü-
0160hendes Leben erhält. Diese Scene wurde zu einer rauschen-
0161den und herzlichen Huldigung für Strauß, wie sie im Hof-
0162operntheater noch nicht erlebt worden ist. Der Componist 
0163des neuen Ballets, Herr J. Bayer, fand sich diesmal in
0164seinem Schaffen etwas eingeschränkt, denn ein ganzer Act
0165wird musikalisch von Wiener Volksweisen in Anspruch ge-
0166nommen, ein anderer von Strauß’schen Walzern. So mußte
0167er sich denn als Tanzcomponist mit einem hübschen
0168Walzer (gleich in der Introduction) und einer flotten
0169Jockey-Polka begnügen. Um so größere Sorgfalt
0170hat er an den eigentlich dramatischen, illustrirenden Theil
0171seiner Partitur gewendet und denselben geschmackvoll und
0172charakteristisch ausgeführt. In der Instrumentirung hat er
0173viel von Strauß gelernt — dem besten Muster, das man
0174wählen kann. Von der trefflichen Aufführung und der
0175überaus glänzenden Ausstattung des neuen Ballets sind
0176unsere Leser bereits unterrichtet. Ich möchte nur noch die
0177ausgezeichneten mimischen Leistungen von Fräulein Pagliero 
0178und Herrn Frappart hervorheben, welche die schaurige
0179Nachtscene unter der Reichsbrücke mit erschütternder Wahrheit
0180spielen. Insbesondere hat mich das Spiel Frappart’s über-
0181rascht, das in dieser hochdramatischen Scene gar nichts von
0182der conventionellen, krampfhaften Action des Ballets ver-
0183rieth, sondern des besten Schauspielers würdig war. An
0184dem Gerücht, Frappart gedenke der Bühne Adieu zu sagen,
0185kann unmöglich etwas Wahres sein. Dieser Künstler hat
0186mit unserem Strauß ein Glück und ein Verdienst gemein:
0187er ist gefeit gegen das Alter und durch kein Jubiläum zu
0188beugen.


0189Die Festlichkeiten zu Ehren Strauß’ hatten gestern noch
0190ein intimes Nachspiel in der Wohnung des Jubilars: den
0191Empfang der verschiedenen Gratulanten und Deputationen.
0192Dazu mußte doch auch die Musik ihren Segen geben. Sie
0193gab ihn in Form einer Orchester-Serenade, welche Herr
0194Robert Fuchs für diese Gelegenheit componirt hatte. Der
0195Componist, der speciell auf dem Gebiete der Serenade schon
0196manchen schönen Erfolg errungen, hatte die glückliche Idee,
0197in dem letzten von den fünf Sätzen zwei Motive aus dem
0198„Fledermaus“-Walzer zu benützen und aufs wirksamste
0199contrapunktisch zu verarbeiten. Es ist unglaublich, wie sehr
0200solcher Impfstoff das Blut verbessert. Das große Publicum
0201wird demnächst Gelegenheit haben, in einem Concert der
0202Philharmoniker die Gratulations-Serenade von Fuchs zu
0203hören. Ihren schönsten Zweck hat sie gestern erfüllt; dem
0204Lieblinge Wiens Freude zu machen.