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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11427. Wien, Dienstag, den 16. Juni 1896

[1]

Billroth in seinen Briefen. II.


0002Ed. H.*) Es ist das denkbar reizendste Portal, das uns
0004zu der langen Reihe der Billroth-Briefe führt: ein vierzehn
0005Druckseiten füllendes Schreiben, worin der zwanzigjährige
0006Student seiner Mutter, der Frau Pastor Billroth in
0007Greifswalde, das Erscheinen der Jenny Lind in
0008Göttingen schildert. Die berühmte Sängerin hatte sich auf
0009Ersuchen des ihr befreundeten Musikdirectors Wehner gern
0010bereit erklärt, in Göttingen ein Concert zu geben. Die
0011stille Universitätsstadt, welcher musikalische Genüsse spärlich
0012zuflossen, gerieth außer sich in glücklicher Erwartung. Vor
0013Allem die Studenten, und unter diesen zumeist der junge
0014Mediciner Billroth. „Fordere nicht von mir, liebe Mama,“
0015so schreibt er im Februar 1850, „dir unsere Freude, unsere
0016Wonne und unseren Enthusiasmus zu beschreiben. Das ist
0017unmöglich. Die Gefühle der Begeisterung für etwas Großes
0018und Erhabenes lassen sich nicht schildern, sie lassen sich nur
0019fühlen! Dennoch will ich es versuchen, dir eine Schilde-
0020rung von den Tagen, die wir mit ihr, mit der einzigen
0021Jenny Lind, durchgelebt haben, zu geben.“ Keineswegs auf
0022die Rolle des passiven Zuhörers beschränkt, bethätigte sich
0023Billroth als unermüdlicher Concert-Arrangeur und Mit-
0024wirkender, übernahm zuerst die Vormerkung der Billette,
0025dann die Kasse. „Nie habe ich bisher so im Gelde herum-
0026gewühlt, wie diesen Morgen!“ Mit drei anderen Studenten
0027eröffnete Billroth das Concert mit der Ouvertüre zu
0028Jessonda“, achthändig auf zwei Clavieren. Wie herz-
0029lich ihnen Jenny Lind dafür dankte! „Sie impo-
0030nirte uns aber durch ihre Worte, ihre Grazie und
0031Anmuth so, daß wir ganz erstarrt dastanden und
0032Keiner von uns ein Wort herausbrachte, so daß
0033wir uns schrecklich lächerlich nachher vorkamen.“ Nun tritt sie
0034auf. Billroth beschreibt aufs genaueste ihren Anzug, ihr
0035Benehmen. Und erst ihr Gesang! „In dem einen Augen-
0036blicke rollen Einem die Thränen von den Backen, und im
0037andern möchte man laut aufschreien vor Vergnügen! Des
0038Eindrucks, welchen ich von dem Concert nach Hause nahm,
0039bin ich mir nicht klar bewußt; ich träumte wachend und 
0040irrte noch in dem Zaubergarten der himmlischen Töne um-
0041her. Da es uns Allen, die wir sie so nahe bei uns gesehen
0042hatten, unmöglich war, in den nächsten Stunden zu schlafen,
0043so setzten wir uns bei einem Bekannten stumm und schwei-
0044gend zusammen. Niemand rauchte oder aß und trank. Jeder
0045war in sich versunken. Darin aber stimmten wir Alle über-
0046ein, daß etwas Schöneres von Musik nicht denkbar oder für
0047den Menschen wenigstens nicht ertragbar sein könnte.“ Bill-
0048roth sollte der Angebeteten noch näher treten; er darf mit
0049mehreren Collegen sie in ihrem Absteigequartier (bei Wehner)
0050besuchen, wo sie ihnen Lieder vorsingt, mit ihnen Thee
0051trinkt und plaudert. „Als wir uns um 10 Uhr entfernten
0052und sie uns nochmals für die Mühe dankte, die wir für
0053sie gehabt hatten, und uns dann die Hand reichte, hätte ich
0054vor Verrücktheit das Wahnsinnigste anfangen können. So
0055taumelte ich denn nach Hause, immer noch ihre Lieder vor
0056mir hersummend, mehr träumend als wachend!“ Aber es
0057kam immer noch schöner. Jenny Lind, die leidenschaftlich
0058gern tanzte, jedoch selten Gelegenheit dazu fand, arrangirt
0059eine kleine Tanzunterhaltung, zu der natürlich auch Billroth 
0060geladen wird.


0061Abwechselnd tanzt er mit der Göttlichen und spielt er
0062zum Tanz. Bei der Damenwahl erhielt er die erste Cotillon-
0063schleife aus ihrer Hand. Ein Fackelzug von 400 Fackeln
0064mit allem studentischen Gepränge zieht an ihren Fenstern
0065vorüber. Als sie am andern Morgen abreist, geben ihr die
0066Studenten feierliches Geleite. In 20 Extraposten folgen sie
0067Jenny’s Wagen, acht schmucke Bursche in Studententracht
0068als Vorreiter. In der Station Northeim heißt es Abschied
0069nehmen. Da wird noch Champagner credenzt und ein Quartett
0070gesungen; die Studenten fallen im Chor ein, dazu die Lind 
0071mit hohen Trillern. Dann steigt sie auf einen Stuhl und
0072spricht einige rührende Abschiedsworte an die Studenten.


0073„O, könnte ich dir, liebe Mama, sagen,“ so schließt
0074Billroth den langen Brief, „wie erhaben man sich in dieser
0075allgemeinen Begeisterung fühlte! Worte sind zu schwach und
0076zu todt, um dies lebendige Gefühl auszudrücken. Ich vermag
0077nichts mehr zu sagen, denn sie ist nicht zu beschreiben. Nur
0078singen kann ich mit ihrem Lied: Wie der Gesang zum Herzen
0079drang, vergess’ ich nicht mein Lebelang!“ Ich glaube, ohne
0080diesen köstlichen Brief ist der ganze Billroth nicht vollständig
0081zu verstehen. Die naive, herzenswarme Kunstliebe, der un-
0082verbrauchte Schatz von Jugendbegeisterung und Glücksgefühl
0083kann sich nicht wahrer, nicht schöner aussprechen. Der ganze 
0084Aufsatz ist offenbar in Einem Zug fortwährender Wärme
0085geschrieben und doch zugleich mit der ordnenden Anmuth
0086des guten Erzählers.


0087In diesem Briefe ist der junge Billroth ganz Musiker
0088und Kunstenthusiast. Nun sehe man gleich das nächstfolgende
0089Schreiben, welches ein Jahr später aus Berlin an Professor
0090Baum in Göttingen gerichtet ist. Da spricht wiederum der
0091wissensdurstige, eifrigste Mediciner, und nur dieser. Also
0092dicht neben einander beide Hälften von Billroth’s Janus-
0093kopf. Die Musik und die medicinische Wissenschaft, das
0094waren die beiden Flammen, welche Billroth’s Dasein durch-
0095glühten und erleuchteten. Wie schön wußte er beide in sich
0096zu vereinen, wie weise sie auseinanderzuhalten! Ein Abbild
0097von Billroth’s Leben, wechseln in unserer Sammlung medi-
0098cinische und musikalische Briefe; nur ganz ausnahmsweise
0099fällt ein versprengter Funke aus dem einen Gebiete in das
0100andere. Sehr natürlich, denn nur ganz ausnahmsweise fand
0101er musikkundige Aerzte und medicinisch gebildete Tonkünstler
0102— Menschen, die, wie er selbst, zwei so verschiedene Geistes-
0103thätigkeiten mit gleicher Energie der Einsicht und der Liebe
0104umfaßten. Die musikalischen Leser blättern gewiß zuerst nach
0105den Briefen an Brahms. Sie dürften ihre Erwartungen
0106nicht ganz erfüllt sehen. Nur zwei von diesen Briefen behandeln
0107eingehend Musikalisches: der eine über Schumann’s Schriften,
0108der andere über das Vorherrschen von Dur oder Moll in Volks-
0109liedern. Sonst fast nur Einladungen für Mittag oder Abend,
0110kurze Verabredungen zu gemeinsamem Theaterbesuch, trocken
0111skizzirte Reiserouten nach der Schweiz oder Italien u. dgl.
0112Bei diesem Anlaß gestatte man mir, eine bescheidene Frage
0113einzuschieben. Sollte für eine dritte, abermals vermehrte
0114Auflage, die kaum lange ausbleiben wird, sich nicht empfehlen,
0115eine Anzahl kürzerer, unwesentlicher Billette wegzulassen,
0116die thatsächlich nur für den Empfänger Interesse gehabt
0117haben? Es ließen sich viele dieser Art namhaft machen.
0118Selbst von den zweiunddreißig Briefen an den Architekten
0119Gruber dürfte ohne Nachtheil die Hälfte wegfallen, da sie
0120alle rein fachmännisch denselben Gegenstand behandeln; den
0121Bau einer Klinik, die heute noch nicht fertig ist. Jede Brief-
0122sammlung verliert dadurch, daß der Leser viele Nummern
0123überschlagen darf oder an ihnen ermüden muß. Die kürzlich
0124erschienene, gewiß werthvolle Sammlung von Briefen Hanns
0125v. Bülow’s leidet in noch höherem Grade an dem gleichen
0126Mißstand. Als ein Muster erscheint hingegen die von Ed.
0127Zeller veröffentlichte Auswahl von Briefen Fr. D. Strauß’; [2]
0128es ist eben eine Auswahl, in welcher wir kein einziges
0129Stück entbehren möchten.


0130Warum gerade an Brahms so wenige musikalisch
0131interessante Briefe in der Sammlung erscheinen, während
0132er deren bekanntlich so viele besitzt? Daran ist nur Brahms’
0133Bescheidenheit schuld, jene echte Bescheidenheit, welche von
0134der bescheiden thuenden Eitelkeit so vieler Künstler wesentlich
0135absticht. In den Briefen an Brahms’ ließ Billroth seinem
0136Enthusiasmus über dessen Compositionen gern freien Lauf.
0137Es widerstrebte Brahms im Innersten, solche Verherrlichung
0138in die Oeffentlichkeit zu schicken; gesprochenes oder gedrucktes
0139Lob weckt überhaupt kein Echo in seiner Seele, noch weniger
0140mag er selbst den Rufer machen. Man muß das anerkennen
0141und sehr bedauern. Was aber Brahms’ Bescheidenheit zu
0142hindern nicht vermocht hat, ist die Veröffentlichung von
0143Briefen, in denen Billroth gegen andere Personen sein
0144Brahms-Herz ausschüttet. So in den zahlreichen Zuschriften
0145an Professor Wilhelm Lübke, welche, ein unverhoffter, neu
0146hinzugekommener Schmuck der zweiten Auflage, überwiegend
0147musikalischen Inhalts sind. Bevor Lübke als Professor der
0148Kunstgeschichte nach Stuttgart kam, docirte er einige Jahre
0149gleichzeitig mit Billroth in Zürich. Mit diesem theilte der
0150geistreiche Schriftsteller und liebenswürdige Gesellschafter die
0151Liebe zur Musik, und so kam es, daß Billroth seine musika-
0152lischen Erlebnisse aus Zürich, später aus Wien, größtentheils an
0153Lübke mittheilt. Unter Anderm zwei Aussprüche von Brahms,
0154die für diesen als Künstler und als Menschen höchst charakteri-
0155stisch sind. Nach einer Aufführung von „Figaro’s Hochzeit“
0156sagt Brahms: „Jede Nummer in Mozart’s „Figaro“ ist
0157für mich ein Wunder; es ist mir absolut unverständlich,
0158wie Jemand etwas so absolut Vollkommenes schaffen kann;
0159nie ist wieder so etwas gemacht worden, auch nicht von
0160Beethoven!“ Mit solcher Verehrung für unsere Clas-
0161siker verbindet Brahms die freudigste Anerkennung und För-
0162derung jüngerer Talente; wohlgemerkt, wenn sie wirklich
0163Talent haben und recht viel, wie z. B. Dvořak. „Wenn
0164N. N.,“ erzählt Billroth, „von Dvořak etwas mitleidig
0165spricht, sagt Brahms: ich verstehe Sie nicht; ich möchte vor
0166Neid aus der Haut fahren über das, was dem Menschen
0167so ganz nebenbei einfällt.“ Die persönliche Bekanntschaft
0168Brahms’ macht Billroth im Frühjahre 1866 in Zürich.
0169Da spielt Brahms mit Th. Kirchner auf zwei Clavieren
0170symphonische Dichtungen von Liszt. „Horrible Musik,“
0171wettert Billroth, „Dante, Mazeppa, Prometheus, lauter
0172Höllenmusik, nicht mehr Musik zu nennen; dazwischen wieder 
0173höchst raffinirte harmonische, pseudomelodische Sätze.
0174Beim Dante kamen wir bis zum Purgatorium;
0175ich legte dann vom medicinischen Standpunkte ein Veto
0176ein, und wir purgirten uns mit Brahms’ neuem Sextett,
0177das eben herausgekommen ist. B. und K. spielten es vier-
0178händig. Ich weiß noch nicht, was ich darüber denken soll;
0179doch kommt es mir vor, als wenn die melodische Kraft
0180geringer oder von der Keuschheitskunstgedanken-Blässe an-
0181gekränkelt wird; die thematische Entwicklung dagegen stei-
0182gert sich zu Bach’scher Höhe.“ Was uns an Billroth’s
0183musikalischen Aussprüchen sofort gefangen nimmt, ist deren
0184köstliche Frische, Unbefangenheit und ungenirte Aufrichtig-
0185keit. Ohne sein Urtheil Jemandem aufdrängen zu wollen,
0186hat Billroth im brieflichen wie im mündlichen Verkehre
0187seine Eindrücke immer voll und unabgeschwächt zum leben-
0188digsten Ausdrucke gebracht. Dabei sind freilich Liszt und
0189Wagner nicht am besten weggekommen.


0190Aus München schreibt er (1869) an Lübke über eine
0191Aufführung des „Rheingold“: „Das Gedicht kennen Sie:
0192die Charakterlosigkeit der sogenannten Götter, die Unmög-
0193lichkeit der deutsch sein sollenden Sprache, die furchtbare
0194Geschmacklosigkeit der Göttercostüme — alles das ist nun
0195leider durch die übermäßig langweilige Musik nicht zu retten,
0196und so fiel denn das Ganze glänzend durch. Nur Einmal
0197(als Alberich überlistet und gefangen wird) glaube ich die
0198Empfindung eines fünfzehn volle Minuten zusammenhängen-
0199den Musikstückes gehabt zu haben. ...“ Im Jahre 1872 
0200ersucht er Lübke, gelegentlich einen tüchtigen Hieb auf die
0201Wiener Deutsche Zeitung zu führen, zu deren Gründung
0202Billroth 1000 fl. beigesteuert und in deren „politischen
0203Beirath“ man ihn gewählt hatte. „Vorgestern passirte etwas,
0204was dem Fasse den Boden ausgeschlagen hat. Der Redacteur
0205des Feuilletons läßt sich von der hiesigen Wagner-Clique
0206veranlassen, einen Artikel von Cornelius über Wagner auf-
0207zunehmen, und setzt darunter: „Da die Sache Wagner’s 
0208nicht mehr von der deutschen Sache zu trennen ist. Die
0209Redaction.“ Von meiner Wuth über diese Anmerkung
0210können Sie sich gar keine Vorstellung machen. Oeffentlich
0211konnte ich nichts machen, da ich ja selbst Unternehmer der
0212Zeitung hin; doch der Redaction habe ich einen Brief ge-
0213schrieben, der nicht von schlechten Eltern war. Dem Präsi-
0214denten des politischen Beirathes habe ich heute erklärt, daß
0215ich mich somit als ausgetreten betrachte, da ich nicht mehr
0216zu einer Redaction stehen kann, welche die Perspective er-
0217öffnet, daß sie nächstens etwa erklärt, die Sache der Herren 
0218Liszt (bei dessen Christus-Oratorium Alles aufhört) oder
0219Mosenthal oder Makart etc. nicht mehr von der deut-
0220schen Sache trennen zu können. Man lasse die Musik ganz
0221aus dem Spiele. „Wagner’s Götterdämmerung!“ Und die
0222soll von der deutschen Sache nicht zu trennen sein? Ei, da
0223schlag’ doch der Deibel drein!“


0224Billroth läßt sich auch von den stolzesten Namen nicht
0225imponiren, wenn ein Werk ihm geradezu widerstrebt. Nach-
0226dem er Beethoven’s große D-dur-Messe zum drittenmal
0227gehört, gesteht er: „Für mich ist diese Musik viel todter,
0228als das Schwächste von Bach oder Händel. Nicht, daß es
0229besonders obstrus wäre! Nein, langweilig; unbedeutend in
0230der Erfindung ist es; gequälte, ausgetiftelte Musik. Beet-
0231hoven kann nicht für Chor schreiben, es klingt eben Alles
0232nicht. Wenn die Menschen ehrlich sein wollten, so würden
0233die meisten reden wie ich. Für den Musiker von Fach ist
0234dies wie Michelangelo’s Sixtinische Capelle für den Maler.“
0235Ein andermal nennt er Beethoven’s D-Messe „ein groß-
0236artiges Werk, doch ebensowenig rathsam nachzuahmen, wie
0237etwa Michelangelo. Es gibt in der Messe schon recht be-
0238denkliche Widerhaken, an denen Liszt und Wagner hängen
0239geblieben sind und noch zappeln.“ Am wärmsten wird Bill-
0240roth, wenn er von Brahms spricht. „Sein Triumph-
0241lied
ist hier mit Orgel und colossalem Chor zu
0242einer wunderbaren Wirkung gekommen; es gehören
0243große Massen dazu, es ist monumentale Musik. Die
0244Wirkung fortgesetzte musikalische Gänsehaut jeglicher an-
0245genehmer Art, dabei Alles so einfach übersichtlich, im groß-
0246artigsten al fresco-Styl. Es unterliegt keinem Zweifel, daß
0247seit Händel nichts auch nur annähernd so Bedeutendes ge-
0248schaffen ist.“ Einen unbeschreiblich tiefen Eindruck nimmt
0249Billroth aus Schumann’s Manfred-Musik mit sich fort.
0250Manfred! Ach, daß du ihn nicht hörtest und sahst! Was
0251nützt da alle Reflexion, man kommt ja gar nicht dazu;
0252Vollblutpoesie und Vollblutmusik! Man ist sinnlich betäubt,
0253man träumt, man schwimmt in lauer Luft, ohne sich zu
0254rühren. Die Scene mit dem Geiste der Astarte treibt mir
0255jedesmal das Wasser in die Augen; ja jetzt, wo ich nur
0256daran denke, schauert es mich durch und durch. Die
0257Musik! „Verzeihst du mir? Manfred, lebe wohl!“ Ich
0258sage dir, es ist um toll zu werden. Ist es ein Glück, so
0259etwas zu empfinden, oder ein Unglück?“


0260Im ersten Winter seines Wiener Aufenthaltes bekommt
0261Billroth eine große Menge vorzüglicher Concerte zu hören;
0262er zählte deren neunzehn in zwei Monaten. „Was sagen Sie [3]
0263dazu!“ apostrophirt er Lübke. „Ich habe mir vorgenommen,
0264diesen Becher, selbst mit Wermuth versetzt, bis auf den
0265Grund zu leeren in diesem Winter. Wenn jedes Jahr so
0266viel Interessantes kommt, was mir neu ist, so kann man
0267es schon aushalten. Wenn Brahms und Joachim zu-
0268sammen Beethoven, Bach, Schubert spielen, so werden nicht
0269die Noten à la Bülow photographirt, sondern die Con-
0270ceptionen erscheinen wie lebende Tonbilder vor dem Ohr;
0271sie erscheinen und verschwinden wieder. Mir war es immer
0272sonderbar, daß man dazu klatschen sollte.“ So stark der
0273deutsche Charakter auch in Billroth’s Musikgeschmack vor-
0274herrscht, er macht ihn nicht unempfänglich oder ungerecht
0275gegen Fremdes. So schreibt er (1875) über Verdi’s 
0276Requiem. „Er ist immerhin ein sehr eigenartiges
0277starkes Talent. Wenn man sagt, das Requiem sei opernhaft,
0278so trifft das nicht ganz zu; es ist eben modern empfundene
0279italienische Musik und ist eben Verdi’sche Musik. Die
0280Aufführung war von blendender Vollendung; man genoß
0281die rein objective Musik, die dem inneren und äußeren Ohr
0282zugleich klingende Partitur. Es sind nicht mehr Verdi’sche
0283Trivialitäten darin, wie Schubert’sche Trivialitäten in
0284einer Schubert’schen Messe; nur daß wir gegen letztere nach-
0285sichtiger sind, weil sie uns selbst angehören. Einzelne Num-
0286mern sind von köstlicher, reiner Schönheit, andere von vor-
0287wiegend äußerlicher Wirkung. Wenn man kein versimpelter
0288Musikgelehrter ist, wird man sich der Wirkung nicht ent-
0289ziehen können, zumal beim ersten Hören.“ So viel und
0290liebevoll auch Billroth über Musik nachgedacht hat, er läßt
0291sich nicht durch kritisches Grübeln den unmittelbaren Genuß
0292eines Kunstwerkes verderben. Es zeigt sich darin seine echte,
0293naive Künstlernatur. „Betrachte ich,“ schreibt er (1886) von
0294Brahms, „welchen Werth die genaueste Analyse für unser
0295glückliches Kunstempfinden haben könnte, so möchte ich den-
0296selben nicht gar zu hoch anschlagen. Die Freude an
0297der Erkenntniß aller Vorgänge in der Natur und in
0298uns selbst (die wir doch auch nur ein Stück der
0299Natur sind) ist wol auch etwas Schönes; doch die
0300Anschauung des Schönen mit meiner Phantasie macht
0301mich glücklicher. Vieles Wissen und Können befriedigt unsere
0302Eitelkeit, so daß wir uns dann wol großartig auf diesem
0303kleinen Planeten vorkommen; doch sollte ich das Ahnen und
0304Sehnen und Schwärmen darüber missen müssen, ich möchte
0305dann lieber nicht leben!“ Die innige Verschmelzung von
0306Künstler und Gelehrtem in Billroth offenbart sich auch in
0307seiner sehr richtigen Schätzung der Phantasie, als einer 
0308schöpferischen Kraft nicht blos im Künstler, sondern auch im
0309wissenschaftlichen Forscher. Er nennt Jacob Grimm,
0310Alexander v. Humboldt, den Physiologen Johannes
0311Müller, den Physiker Gauß große Gelehrte, nicht nur
0312durch ihre Verstandesmacht und ihr Wissen, sondern durch
0313ihre mächtige Phantasie. „Wenn sich der Forscher nicht vor-
0314stellen kann, was er erforschen will, wenn er nicht eine
0315anfangs vielleicht noch ganz unklare Vorstellung von der
0316Bedeutung dessen hat, was er erforschen will, so bleibt er
0317ein Handlanger der Wissenschaft und wird nie ein Meister.
0318Ich habe noch nie einen großen Forscher kennen gelernt, sei
0319es persönlich, sei es aus seiner Biographie, der nicht im
0320Grunde eine Art von Künstler gewesen wäre, mit reicher
0321Phantasie und kindlichem Sinn.“


0322Die Briefe aus dem letzten Jahrzehnt zeigen ein besonders
0323lebhaftes Interesse Billroth’s an der Gesangskunst. Hervor-
0324gerufen ist es hauptsächlich durch das schöne Talent seiner
0325Tochter Else, mit der er leidenschaftlich gerne studirt und
0326die er zur Weiterbildung an Julius Stockhausen in Frank-
0327furt empfiehlt. Dahin berichtet er ihr auch aus Wien vor-
0328zugsweise von musikalischen Erlebnissen. Ganz entzückt schreibt
0329er über die Patti, sehr scharf über Mascagni’s 
0330Rantzau“. Ein ausführlicher, gedankenreicher Brief an Else 
0331behandelt das Verhältniß zwischen dem Worte und der
0332Musik im Gesange. „Das moderne Publicum will beim
0333Gesang auch das Wort und den Wortgedanken, umsomehr,
0334je weniger musikalisch das Publicum ist. In der zunehmenden
0335Größe des unmusikalischen Publicums liegt das Geheimniß
0336des Wagnerianismus, des Verschwindens der Chormusik,
0337der Arien, Duette, des Ensemble-Gesanges etc. Der Lieder-
0338sänger hat Wortgedanken, in Worte gefaßte Stimmungen,
0339Erzählungen für ein Publicum zum Ausdruck zu bringen
0340und wird dabei durch Töne unterstützt. Diese Töne sind dem
0341Gedicht entsprechend rhythmisch und melodisch geordnet; in einem
0342guten Liede haben diese Töne eine Form für sich, welche
0343neben und über dem Texte steht. Für den Musikalischen ist
0344die Tonform die Hauptsache, die Worte geben nur Stim-
0345mung im Allgemeinen. Für den weniger Musikalischen und
0346Unmusikalischen ist der Text die Hauptsache; er will ihn
0347vorerzählt haben mit allerlei mimischen Bewegungen; der
0348Stimmton ist ihm nicht mehr, als eine die Worte erläuternde
0349Klangmimik. Moderne, dramatische, wenig musikalische
0350Sänger gewöhnen sich auf den großen Bühnen eine so
0351groteske körperliche und Klangmimik an, daß sie für den
0352Concertsaal nur Caricaturen bieten, zumal wenn sie ein-
0353fache Lieder singen. In dem dramatischen Gesange ist ihr
0354geringer Sinn für einfache musikalische Schönheit auf-
0355gegangen. Selbst „Erlkönig“, von N. N. gesungen, ist mir
0356fürchterlich; sie vergessen ganz, daß eine Ballade nicht ein
0357darzustellender dramatischer Vorgang ist, sondern nur eine
0358theilweise dramatisirte Erzählung. Es gehört mehr In-
0359telligenz und Bildung dazu, um diese Unterscheidung zur
0360Geltung zu bringen. Der Sängerkünstler muß eine Empfin-
0361dung für das haben, was man Styl nennt. Jenny
0362Lind
hatte diese Empfindung; sie hatte einen dramatischen,
0363einen Lieder-, einen Oratorien-Styl, ebenso Stockhausen.“
0364Außer diesen begegnen wir in Billroth’s Briefen nur Helene
0365Magnus und Gustav Walter als musterhafte Lieder-
0366sänger gelobt. Ueber den Zustand der Gesangskunst in Wien 
0367und die geringere Empfänglichkeit des Publicums dafür ver-
0368nehmen wir manches Wort der Klage. „Wenn anstands-
0369halber ein oder zwei Oratorien gegeben werden müssen,“
0370schreibt Billroth im Jahre 1888, „so muß man fremde
0371Sänger und Sängerinnen kommen lassen. Das Interesse
0372und das Verständniß für alles Feinere und Edlere in der
0373Gesangskunst ist durch die Wagnerei, wenn auch nicht zerstört,
0374so doch ganz in den Hintergrund gedrängt. Nun blüht die
0375Wagnerei nirgends üppiger als hier und trägt die sonder-
0376barsten Früchte.“ Trotzdem ist er dagegen, daß der berühmte
0377Sänger „N.“ (es ist wol Stockhausen gemeint) sich in Wien 
0378niederlasse; er würde alle Gesanglehrer am Conservatorium
0379und anderen Privat-Musikschulen sofort zu einer mächtigen
0380Coalition bringen. Billroth ergänzt diese Mahnung in einem
0381anderen Briefe durch eine sehr praktische Bemerkung. Er
0382schreibt: „Stockhausen sollte wenigstens jetzt in Frankfurt 
0383definitiv bleiben. So wie das Geheimniß einer großen Praxis
0384des Arztes darin liegt, immer am gleichen Ort zu bleiben und
0385die anderen Aerzte zu überleben, so ist es ähnlich auch mit
0386den Gesanglehrern. Der Künstler muß mit dem Ort ganz
0387verwachsen; das ist auch der einzige Schutz gegen alle Schick-
0388salswendungen im höheren Alter.“


0389In der sehr bereicherten neuen Auflage der Billroth-
0390Briefe glänzen noch zahlreiche treffende Aussprüche über
0391Musik und Musiker, verstreute Perlen, an welchen der Leser
0392sofort erkennt, daß der Meister in der Chirurgie kein bloßer
0393Dilettant in der Musik gewesen. Das bezeugt auch die bei-
0394gebundene rührende Composition Billroth’s „Ich möchte
0395hingeh’n wie das Abendroth“; ein Herwegh’sches Gedicht,
0396das ihn stets mit bedeutungsvoller, gewaltiger Sympathie
0397bewegt hat.

Fußnoten
  • *)Siehe Nr. 11405 der „Neuen Freien Presse“.