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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11442. Wien, Donnerstag, den 2. Juli 1896

[1]

Billroth in seinen Briefen. III.


0002Ed. H.*) Man trennt sich schwer von Billroth. Wie
0004unter Tags mein Blick, bewußt oder unwillkürlich, immer
0005wieder auf sein Bildniß fällt, so zieht es mich auch von
0006neuem zu seinen Briefen. Ja, noch viel wahrer, wärmer,
0007lebendiger als das beste Porträt zeigen diese uns den echten
0008Billroth. Wir schauen da in seine sanften Augen, lauschen
0009seiner wohlklingenden Stimme, hören sein herzliches Lachen,
0010fühlen seine anmuthig ausgreifende Bewegung. Selten hat
0011Jemand sein Ich unmittelbarer, volltönender, rücksichtsloser
0012ausgesprochen als Billroth in seinen Briefen. Und so viele
0013ihrer gedruckt vor uns liegen, es ist kaum die Hälfte von
0014den kennenswerthen. Die allerintimsten, psychologisch er-
0015giebigsten blieben dem Herausgeber unnahbar. Unser erstes
0016Feuilleton hatte sich auf die Briefe an Fachgenossen be-
0017schränkt, das zweite auf Mittheilungen musikalischen Inhalts;
0018damit sollten vorerst, ohne chronologische Ordnung, die
0019beiden vorstechendsten Thätigkeiten Billroth’s, die ärztliche
0020und die musikalische, hervorgehoben sein. Aber wie zahlreich
0021sind jene von Billroth’s Verehrern, die für Medicinisches
0022oder Musikalisches sich nicht sonderlich interessiren! Und
0023die Freunde, nah und fern, welche vor Allem den Menschen 
0024geliebt haben! Ihnen ist noch wichtiger, was Billroth erlebt,
0025als was er geleistet hat, und darum mögen sie vor Allem
0026dem biographischen Faden nachgehen, welcher die chronologische
0027Anordnung der Briefe bloßlegt. Von diesem Standpunkte
0028werfen wir noch einen letzten zusammenfassenden Blick auf
0029die Sammlung.


0030Die Göttinger Studentenzeit (aus der nur ein einziger
0031Brief vorliegt) zusammen mit der sich anschließenden Thätig-
0032keit in Berlin bildet gleichsam die erste Periode. Im Herbst
00331853 läßt sich Billroth als praktischer Arzt in Berlin nieder. 
0034Nach zwei Monaten hat er noch keinen einzigen Patienten!
0035Zum Glück erhält er eine eben erledigte Assistenstelle an
0036der Langenbeck’schen Klinik, dem Ausgangspunkt seines
0037selbstständigen Schaffens und seines jungen Ruhmes. Anfangs
0038bedrückt ihn die Sorge, die alles verschlingende Praxis
0039werde ihn der „reinen, idealen Wissenschaft“ für immer
0040entziehen. „Ich betrachte mich jetzt schon als völlig verloren,“
0041schrieb er an Professor His, „und thue mir selber leid;
0042wenn Sie das für arrogant halten, so bin ich es in hohem
0043Grade.“ Vergebens bewirbt er sich um die Stelle am Kranken-
0044hause in Danzig. Aber schon 1859 grüßt ihn vom Ber-
0045liner Weihnachtsbaum das Ernennungsdecret zum ordentlichen
0046Professor der Chirurgie in Zürich. Voll fröhlicher Zuversicht
0047begibt sich der erst dreißigjährige junge Ehemann an seinen
0048neuen Bestimmungsort. Damit beginnt die zweite, für Bill-
0049roth’s Laufbahn so überaus wichtige Periode: die Thätigkeit
0050in Zürich von 1860 bis 1867. Hier arbeitet er, wie Dr.
0051Fischer erzählt, rastlos mit der Kraft eines Löwen; Alles
0052kochte in ihm bis zum Ueberschäumen. In Erinnerung an
0053diese Zeit schreibt er 25 Jahre später aus Wien an Pro-
0054fessor Wölfler: „Ich muß Sie bitten, sich nur ein Beispiel
0055an mir zu nehmen, wie ich früher war, als ich mich noch
0056jünger und kräftiger fühlte; nicht wie ich jetzt bin. Die
0057Tradition, wie sie jetzt ohne mein Zuthun auf meiner
0058Klinik fortlebt, habe ich schon in Zürich ausgebildet, als ich
0059noch gar keine anderen Interessen als meinen Beruf als
0060Lehrer und wissenschaftlicher Arbeiter hatte. Ich war fast
0061den ganzen Tag auf der Klinik, in meinem Experimentir-
0062Zimmer oder auf der Anatomie. Meine gute Frau denkt
0063nicht gerne an diese Zeit zurück, wo ich nur an meine
0064Kranken, meine Experimental-Thiere, meine histologischen
0065Untersuchungen und Injectionen dachte, und wenn auch zu-
0066weilen leiblich zu Hause, doch mit meinen Gedanken immer
0067wo anders herumschwärmte. Ich habe es auch wol damit
0068übertrieben.“ Anfangs fühlt er sich unzufrieden in Zürich;
0069später hat er sich manchmal dahin zurückgesehnt. So
0070ging es ihm ja auch in Wien. Wir stehen 
0071betroffen vor abfälligen, recht mißmuthigen Aeußerungen
0072über Wien und die Wiener aus Billroth’s erster Zeit
0073daselbst; aber das änderte sich bald. Seinem universellen
0074Geist und kunstbedürftigen Naturell war Wien jedenfalls
0075verwandter als Zürich; dennoch brauchte es auch ziemlich
0076lange, bis er sich bei uns moralisch acclimatisirt hatte. Bill-
0077roth war auch darin Künstlernatur, daß er der Gewalt
0078augenblicklicher Stimmungen unterlag und in raschem
0079Wechsel die Dinge schwarz oder rosenfarb sah. Als er 1864 
0080einen Ruf nach Heidelberg ablehnte, brachte man ihm in
0081Zürich die herzlichsten Ovationen. „Man hat mich hier,“
0082schreibt er an Professor His, „mit Liebenswürdigkeit erdrückt;
0083ich war so angegriffen, daß ich kaum Stimme hatte zur
0084Erwiderungsrede. An dem Fackelzug haben alle Studenten
0085theilgenommen, und ihr Redner sprach warm und zum
0086Herzen.“ Es gefällt ihm nun viel besser in Zürich; sein
0087Lehramt befriedigt, die Gegend entzückt ihn, und in den
0088ersten Hotels kennen ihn „die Wirthe gut, als einen lustigen
0089Herrn, der gerne Abends zumal mit Künstlern ein Glas
0090Sect liebt“. An seinen Basler Freund His schreibt er, es
0091gehe ihm über alles Verdienst gut. „Wenn ich jetzt sterben
0092sollte, so wäre ich einer der glücklichsten Menschen gewesen!
0093Alles schlägt mir gut ein! Es wird mir manchmal
0094bange dabei. Ich habe die fixe Idee, daß ich noch
0095einmal an einen der größten Plätze meiner Wissen-
0096schaft in Wien oder Berlin kommen werde; lächerlich!“
0097Die „lächerliche fixe Idee“ war vielmehr eine richtige
0098Ahnung. Ein Jahr später hatte sie sich erfüllt. Bis dahin
0099lebte Billroth fleißig in seinem von Musik und freundschaft-
0100lichen Beziehungen erhellten Beruf. Er kauft sich einen
0101Pariser Flügel von Herz um 2500 Francs; hat aber eigent-
0102lich nur wenig Genuß davon, denn (so schreibt er an Lübke)
0103„ich spiele für mich nur Sachen, die ich nicht kann und
0104nie lerne, wie meine Frau sehr richtig bemerkt“. Die
0105Nöthigung, dem Krieg von 1866 unthätig zusehen zu müssen,
0106empfindet er schmerzlich; das vermehrt seine mißlaunigen
0107Stimmungen. „Ich fühle mich schon seit längerer Zeit hier [2]
0108unbehaglich, denn ich sehe ein, daß ich hier meinen Wirkungs-
0109kreis nicht vergrößern kann. Ich habe hier Alles erreicht, was
0110ein Chirurg hier erreichen kann, und das ist für einen Menschen
0111von 37 Jahren doch ein entschiedenes Unglück! Wenn ich nicht
0112bald von hier fortkomme, werde ich bald ganz fettig degene-
0113riren, weil es mir zu gut geht.“ Die Erlösung war näher,
0114als Billroth selbst vermuthete, denn schon einen Monat nach
0115obigem Brief meldeten ihm Depeschen zugleich von Arlt,
0116Pitha und Brücke, daß das Wiener Professoren-Collegium
0117ihn zum Nachfolger von Professor Schuh gewählt habe.
0118„Was wird das Ministerium dazu sagen? Ein protestantischer
0119Preuße! Es wirbelt mir etwas im Kopfe bei dem Gedanken,
0120in der Weltstadt Wien zu arbeiten. Ich habe so was immer
0121gewünscht, nun wird mir fast bange!“ Am 12. Mai 1867 
0122erfolgte die kaiserliche Ernennung, und am 11. October
0123hielt Billroth seine Antrittsvorlesung in Wien. Er bezieht
0124eine Wohnung in der Josephstadt, Tulpenstraße 3, aus der
0125er an Lübke anfangs recht zufrieden schreibt: „Denken Sie
0126sich, daß ich meine beiden ältesten Mädel auf dem Schooß
0127habe und, am Clavier sitzend, mit ihnen singe, meine Frau 
0128dahinter. Je älter ich werde, desto kindischer komme ich mir
0129vor!“ Anfangs kämpft Billroth in seinem Berufe mit
0130manchen Schwierigkeiten, die sein reformatorischer Eifer
0131nicht so schnell zu beseitigen vermochte, wie er es gehofft.
0132„Was soll ein Unterrichtsminister,“ schreibt er im December
01331867, „wenn jede kleine und große Provinz in eigener
0134Sprache sich bilden will, wenn er weder über Universitäts- 
0135noch Schulanstalten, noch über Lehreranstellungen frei ver-
0136fügen kann? In allen Provinzen will man an den kleinen
0137Universitäten nur Eingeborene; für die Docenten hier gibt es
0138keine Ziele, keine Carrière, denn die Brücken nach Deutschland 
0139sind früher aus Hochmuth abgebrochen, und in Wien können
0140doch nicht Alle Professoren werden. ... Ich bin herberufen,
0141um hier zu kämpfen, und daran wird es nicht fehlen. Meine
0142Klinik, an der ich 300 junge Leute unterrichten soll, hat zu
0143wenig Kranke (wie man im Kunstausdruck sagt, „zu wenig
0144Material“); ich muß mehr Krankensäle, mehr Betten zur
0145Disposition haben. Diese müssen anderen Chirurgen im 
0146Krankenhaus abgenommen werden; da haben Sie gleich den
0147Scandal fertig. Ich habe meine Bombe platzen lassen, und
0148Alles wüthet gegen den Ruhestörer der gemüthlichen Phili-
0149sterei. Drei Monate hat es gedauert, bis ich mein Operations-
0150Amphitheater so hergerichtet hatte, wie ich wollte. Zähigkeit
0151und Ausdauer ist hier nothwendig und ist wirksam, weil
0152sie beim Wiener selten vorkommt.“ Wenn Billroth im Juni
01531868 an Professor Esmarch schreibt: „Vorläufig bin ich
0154hier Allen ein Gräuel!“, so dürfen wir hinzusetzen, daß
0155dieses „vorläufig“ sehr rasch vorüberging. Mit seinen Collegen
0156(Dumreicher etwa ausgenommen) stand er bald auf dem
0157besten Fuß, von seinen Assistenten und Schülern war er
0158vergöttert.**)


0199Ein Virtuose in der unschätzbaren Kunst, strenge Be-
0200rufserfüllung mit heiterem Lebensgenuß zu verbinden, ge-
0201dieh Billroth immer prächtiger in dem ihm anfangs frem-
0202den Wiener Leben. „Alles geht weit besser, als ich es ver-
0203dient habe,“ schreibt er 1869 an Esmarch, „und wenn ich
0204weniger in Theater, Concerte, Bälle ginge, so könnte ich
0205auch noch mehr arbeiten. Doch genießen muß ich das Leben
0206aus vollen Zügen, sonst arbeite ich auch nichts Rechtes.“
0207Kraftbewußtsein und volles Glücksgefühl konnten aber bei
0208Billroth oft ganz plötzlich in zweiflerische, besorgte Stim-
0209mung herabsinken. In seiner ersten Wiener Periode löst er
0210solch flüchtige Dissonanzen gern humoristisch auf. „Wie es
0211möglich gewesen ist,“ schreibt er an Lübke, „daß ich, von
0212allen meinen Brüdern der wenigst gescheite, der schlechteste,
0213miserabelste Gymnasialschüler, in eine solche Stellung ge-
0214kommen bin, ist mir sehr unklar; nur meinem Idealismus
0215und meiner Phantasie habe ich es zu danken! Sonderbare
0216Welt! Wenn ich nun ein Oesterreicher wäre, so duselte ich
0217mich jetzt so nach und nach ins Dolce far niente, doch der
0218alte Schwede steckt mir im Leibe. Ich sehe immer Nebel,
0219trübe Zukunft, phantastische Gestalten vor mir: es quälen
0220mich ewige Scrupel, ob ich meiner Stellung genüge, ob ich
0221ihr noch für zehn Jahre oder wie lange noch gewachsen bin
0222— was aus mir werden soll, wenn die ganze Facultät
0223regenerirt ist u. s. w. Ich bin ein rechter Esel in diesen,
0224vielleicht auch in vielen anderen Dingen! Uebrigens arbeite
0225ich recht flott, und es geht mir leichter als je von statten.
0226Mit jedem Jahr lerne ich noch mehr und weiß immer
0227weniger!“ (Schluß folgt.)

Fußnoten
  • *)Siehe Nr. 11405 und 11427 der „Neuen Freien Presse“.
  • **)Director Gersuny, der von den jüngeren Aerzten dem
    Vertrauen und dem Herzen Billroth’s vielleicht am nächsten stand,
    hat vor acht Jahren für Lindau’s „Nord und Süd“ eine treffende
    Charakteristik Billroth’s geschrieben, der wir einige Zeilen über dessen
    lehramtliche Thätigkeit entnehmen. „Selbst noch jung (er zählte da-
    mals 38 Jahre), stand Billroth den Studenten innerlich noch
    nahe und suchte die Kluft zwischen Lehrer und Schülern zu über-
    brücken; er nahm an ihren Festen theil und pflegte den persönlichen
    Verkehr mit ihnen, soweit es die großen Verhältnisse der Wiener
    Universität nur immer gestatten. Sein Vortrag war kein trocken
    akademischer, sondern floß ohne rednerischen Schmuck wie in leichtem
    Gesprächston von den Lippen; man hatte nie die Empfindung, ein
    Capitel aus einem Lehrbuch zu hören; stets war er so, als schöpfte er,
    angeregt durch einen Krankheitsfall, aus dem reichen Schatze seines
    Wissens und seiner Erfahrung, und als entstünde der Vortrag erst,
    während er gehalten wurde. Dadurch wurde der Hörer zum Mit-
    denken herangezogen. Auch Billroth’s zarte, rücksichtsvolle Art des
    Verkehrs mit den Kranken, die damals bei den Chirurgen selten
    war, trug dazu bei, ihm die Herzen seiner Schüler zu gewinnen. Die
    Schonung der Empfindungen der Patienten einer Klinik in dieser
    Richtung ist nicht nur für die Kranken selbst eine Wohlthat, sondern
    auch für die Studenten ein Beispiel, dessen Nachwirkung in ihrem
    späterem Thätigkeitskreise zum Ausdrucke kommt. In den klinischen
    Einrichtungen wurden manche Aenderungen getroffen, namentlich in
    Bezug auf die Reinlichkeit; bis dahin war der Reinlichkeit in der
    Chirurgie nicht die genügende, ja kaum die dürftigste Würdigung zu
    Theil geworden. Nimmer müde, interessirte sich Billroth für die großen
    und für die kleinen Dinge an der Klinik in gleicher Weise; für die
    Einrichtung der Klinik wie für den Anstrich des Fußbodens, für die
    wichtigsten Operationen wie für die kleinen Details der Krankenpflege.
    Oft übertrug er einen Kranken, an dem er eben eine schwierige
    Operation ausgeführt hatte, selbst von dem Operationslager auf das
    Krankenbett, lagerte ihn dort mit der Sorgfalt und Zartheit, wie
    man sie meist nur von zarter Frauenhand erwartet, und gab seinen
    Schülern damit ein unvergeßliches Beispiel und die Lehre, daß bei
    der ärtzlichen Thätigkeit Alles gleich wichtig und keine Arbeit unter-
    geordnet oder entwürdigend ist. Oft kam er auch in der Nacht an die
    Klinik, wenn besonders schwere Fälle da waren; nie wurde er gegen
    die Leiden seiner Kranken und gegen die ihnen drohenden Gefahren
    gleichgiltig.“