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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10825. Wien, Freitag, den 12. October 1894

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Zum Strauß-Jubiläum.


0002Ed. H. Mit der heutigen Première von Strauß’
0003Apfelfest“ beginnt die fröhliche Feier, die wir sein Lorbeer-
0004fest nennen möchten. Nicht einen Festtag, eine Festwoche 
0005veranstaltet Wien zur Erinnerung an Strauß’ erstes Auf-
0006treten im Dommayer-Garten. Aus fernsten Ländern schallt
0007herzlicher Antheil herüber an diesem fünfzigjährigen Jubi-
0008läum. Für Wien aber ist’s ein Familienfest, Johann Strauß 
0009gehört zur Familie. Seine zahllosen „Brüderlein und
0010Schwesterlein“ umdrängen heute mit stolzer Befriedigung
0011den Künstler, der sein glänzendes Talent ein Halbjahrhundert
0012lang blühend erhalten hat. Mit dem genießenden, großen
0013Publicum wetteifern glückwünschend auch sämmtliche Musik-
0014kritiker. Unter ihnen bin ich wol der einzige, welcher Strauß’
0015Anfänge miterlebt und seine ganze lange Thätigkeit bis zum
0016heutigen Tage theilnehmend begleitet hat. Ich habe die
0017Ehre und das Mißvergnügen, mit Johann Strauß 
0018im selben Jahre geboren zu sein. Lieber wäre mir’s
0019freilich, ich hätte erst bei seinem „Apfelfest“ die
0020Studentenmütze geschwenkt, als damals schon bei Dom-
0021mayer. Vor dem Altwerden schützen aber die allerreizend-
0022sten Walzer weder den, der sie hört, noch den, der
0023sie gemacht hat. Wir Vormärzlichen müssen uns mit
0024den Erinnerungen trösten, die wir voraus haben vor der
0025Jugend. Lustige Erinnerungen an Juristenbälle, in welchen
0026der alte Strauß seine neuesten Walzer dirigirte, und an
0027die ersten Gartenconcerte, wo sein Sohn dasselbe that. Mir
0028war es noch vergönnt, in der von Eitelberger redigirten
0029Literatur-Beilage zur Wiener Zeitung die Morgenröthe des
0030jungen Strauß zu begrüßen und dem alten die letzte Ehre
0031zu erweisen. Dieser starb bekanntlich im September 1849,
0032erst fünfundvierzigjährig, auf der Höhe seines großen Talentes.
0033Viel Anfeindung erfuhr ich ob der Schlußworte jenes Nach-
0034rufes, worin ich Wien beklagte, daß es nacheinander in 
0035Otto Nicolai seinen besten Dirigenten, in Dr. Becher 
0036seinen geistreichsten Kritiker, in Strauß seinen begabtesten
0037Componisten verloren habe. Welche Kühnheit! Nicolai war
0038ja ein Ausländer, Becher ein justificirter Revolutionär und
0039Strauß — nur ein Walzercomponist! Das damalige
0040Wien, meinte man, besaß doch angesehene Tonsetzer,
0041welche Opern und Oratorien componirt hatten und Gott 
0042weiß wie viele Messen! Ja, wenn das Talent Nebensache
0043wäre und eine gut oder schlecht gearbeitete Kirchenmusik
0044werthvoller, als die berückendste Walzermelodie, wie sie ein
0045gottgefälliges, nicht contrapunktisch gefirmtes Naturkind im
0046Schlafe findet! Daß dem jungen Strauß am ersten Abend
0047die enthusiastische Neugierde von ganz Wien entgegenlief,
0048das verdankte er dem Namen seines Vaters; mit seinen
0049Erfolgen hatte dieser Name nichts mehr zu thun, der Sohn 
0050hat sie ganz auf eigene Faust errungen. Seltsam genug
0051spricht man von dem Talente, das Jemand „geerbt“ hat.
0052Und doch lassen sich nur Geld und Namen vererben;
0053das Talent muß Jeder für seine Person extra mitbringen.
0054Wie der Melodienquell des jungen Strauß gleich in klarer,
0055frischer Fülle hervorsprang und immer breiter anwuchs, das
0056brauche ich dem Leser nicht erst zu erzählen. Nur der
0057wunderbaren Mär sei gedacht, daß an einem kalten
0058December-Nachmittage des Jahres 1846 Robert 
0059Schumann mit Clara nach Hietzing hinauswanderte,
0060um den vielgerühmten neuen Walzercomponisten zu hören.
0061Strauß hatte bald seinen Vater erreicht, in feinem Detail
0062und modernem Geist ihn noch überholt. Treu der Kunst-
0063form und der Familien-Tradition, schuf er sich doch sein
0064eigenartiges Gepräge.


0065Wir besitzen von Strauß Sohn über 400 Werke,
0066größtentheils Tanzmusik. Wenige Menschen haben eine Vor-
0067stellung davon, welche Masse musikalischer Erfindung auch
0068nur zwanzig Walzerpartien verschlingen. Ich habe vor Jahren
0069einmal den Wunsch ausgesprochen, Strauß, der so manche
0070Neuerung gewagt hat, möchte unsere ganze mosaikartige
0071Walzerform reformiren, sie zu einer musikalischen Einheit
0072erheben. Die gegenwärtige Form der Walzermusik birgt ein 
0073großes Hemmniß für deren künstlerische Entwicklung
0074wie für jeden Componisten von besserem Wissen und
0075Können. Die enge festgeschlossene Form des Walzers
0076läßt auch die kleinste Entwicklung einer Melodie nicht zu;
0077diese ist, so wie sie zu Ende gekommen, auch spurlos ab-
0078gethan, um einer zweiten, dritten u. s. f. Platz zu machen,
0079bis alle fünf Walzer wie eine unzusammenhängende Bilder-
0080reihe in einem Guckkasten abgerollt sind. Zu Einem Tanz
0081braucht der Componist, außer Introduction und Coda, fünf
0082selbstständige Walzer — unsere Großeltern opferten sogar
0083zwölf „Deutsche“ in jeder Walzerpartie — eine musika-
0084lische Verschwendung, welche den reichsten Melodiker bald
0085erschöpfen muß. Ich denke mir den Walzer nicht aus fünf
0086selbstständigen, zusammenhanglos aneinandergereihten Stücken
0087aufgebaut, sondern als Ein zusammenhängendes, abge-
0088schlossenes Ganzes. Dazu würden ein bis zwei Haupt-
0089themen hinreichen, denen (innerhalb der Grenzen der Tanz-
0090barkeit) eine freie musikalische Entwicklung vergönnt und
0091geboten wäre. Man wolle dabei nicht etwa an Zukunftsmusik
0092denken, Gott bewahre, sondern nur an die heutige Gestalt einer
0093Strauß’schen Polka-Mazurka, welche nach einem Mittelsatz
0094(Trio) den ersten Satz wiederholt. In größerem Rahmen
0095finden wir dergleichen erweiterte, einheitliche Walzer bereits
0096in dem ersten Finale von „Hanns Heiling“, im zweiten von
0097Gounod’s „Faust“, im ersten von Brüll’s „Goldenem
0098Kreuz“. Strauß selbst hat in seinem „Lustigen Krieg“ ein
0099treffliches Beispiel davon gegeben. Nur durch diese conden-
0100sirte Form entginge der Componist dem Uebel, ein halb
0101Dutzend neuer Motive zu erfinden, um sie frischgepflückt
0102gleich fortwerfen zu müssen; nur durch sie könnte der
0103Walzer sich zu einheitlicher, zugleich freierer Form und ausge-
0104prägtem Charakter entwickeln. Strauß ist nicht darauf ein-
0105gegangen, obwol er in seinem neuen „Kaiserwalzer“ eine
0106Art Neuerung in die Walzerform bereits einzuführen ver-
0107sucht hat.


0108Noch einen zweiten, viel erheblicheren Wunsch habe ich
0109oft und leider vergebens an Strauß gerichtet; er möge ein
0110ganzes Ballet für die Oper componiren. Er wäre der [2]
0111rechte, vielleicht der einzige Mann dazu, uns ein Ballet zu
0112schaffen, dessen musikalischer Werth alle Bürgschaft für län-
0113gere Dauer in sich trüge. Ein Ballet von Johann Strauß,
0114nicht aus Johann Strauß, wie wir deren jetzt haben. Die
0115besten französischen Operncomponisten, Herold, Adam,
0116Halévy, haben es nicht verschmäht, nebenbei Ballette zu
0117schreiben; daß diese Thätigkeit auch materiell nicht unfrucht-
0118bar sei, beweisen uns die Ballette von Delibes, welche
0119seine Opern überlebt und noch heute von ihrer Wirkung
0120nichts eingebüßt haben. Es wäre thöricht und undankbar
0121zugleich, wollten wir Strauß, der uns so reich mit Musik
0122aller Art beschenkt hat, diese unerfüllten Wünsche nachtragen.
0123Ich erwähne ihrer nur nebenbei, freilich nicht ohne die stille
0124Hoffnung, Strauß könnte doch noch einmal daran Gefallen
0125finden. Frisch und schaffenskräftig, wie wir unsern Jubilar
0126vor uns sehen, verspricht er uns noch manche holde Ueber-
0127raschung. Möge er alt werden und jung bleiben wie sein
0128achtzigjähriger College Verdi!


0129Unversehens habe ich bisher immer nur von dem
0130genialen Tanzcomponisten gesprochen. Seit zwanzig Jahren
0131hat aber der „Walzerkönig“ sein Königreich erweitert und
0132sich die Bühne erobert. Strauß ist meines Wissens der
0133einzige Componist, der nach dreißig Jahren ausschließlicher,
0134verschwenderischer Productivität in Tanzmusik sich zum
0135dramatischen Tonsetzer aufgeschwungen und als solcher
0136erfolgreich behauptet hat. Was könnte ich an dieser Stelle
0137Neues darüber sagen? Die jetzige Generation hat alle
0138Strauß’schen Premièren mitgemacht und ich habe sie, von
0139Indigo“ an, fast alle besprochen. Den gesammten bio-
0140graphischen Stoff findet man in L. Eisenberg’s lesens-
0141werthem Buch „Johann Strauß“ vollständig aufgearbeitet.
0142Und keine kritische Abhandlung wollte ich zum heutigen Tage
0143darbringen — nur einen herzlichen Glückwunsch und Gruß
0144an den großen Freudenspender Strauß!


0145Genau vor zehn Jahren war es mir vergönnt, in
0146dieser Zeitung das vierzigjährige Jubiläum von Johann
0147Strauß zu feiern. Seither hat sich glücklicherweise nichts an
0148ihm verändert. Nur Eines ist nachzutragen, zu seinem Lob 
0149und unserer Freude: daß Strauß in den letzten zehn Jahren
0150nicht müde geworden, daß er jung und liebenswürdig ge-
0151blieben ist als Mensch wie als Componist. In dieses letzte
0152Decennium fällt unter Anderm sein „Zigeunerbaron“, eines
0153der frischesten, zugkräftigsten Stücke, dem ich nebst dem
0154Lustigen Krieg“ die ersten Stellen nach der „Fledermaus“
0155zugestehen möchte. Denn diese bleibt doch immerdar das
0156auserwählte heraldische Thier im Strauß’schen Wappen.
0157Hier fließt am reichsten, anmuthigsten und natürlichsten die
0158echt Strauß’sche Melodie über ein Lustspiel hin, welches dem
0159Talente des Componisten verwandt entgegenkam und ihn
0160nirgends verleitete, sein Naturell umzuzwingen. Wer, wie
0161Strauß, in rascher Folge vierzehn Bühnenwerke geschrieben,
0162der darf nicht hoffen, damit lauter Haupttreffer zu machen.
0163Einige, die vielleicht zu viel Maus oder zu viel Vogel
0164waren, mußten sich mit geringerem Erfolge begnügen. Aber
0165selbst dem schwächsten Werke von Strauß ist ehrlich nachzu-
0166rühmen, daß es blühende Musik enthält und geniale Ein-
0167fälle, wie sie nur von Strauß herrühren können. Ich
0168brauche nicht ausdrücklich zu sagen, daß es die Scenen heite-
0169ren Charakters und anmuthiger Tanzweise sind. Kurz, über
0170jede seiner gesammelten Operetten könnte Strauß das Motto
0171des persischen Dichters setzen:
0172Manches mach’ ich auch wie And’re, /
0173Manches macht ein and’rer Mann /
0174Besser, aber Manches mach’ ich, /
0175Was kein And’rer machen kann. /  


0176Mit der Popularität unseres Strauß kann sich heute
0177kein Zweiter messen. Sie hat noch in den letzten Jahren
0178eher zugenommen als eingebüßt. Wie wenige Tonkünstler
0179können an der Schwelle des 70. Lebensjahres sich dieses
0180Glückes rühmen! Paul Lindau erzählt von seiner amerika-
0181nischen Reise, wie am See Minnetoka plötzlich die Klänge
0182eines Strauß’schen Walzers an sein Ohr schlugen und ihn
0183so tief ergriffen, daß er zum erstenmale Heimweh bekam.
0184Wir Glücklicheren brauchen nicht an den See Minnetoka zu
0185reisen; die schönsten Strauß’schen Melodien und Strauß 
0186selbst haben wir hier bei uns an der schönen blauen Donau!