Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11350. Wien, Sonntag, den 29. März 1896

[1][3]

Concerte.


0002Ed. H. Es kann nicht immer vollen Sonnenschein
0003geben; nicht einmal in den Productionen unseres glorreichen
0004Männergesang-Vereins. Seine letzte stand im
0005Schatten der vorangegangenen glänzenderen Concerte. Herr
0006Camillo Horn, von dem man anmuthige, melodiöse Lieder
0007kennt, ist mit seiner „Ouvertüre“ weniger glücklich hervor-
0008getreten. Eine achtbare Composition, wenn wir sie als ein
0009Uebungs- und Vorbereitungsstück für reifere Orchesterwerke
0010ansehen dürfen, aber an sich von geringer Kraft und Selbst-
0011ständigkeit. Sie segelt meist im Fahrwasser der bekannten
0012Reissiger- und Lindpaintner-Ouvertüren, in welchen Vieles
0013neu und wirksam klang, was heute den Eindruck des Auf-
0014gewärmten macht. Wir kennen sie ganz gut diese er-
0015künstelte Leidenschaft aufgeregter Violinfiguren, diese akade-
0016misch geradlinige Durchführung und den wohlfeilen
0017Pomp ihrer Coda. Es fehlt der Horn’schen Ouvertüre 
0018nicht an Form, aber an bedeutendem Inhalt und indivi-
0019dueller Prägung. Der Hymnus „Phöbos Apollon“ von
0020Fr. Gernsheim, zuerst in dem Jubiläums-Concert des
0021Vereins 1893 vorgetragen, hat uns jetzt bei obendrein
0022mangelnder Feststimmung noch kälter gelassen, als damals.
0023Trotz seiner gräcisirenden Erhabenheit und seines gewaltigen
0024Chor- und Orchesterschalls macht dieser Hymnus doch nur den
0025Eindruck einer sich berauschenden Capellmeistermusik. Nachbil-
0026dungen der Antigone- und Oedipus-Chöre können stets nur
0027auf kühle Anerkennung zählen, insbesondere wenn ihre
0028Autoren nicht Sophokles und Mendelssohn heißen, sondern
0029Allmers und Gernsheim. Das schwierige Werk ist obendrein
0030eine Art Männerchor-Turnleistung, ermüdend durch die an-
0031haltend stark und hoch geführten Tenorstimmen. Neben den
0032jugendlichen Tenoristen des Vereins singen aber doch auch
0033manche ältere, die man nicht reizen darf. Geringe Er-
0034frischung boten die Liedervorträge der Hofopernsängerin
0035Frau Elizza. Es that uns leid, Schubert’sGretchen
0036am Spinnrad“ und R. Heuberger’s poetisches Lied: „Der
0037Liebste schläft“, von reizloser Stimme so dilettantisch gesungen
0038zu hören. Beinahe hätte es uns sogar um Grünfeld’s 
0039Erste Liebe“ leid gethan. „Balkanbilder“ betitelt sich eine
0040umfangreiche Novität für Soli, Chor und Orchester, von
0041E. Kremser. Der Text dieser verschämten Concert-Oper
0042leidet an dem sehr unklaren Zusammenhang der einzelnen
0043dreizehn Nummern. Dem geschätzten Componisten, welcher 
0044uns so manchen lebendigen und heiteren Chor gespendet,
0045können wir diesmal nur das eine Lob zollen, dessen er
0046längst nicht mehr bedarf: das Lob seines sangbaren, effect-
0047vollen Chorsatzes. Die Phantasie hat ihn bei diesem
0048Opus 144 unfreundlich im Stich gelassen, wahrscheinlich
0049verstimmt durch die vielen langsamen, tristen Gesänge. Auch
0050in Betreff der einheitlichen Grundfarbe scheint Kremser 
0051nicht recht schlüssig geworden. Dem Schauplatz der
0052Balkanbilder“ entsprechend, dachten wir uns in der
0053Musik den Ton rumänisch-serbischer Volksweisen
0054festgehalten. In Kremser’s Liederspiel scheiden sich
0055aber orientalische und rein deutsche Partien wie Oel und
0056Wasser. Am glücklichsten getroffen ist der orientalische Charakter
0057in der kurzen charakteristischen Einleitung. Auch der erste
0058Klaggesang der Bässe und die „Botschaft“ (von deren wich-
0059tigem Inhalt kein Mensch eine Idee bekommt) tragen noch
0060discrete Localfarbe. Nun folgen aber recht charakterlose
0061Nummern, wie das sentimentale Bariton-Solo und das
0062Sopran-Solo „Sehnsucht“. Die Chöre „Rachebündniß“,
0063„Gebet um Sieg“, „Heimkehr“ sind gangbare Liedertafel-
0064Musik, und nicht von der besten Sorte. Der Componist
0065scheint bei diesen Stücken mehr an den Stuttgarter Lieder-
0066kranz, dem das Werk gewidmet ist, als an die Balkanvölker
0067gedacht zu haben. Die effectvollste Nummer kommt glück-
0068licherweise zuletzt: ein „Hochzeitsreigen“, volksthümlich-lustig
0069und mit pikanten Schallwerkzeugen, wie Tamtam, Glöckchen
0070und Tamburin so freigebig ausgestattet, daß jede Möglichkeit
0071des Einschlafens ausgeschlossen ist. Natürlich hielt das Publi-
0072cum sich nicht an die Aufforderung des Schlußverses:
0073„Schleichet sachte, sachte fort!“, sondern applaudirte stand-
0074haft und beherzt zu Ehren Kremser’s und seiner erprobten
0075Balkansänger.


0076Ein ähnliches Resultat ergab das außerordentlich gut
0077besuchte Concert des Schubertbundes: vortreffliche Aus-
0078führung eines nur theilweise glücklichen Programmes. Als
0079strahlendes Juwel überglänzte Schubert’sGesang der
0080Geister“ die übrigen Repertoirestücke. Unter den Novitäten
0081interessirte zumeist R. Heuberger’s Chor (mit Orchester-
0082Begleitung) „Nun grüße dich Gott, Frau Minne“. Das
0083Gedicht, von dem jung gestorbenen Grafen Moriz Strach-
0084witz, erschwert und gefährdet die musikalische Behandlung
0085nicht blos durch manche gequälte, schwer verständlich
0086Wendung, sondern noch mehr durch seine auseinanderfallende
0087Form. Eine Ballade vom sterbenden Ritter Walter wird da [4]
0088künstlich eingeklemmt zwischen zwei höchst persönliche, lyrische
0089Ergüsse des Dichters. Diese drei Theile gehörig zu sondern
0090und sie doch zugleich als einheitliches Ganzes wirken zu
0091lassen, ist keine leichte Aufgabe. Heuberger hat sie geistreich
0092und effectvoll gelöst, indem er die „Ballade“ blos von Baß-
0093stimmen, schlicht erzählend, unisono vortragen läßt, hingegen
0094die beiden sie einschließenden lyrischen Sätze im lebendigsten
0095Aufschwunge des vollen Chores und Orchesters emporhebt.
0096Frau Minne“ klang vortrefflich und hat dem Componisten,
0097der in seiner energischen und umsichtigen Weise selbst diri-
0098girte, lebhaften Beifall eingetragen.


0099Wiens Verständniß für ernste Künstlerschaft hat den
0100Erfolg von vier Concerten der Herren Messchaert und
0101Röntgen neuerdings bewiesen. Der Sänger Messchaert ist
0102in diesen Blättern bereits so vollständig gewürdigt, daß mir
0103kaum mehr als ein Wort der Zustimmung übrig bleibt.
0104Nicht überfeinertes oder klügelndes, sondern starkes, natür-
0105liches Gefühl ist es, was, gebändigt durch Schönheitssinn
0106und sichere Technik, uns aus den Gesängen Messchaert’s
0107unmittelbar anspricht und mit fortzieht. Seiner Natur ent-
0108sprechen am meisten die starken, männlichen Empfindungen,
0109so in Schumann’s Dichterliebe „Ich grolle nicht“. Die
0110zarten, mitunter raffinirt sentimentalen Lieder dieses Cyklus
0111kommen seinem, in der tieferen Lage etwas starren Bariton
0112weniger günstig entgegen. Der Sänger schien mir manchmal
0113zu viel Stimme zu geben. Seine Auffassung hingegen ist
0114durchaus wahr und eindringend. Messchaert hat den Geist
0115eines Mannes, der es nicht darauf anlegt, geistreich zu sein.
0116Befremdet hat mich nur die fast heroische Kraft, mit welcher er die
0117echt Heine’sche Pointe „und wem es just passiret, dem bricht
0118das Herz entzwei“ hervorhob. Dieses Pathos stimmt nicht
0119wohl zu der tändelnden Ironie der früheren Strophen;
0120eher ein leichter Ton verbissenen Humors. Wie richtig hat
0121Messchaert durch starke Accentuirung des letzten Wortes
0122ein anderes Gedicht interpretirt: „Dein Gefühl enthülle
0123mir, dein wahres!“ in Brahms’ bekanntem Liede. In
0124diesen und vier anderen Gesängen von Brahms (worunter
0125die seelenvolle „Mainacht“) hat Messchaert den Ton des
0126Dichters und des Componisten unvergleichlich getroffen. Den
0127Begleiter Messchaert’s, Herrn Julius Röntgen, darf
0128man einen ebenbürtigen großen Künstler nennen. Man
0129braucht allerdings ein Weilchen, um sich an die Aeußerlich-
0130keiten dieses Pianisten zu gewöhnen: er ist ganz Hingebung,
0131ganz Gefühl und begleitet jedes Motiv, ja die einzelne 
0132bedeutungsvolle Note mit heftigen Bewegungen des ganzen
0133Körpers und wechselndem Mienenspiel. Aber man fühlt
0134sofort, daß an diesem theilnehmenden Beiwerk keine Spur
0135von Affection, Alles vielmehr ein leidenschaftliches Miterleben
0136ist. Die Beethoven’sche C-moll-Sonate, op. 111, habe ich nie
0137zuvor mit so überlegener, freier Technik und so klarem Aus-
0138einandersetzen des verschlungenen rhythmischen und harmonischen
0139Gewebes spielen gehört, dabei mit so inniger persönlicher
0140Hingebung. Nach der titanischen Gewalt des ersten Satzes
0141dieses verklärte Adagio-Thema; die Variationen in Einem
0142Strom sich ergießend bis zu dem Schlusse, der in Triller-
0143ketten (auch über und unter dem Thema) sich nicht ersättigen
0144kann! Da verging Einem das Lächeln über den nervös
0145beweglichen kleinen Herrn mit dem glattrasirten, brillen-
0146bewehrten Schulmeistergesicht. Athemlos lauschte Alles bis
0147zur letzten Note: dann brach sturmesgleich der Beifall los,
0148nicht enden wollend.


0149Das letzte Philharmonische Concert be-
0150scheerte uns als Novität ein symphonisches Zwischenspiel aus
0151der Oper „Malawika“ von Felix Weingartner. Das
0152vom Componisten bearbeitete gleichnamige Drama des großen
0153indischen Dichters Kalidasa behandelt die sehr verwickelte
0154Familiengeschichte des Königs Aquimitra zu Vidisa im
0155zweiten Jahrhundert vor Christus. Die Autorschaft Kalidasa’s,
0156des Dichters der ungleich bedeutenderen „Sakuntala“, wird
0157bekanntlich von Autoritäten bestritten. Aus einem anderen
0158Gedankengange dürfte vielleicht in zwanzig Jahren die Autor-
0159schaft Weingartner’s an dem „Malawika“-Zwischenspiel be-
0160zweifelt werden; denn es ist so ziemlich dieselbe Musik, die
0161heute alle jungen Wagner-Capellmeister schreiben. Gleich
0162Weingartner sind sie alle virtuose Dirigenten, alle im Besitze
0163einer raffinirten Orchestertechnik und alle recht arm
0164an eigenen musikalischen Gedanken. Aus solchen In-
0165gredienzien läßt sich trefflich „ein System bereiten“,
0166und einige Opern noch dazu. Wagner’sche Redensarten,
0167geschickt verbunden und vor eine Wandeldecoration von
0168chromatischen Gängen und enharmonischen Verwechslungen
0169gestellt, dazu zwei Harfen, eine Baßclarinette, tremolirende
0170getheilte Violinen, Schlaginstrumente u. s. w. In diesem
0171Schweben und Wogen, Schwirren und Toben vermag ein
0172gläubiger Sinn alles Erdenkliche zu erblicken, nur nicht ein
0173plastisch vortretendes Thema, eine sangbare Melodie, eine
0174künstlerische Form. Mehr als diese „Malawika“ haben uns
0175einige literarische Publicationen des Herrn Weingartner 
0176interessirt. Es ist charakteristisch, daß unsere jungen Hof-
0177capellmeister sich gern auch als schneidige Schriftsteller hervor-
0178thun und mit einer meist aus Schopenhauer flüchtig zu-
0179sammengerafften Bildung Philosophie dociren. „So wie weitere
0180philosophische Systeme nur auf Schopenhauer basiren können,“
0181schreibt Herr Weingartner, „so können auch weitere künst-
0182lerische Bestrebungen, soweit sie das musikalische Drama be-
0183treffen, nur von Richard Wagner ausgehen.“ Weingartner’s
0184Schrift „Vom Dirigiren“ enthält, weil seinem eigensten
0185praktischen Beruf entnommen, ganz vortreffliche Bemerkungen,
0186wenngleich darin weniger vom Dirigiren, als von (und
0187gegen) Dirigenten gesprochen wird. Eine zweite größere
0188Abhandlung Weingartner’s heißt „Die Lehre von der
0189Wiedergeburt
und das musikalische Drama“. Indem
0190sie ein gewaltiges Schopenhauer-Wagner’sches Feuerwerk von
0191Erlösung, Verneinung des Willens, Brahma und Nirwana
0192abbrennt, beleuchtet sie damit den eigentlichen Zweck und
0193Plan des Verfassers: die Verkündigung seines großen
0194Mysteriums „Die Erlösung“. Dasselbe wird aus drei
0195Theilen bestehen (Kain, Jesus, Ahasver), von denen die
0196erste und dritte je Einen Abend, die mittlere zwei Abende
0197in Anspruch nimmt. Diese Tetralogie soll nicht an einem
0198der bestehenden Theater aufgeführt werden, sondern „in
0199einem besonders dazu eingerichteten Hause, mit der Auswahl
0200der geeignetsten Kräfte und den nothwendigen scenischen
0201Vorbereitungen in dem Sinne, wie Wagner seine Bühnen-
0202festspiele geplant hat“. Die Wagnerianer beherrscht ein
0203merkwürdiger Nachahmungstrieb, nicht blos im rein
0204Musikalischen, sondern auch in Bezug auf exotische
0205Theatergründungen. Für ihre übermenschlichen Ideen sind
0206alle unsere Opernhäuser zu klein, unsere Bühnentechnik zu
0207armselig, unser Publicum zu einfältig. Fühlen sie wirklich
0208nicht, welche Selbstüberhebung darin liegt, daß sie dabei sich
0209auf Wagner’s Vorgang berufen? Wagner hatte für die
0210so mißachteten Opernhäuser sechs große Werke geschaffen
0211(Rienzi, Holländer, Tannhäuser, Lohengrin, Tristan, Meister-
0212singer) und mit ihnen die musikalische Welt erobert, bevor
0213er daran ging, für eine Schöpfung von ganz ungewöhn-
0214lichem Inhalt und Umfang ein eigenes Festspielhaus zu er-
0215richten. Er durfte es wagen, denn er, der Dreiundsechzig-
0216jährige, hatte Schritt für Schritt sich das Vertrauen und
0217die Zuneigung der Nation erworben. Aber was hat Herr
0218Weingartner geleistet, um für seine noch ungeborene Tetralogie
0219ebenfalls ein eigenes Theater zu beanspruchen? Nichts, als [5]
0220eine Oper „Genesius“, welche in Berlin ein solches Ent-
0221setzen hervorrief, daß der Componist sie nach der zweiten
0222Aufführung zurückzog, natürlich weil das Publicum sie nicht
0223versteht. „Genesius“, so hieß es in dem Berliner Manifest
0224Weingartner’s, „wird dem Hörer nicht auf der flachen Hand
0225geboten, er stellt höhere geistige Ansprüche an das Publicum.
0226Wer wollte es auch dem nervös gemachten Großstädter ver-
0227übeln, wenn er im Kunsttempel nichts weiter will, als sich
0228amüsiren, Witze hören, Witze machen u. s. w.“ Aber Wein-
0229gartner steht mit seiner Erwartung, daß man ihm ein
0230zweites Bayreuth schaffe, nicht mehr allein. Herr v. Gold-
0231schmidt
in Wien hat für seine Riesenoper „Gaea“ ähn-
0232liche Absichten und unstreitig ähnliche Rechtsansprüche: denn
0233auch ihm ist eine Oper „Helianth“ in Leipzig durchgefallen.
0234Mit gleichen Sonderbunds-Ideen trägt sich, dem Vernehmen nach,
0235Herr August Bungert für sein Musikdrama „Nausikaa“.
0236Andere jugendliche Titanen werden nicht zurückbleiben wollen,
0237und bald sehen wir lauter specielle Opernbühnen für Opern-
0238Specialisten sich erheben — musikalische Chambres séparées
0239für jeden einzelnen Componisten und für jedes einzelne
0240Opernungeheuer. Charakteristisch ist nebenbei, daß diese sich
0241eminent deutsch und modern nennenden Tondichter ihre
0242Opernstoffe aus den ältesten Zeiten und den entlegensten
0243Völkern nehmen: Genesius, Malawika, Urwasi, Helianth,
0244Gaea, Nausikaa, u. s. w. Gewiß hegen Weingartner 
0245und seine übrigen schon durchgefallenen oder noch nicht
0246aufgeführten Collegen die ehrliche Ueberzeugung, daß der
0247Kunst nur durch colossale Dimensionen und Separat-
0248Theater gedient sein kann, und daß in allergrößtem Format
0249sie auch Allergrößtes leisten werden. Dagegen möchten wir
0250nur schüchtern den Zweifel äußern, ob Jemand, dessen
0251Ideenvorrath nicht für Einen Abend ausgereicht hat, sich in
0252vier aufeinanderfolgenden Abenden wirklich als Krösus 
0253legitimiren werde. Noch immer gilt der Ausspruch
0254Diderot’s: „Quand on désespère de faire une chose
0255belle, naturelle et simple, on en tente une bizarre.“


0256Der Laibacher Musikverein „Glasbena Matica“ hat die
0257Wiener mit Dvořak’s Ballade „Die Geisterbraut“ be-
0258kannt gemacht. Als „the spectre’s bride“ erschien sie zuerst
0259in englischer Sprache am Musikfest zu Birmingham (1885),
0260sodann böhmisch in Prag (als „Hochzeitshemd“), jetzt endlich
0261bekamen wir sie in Wien in slovenischer Sprache zu
0262hören. Die Gesellschaft der Musikfreunde wird hoffentlich 
0263nicht zögern, dieses uns seit zehn Jahren vorenthaltene Werk
0264auch mit deutschem Texte aufzuführen. Indem wir bis
0265dahin eine eingehende Würdigung der „Geisterbraut“ uns
0266aufsparen, beschränken wir uns vorläufig auf einige flüchtige
0267Andeutungen. Dvořak’s Ballade steckt voll Talent und naiver
0268Empfindung; sie ist lieblich in den rein lyrischen Partien,
0269charakteristisch und effectvoll in den malenden. Der specifische
0270Musiker in Dvořak, den es nach Ausbreitung und Ver-
0271tiefung verlangt, übt darin bewußte Oberherrschaft über den
0272Dramatiker. Die ganze Erzählung, die wir uns in Einem
0273Zuge vorüberjagend denken — sie stimmt bis auf den guten
0274Ausgang im Wesentlichen mit Bürger’s Leonore überein —
0275theilt Dvořak in sieben gesonderte Abschnitte. Mit Vorliebe
0276verweilt er bei den sentimentalen Gesängen und leiht sogar
0277dem todten Bräutigam recht menschlich liebenswürdige Can-
0278tilenen, um die schauerlich gespenstischen Eindrücke nicht allzusehr
0279zu häufen. Die Zuhörer, die sich nicht gerne anhaltendem
0280Grausen und Gespensterspuk hingeben, sind ihm dafür dank-
0281bar; ja, für umfangreiche Form dürfte diese Erzählung
0282nur mit Hilfe solcher lyrischer Ruhepunkte und mit einigem
0283Verzicht auf streng einheitlichen Charakter musikalisch möglich
0284sein. Die von Dvořak persönlich dirigirte Aufführung gab
0285vor Allem der Sängerin Fräulein Fanny Verhunc Ge-
0286legenheit, sich auszuzeichnen. Noch Schülerin des Wiener
0287Conservatoriums, soll sie bereits für Berlin engagirt sein
0288und dürfte eine schöne Zukunft haben. Auch der stimm-
0289kräftige Tenorist des Böhmischen National-Theaters, Herr
0290Lašek, und der Bassist Herr Kliment fanden
0291lebhaften Beifall. Das Concert endete mit einer lang
0292andauernden begeisterten Ovation des ganzen Publicums
0293für Dvořak. Einen nicht geringeren, viel intimeren
0294Genuß verdanken wir Dvořak’s seit fünfzehn Jahren
0295hier nicht wieder gehörtem originellen Streichsextett 
0296op. 48, mit welchem die letzte Production des „Böhmischen
0297Quartetts“ begann. Von einer großen, sehr erfolgreichen
0298Kunstreise in Italien und Frankreich eben zurückgekehrt,
0299konnten die trefflichen Quartettspieler sich nicht schöner von
0300Wien verabschieden, als mit Dvořak’s Sextett und (unter
0301Mitwirkung von Herrn Richard Epstein) mit dem herrlichen
0302Clavierquartett in G-moll von Brahms. In diesem har-
0303monischen letzten Ausklang des musikalischen Winters wehte
0304bereits ein Hauch von beseligender Osterstimmung. Vom
0305Eise befreit sind Strom und Bäche ...