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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10868. Wien, Samstag, den 24. November 1894

[1]

Anton Rubinstein.


0002Ed. H. Eine geniale Natur, ein bedeutender Mensch,
0003ein starker Künstler ist uns mit Rubinstein entrissen. In
0004unserer Zeit, die täglich ärmer wird an Künstler-Originalen,
0005war er eines der hervorstechendsten. Wer diesen dichtbewal-
0006deten, gutmüthig trotzigen Charakterkopf je gesehen hat, der
0007vergißt ihn nicht, und wer Rubinstein auch nur Einmal
0008spielen gehört, dem klingt er in Ewigkeit nach. Von all den
0009berühmten Clavierspielern, denen ich im Laufe eines halben
0010Jahrhunderts gelauscht, hat mir, nach Liszt, keiner so genuß-
0011reiche Stunden bereitet, wie Rubinstein. Liszt war einzig,
0012seine überragende Größe leidet keine Anfechtung. Aber
0013Eines schien mir Rubinstein trotzdem voraus zu haben:
0014die Naivetät, die noch unverbrauchte Empfindung. Voll
0015Geist als Mensch und Künstler, begnügte sich Liszt 
0016doch oft mit dem Esprit und dem Witz. Sein Spiel,
0017feiner und nervöser als das Rubinstein’s, verrieth
0018häufig Blasirtheit und wurde dann leicht kokett. Rubinstein 
0019konnte man das nie vorwerfen; er hat immer aufrichtig,
0020naiv, ganz aus seiner Seele heraus gespielt. Er konnte mit-
0021unter arg auf dem Clavier toben — was bei Liszt nicht
0022vorkam — aber niemals saß er dem Publicum ironisch
0023gegenüber, er gab stets sein Bestes, hielt nie zum Besten.
0024Was ihr wollt“ und „Wie es euch gefällt“, diese zwei
0025Shakespeare’schen Lustspieltitel, paßten nicht für die Concert-
0026programme Rubinstein’s; er spielte „Was ich will“ und
0027„Wie es mir gefällt!“ Das konnte vielleicht auch einmal
0028unangenehm werden, aufrichtig blieb es immer.


0029Wien darf sich eine der häufigsten und dankbarsten
0030Stationen auf Rubinstein’s vielbewegter Weltreise nennen.
0031Hier hat er schon als zwölfjähriger Knabe (1842) Auf-
0032sehen erregt. Als er fünfzehn Jahre später wiederkam, da
0033war aus dem Wunderkind ein Wundermann geworden.
0034Und noch als hoher Fünfziger verfügte Rubinstein über die
0035volle Energie und Frische von damals und übte den gleichen
0036unbeschreiblichen Zauber auf Jung und Alt. Strotzende 
0037Kraft und Jugendfrische, unvergleichliche Behandlung der
0038Melodie, vollendet schöner Anschlag im brausendsten Sturm
0039wie im leisesten Verhallen des Klanges, eine Ausdauer und
0040ein Gedächtniß ohne Beispiel — das Alles und noch mehr
0041hatten wir zu bewundern in jenem unvergeßlichen „Clavier-
0042Cyklus von sieben Abenden“, der in der Geschichte des
0043Concertwesens eine monumentale Stelle einnimmt. Rubin-
0044stein spielen zu hören — so schrieb ich vor Jahren —
0045ist ein Genuß im besten und eigentlichsten Sinne: ein Ge-
0046nießen
, an welchem noch der sinnliche Beischmack dieses
0047Begriffes haftet. Die gesunde, kräftige Sinnlichkeit Rubinstein’s
0048strömte mit so erfrischendem Behagen auf den Hörer ein,
0049daß dieser, noch ganz anders als bei anderen Virtuosen, den
0050Eindruck eines musikalischen Labsals, eines Ohrenschmauses
0051empfand. Seine Vorzüge wurzelten in seiner ungebrochenen
0052Naturkraft; ebendaselbst auch die Fehler, in welche sein
0053reiches, aber oft ungezügeltes Talent sich leicht verirrte.
0054Woher der besondere Zauber, den gerade Rubinstein auf
0055uns Alle übte? Ich glaube, weil seine Vorzüge aus einer
0056Quelle flossen, die heutzutage fast zu versiegen droht: kräftige
0057Sinnlichkeit und Lebensfülle. Das ist eine künstlerische Mit-
0058gift, der wir Vieles verzeihen, weil sie unter den Modernen
0059so selten ist. Unsere heutigen Componisten und Virtuosen haben
0060wenig von jener naiven Naturgewalt, die lieber wagt als grübelt
0061und in der Leidenschaft ohneweiters auch einen unbesonnenen
0062Streich begeht. Ueberwiegend beherrscht sie der Geist, die
0063Bildung, die feine oder tiefsinnige Reflexion. Gemeinsam ist
0064ihnen die Neigung, volles Licht in allerlei Mischfarben zu
0065brechen, abzulenken, die Herztöne der Leidenschaft motivirend
0066zu dämpfen, zu umschreiben. Man denke an Bülow, den
0067Vornehmsten dieser Richtung. Ihm gegenüber war Rubin-
0068stein noch eine naive saftige Natur. Darum lauschten wir
0069ihm mit sorglosem Ohr und ganz hingebendem Genusse.
0070Hat er uns mitunter ein bischen geärgert — im nächsten
0071Satze waren wir unfehlbar wieder gefangen. Rubinstein’s
0072Spiel war ungleich und nicht ohne bedenkliche Ausschrei-
0073tungen. Schöner kann Niemand singen, als Rubinstein ein
0074einfaches Adagio von Mozart spielte oder eine Nocturne von
0075Field. Gleich darauf konnte er aber irgend ein Allegro wie
0076mit der Hetzpeitsche vor sich herjagen, so daß jeder rhythmische 
0077Sinn verloren ging und damit die Aufnahmsfähigkeit des Zu-
0078hörers. Und selbst in solchen wilden Ausbrüchen hat Rubin-
0079stein sein Auditorium oft noch bezaubert. Das lag darin,
0080daß wir fühlten, nicht Virtuosen-Eitelkeit, sondern eine den
0081Spieler fortreißende Naturgewalt sei schuld an seinen Ueber-
0082schreitungen. Dieser aus Temperament und Race zusammen-
0083strömenden Elementargewalt gab das culturmüde Europa 
0084sich gefangen und gestattete willig dem „göttlichen Rubin-
0085stein“ große Vorrechte.


0086Rubinstein schätzte sein Compositions-Talent viel höher,
0087als sein Clavierspiel; ich empfand umgekehrt und ward ihm
0088dadurch, wie ich nur zu bald erfahren mußte, persönlich ent-
0089fremdet. Daß er auch als Tondichter reich begabt war und
0090in jeder Gattung einzelnes Schöne, ja Hinreißende ge-
0091schaffen, habe ich niemals übersehen, ja sehr lebhaft gefühlt
0092und betont. Aber keine von Rubinstein’s größeren Compo-
0093sitionen vermag uns völlig zu befriedigen, denn nach einem
0094meist glänzenden Anfang wird die Erfindung fast regelmäßig
0095matter, die Ausführung schleuderischer. Das Clavierquartett 
0096in C-dur (op. 66) ist typisch dafür. Mit einem prächtigen
0097Thema bricht der erste Satz wie ein heller Morgen an;
0098das Scherzo ist geringer, aber noch immer pikant; darauf
0099folgt ein wüstenartig langes und sonnenloses Adagio und
0100ein peinlich triviales Finale. Und die Ocean-Symphonie, wie
0101mächtig tritt sie auf! Aber nach diesem imposanten ersten Satz
0102und schon in diesem geht es erst stufenweise, dann jäh abwärts.
0103Trotzdem besticht auch in diesen Werken, in dem D-moll-
0104Concert und manchen Sätzen seiner Kammermusik eine ge-
0105wisse Unmittelbarkeit und Naivetät, die in der nachbeethoven’-
0106schen Musik sich nur selten zeigt. Ohne Zweifel ist Rubin-
0107stein in diesem Punkte auch seinem russischen Vaterlande
0108verpflichtet. In den Slaven steckt noch ein Kapital von un-
0109verbrauchter Lebenskraft und derber, noch nicht zu Tode
0110cultivirter Sinnlichkeit. Vollkraft und Volltrotz der Slaven-
0111natur wogt auch in Rubinstein’s Blut und kommt in seinen
0112Compositionen wie in seinem Spiele zu Tage. Diese Eigen-
0113schaften, welche eine starke Energie nach Außen verbürgen,
0114haben mich ehedem zu dem irrigen Glauben ver-
0115leitet, die dramatische Musik müßte für Rubinstein das
0116günstigste Feld abgeben. Es lagen damals nur seine beiden [2]
0117ersten Opern vor: „Die Kinder der Haide“ und „Feramors“,
0118die ich noch immer für seine besten halte. Sie leiden aller-
0119dings auch an dem früher genannten Erbübel der Rubin-
0120stein’schen Musik: einer schnell und glanzvoll auflodernden,
0121aber rasch wieder erlöschenden Phantasie. Dennoch wüßte
0122ich heute keinen deutschen Operncomponisten, der im Stande
0123wäre, etwas Aehnliches für die Oper zu schreiben, wie der
0124erste Act von „Feramors“ und die Zigeunerscenen in den
0125Kindern der Haide“. Auch die späteren Opern enthalten
0126sehr schöne lyrische Momente, bleiben aber wirkungslos als
0127Ganzes. Für die Oper fehlt Rubinstein der lange Athem,
0128die sich stetig ansammelnde und steigernde dramatische
0129Energie. Dies beweisen sein „Nero“, „Die Makkabäer“,
0130Der Dämon“, „Sulamith“ u. s. w. Wie viel Schönes
0131Rubinstein auf dem Gebiete des Liedes geschaffen, bedarf
0132nicht ausdrücklicher Erinnerung. „Der Asra“, „Wenn
0133es doch immer so bliebe“ und manches andere orienta-
0134lisch anklingende Lied Rubinstein’s lebt auf allen sanges-
0135kundigen Lippen.


0136In seinen letzten Jahren hat sich Rubinstein mit leiden-
0137schaftlichem und zähem Eifer auf eine von ihm neugeschaffene
0138oder vielmehr umgeschaffene Musikgattung verlegt: auf die
0139geistliche Oper“. Schon seinen „Thurm zu Babel
0140(aufgeführt in Wien 1870) nannte er eine „geistliche Oper“.
0141Er hätte dieses, sowie die späteren ähnlichen Werke „Sula-
0142mith“, „Moses“, „Christus“ ebenso gut „Oratorium“
0143taufen können, bei der sehr dehnbaren Natur dieses Be-
0144griffes. „Sulamith“ (Dichtung von Julius Rodenberg)
0145ist in Hamburg wirklich auf der Bühne dargestellt worden;
0146die Kritiker begegneten sich aber in dem Urtheile, daß diese
0147„geistliche Oper“ in den Concertsaal gehöre. Der „Thurm von
0148Babel“ und das „Verlorene Paradies“ sind immer nur in
0149Concertform als Oratorium gegeben worden, aber Rubinstein 
0150bestand unerschütterlich darauf, daß ihr Platz die Opernbühne sei,
0151was schon wegen der unerhörten scenischen Anforderungen dieser
0152beiden „geistlichen Opern“ Niemand begreifen konnte. Nennen
0153wir es Oper oder Oratorium, das „Paradies“ bleibt rettungs-
0154los langweilig; hingegen enthält der „Thurm von Babel“
0155Scenen von unwiderstehlicher Kraft und Anschaulichkeit. Schien 
0156Rubinstein eine zeitlang resignirt in Bezug auf diese beiden
0157Werke, deren scenische Aufführung er nirgends durchsetzen
0158konnte, so ging er mit verdoppelter Kraft daran, für seinen
0159Moses“ und „Christus“ eine theatralische Heimstätte zu
0160schaffen. In einem längeren Aufsatze hat er selbst für sein
0161Project das Wort ergriffen. Er beginnt mit dem Bekennt-
0162nisse, das Oratorium habe als Kunstgattung ihn seit jeher
0163zum Proteste gestimmt; bei den bekanntesten Meisterwerken
0164(nicht beim Studium, sondern bei ihren Aufführungen) sei
0165er immer kalt geblieben. Das Alles müsse viel groß-
0166artiger und richtiger wirken, wenn es auf der Bühne
0167in Costümen und mit Decorationen, mit der vollen Action
0168dargestellt würde. Man müßte also im Gegensatze zu
0169weltlichen ein „geistliches Theater für geistliche Opern 
0170bauen“. Rubinstein erzählt, wie er wegen Gründung eines
0171solchen Theaters sich zuerst nach Weimar, dann nach Berlin 
0172gewendet, später in London und in Paris angeklopft habe
0173und — überall verschlossene Thüren fand. Indem er die
0174finanziellen, künstlerischen und technischen Schwierigkeiten
0175aufzählt, die seinem Unternehmen entgegenstehen, erklärt er
0176sie alle in seinem grenzenlosen Sanguinismus für leicht be-
0177siegbar. Ihm erscheint „das Bestehen eines geistlichen Theaters
0178neben einem weltlichen in der ganzen cultivirten Welt, in
0179jeder größeren theaterfähigen Stadt nicht
0180nur ein Mögliches, sondern sogar ein Nothwendiges; sind
0181doch Oratorien überall an der Tagesordnung“! Rubinstein 
0182übersah in seinem Eifer, daß das Publicum mit drei bis
0183vier Oratorien jährlich befriedigt ist. Dafür baut man nicht
0184leicht ein neues großes Theater mit kostspieligster Maschinerie
0185und einem eigens engagirten Sängerpersonal. Wie bescheiden
0186ist das Oratorien-Repertoire, wie klein das Publicum, über
0187welches ein solches „geistliches Theater in jeder Stadt“ zu
0188verfügen hätte! Trotzdem war Rubinstein ganz nahe daran,
0189seinen Plan verwirklicht zu sehen: in Bremen, wo man
0190im nächsten Sommer den „Moses“ scenisch darstellen wollte
0191auf einer eigens dafür gebauten Bühne. Er hat es leider
0192nicht erleben sollen. Jetzt, da die mächtigste Triebkraft dieses
0193Unternehmens fehlt, Rubinstein selbst, dürfte sein Lieblings-
0194plan wieder in Frage gestellt sein.


0195Rubinstein’s Project einer scenischen Aufführung seiner
0196Oratorien findet derzeit ein merkwürdiges Seitenstück in der
0197von Leoncavallo geplanten Verbindung des Ballets
0198mit Gesängen. Beide Componisten greifen mit ihren ver-
0199meintlichen Neuerungen in die Kinderzeit dieser Kunst-
0200gattungen zurück. Die französischen Ballette unter Ludwig XIV. 
0201enthielten regelmäßig Gesangstücke, und die ersten italienischen
0202Oratorien waren nichts Anderes als „geistliche Opern“, im
0203Rubinstein’schen Sinn vollständig theatralisch aufgeführt. So
0204wunderlich verschlingt sich oft Aeltestes und Neuestes in der
0205Musikgeschichte.


0206In Wien sahen wir im Laufe der letzten Jahre Rubin-
0207stein’s Namen auf den Concertprogrammen fast gänzlich
0208verschwinden. Man vergaß sogar sein 50jähriges Künstler-
0209Jubiläum durch die Aufführung eines seiner Orchesterwerke
0210hier zu feiern — eine unverzeihliche Lässigkeit. Freilich hatte
0211man durch eine Reihe von Jahren dem Publicum, das
0212dann nicht mehr anbeißen wollte, zu viel Rubinstein vor-
0213gesetzt, darunter manches sehr Unbedeutende, ja Abstoßende,
0214wie die Ouvertüren zu „Dimitri Donskoi“, „Iwan der Grau-
0215same“, die „Dramatische Symphonie“, das Es-dur-Concert.
0216Wir dürfen annehmen, daß die persönlichen Erinnerungen
0217an den verblichenen Meister und die steigende musikalische
0218Hungersnoth jetzt zusammenwirken werden zur Wieder-
0219einführung einiger seiner besten Werke in unsere Concert-
0220säle. Die so originellen und reizvollen Balletmusiken aus
0221Feramors“ und dem „Dämon“, den ersten Satz der
0222Ocean-Symphonie würde man in den Philharmonischen
0223Concerten ebenso willkommen heißen, wie in den Gesell-
0224schaftsconcerten die prächtigen Chöre aus dem „Thurm von
0225Babel“ und andere Gesangsstücke, die als verschüttete Edel-
0226steine in Rubinstein’s Opern und Oratorien ruhen. Unsere
0227Quartettspieler, unsere Clavier-Virtuosen und Liedersänger
0228können am wenigsten in Verlegenheit kommen, Rubinstein’s
0229Andenken würdig und reichlich zu ehren. In manchen seiner
0230überaus zahlreichen Compositionen dürfte Rubinstein jetzt
0231wieder aufleben. Könnten wir nur auch den großen, einzigen
0232Clavier-Virtuosen Rubinstein wieder lebendig machen!