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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11979. Wien, Mittwoch, den 29. December 1897

[1]

Billroth und Brahms.

(Gelegentlich der vierten Auflage von Billroth’s Briefen.)


0003Ed. H. Bei jeder Aufführung von „Wallenstein’s
0004Lager“ freue ich mich auf die Stelle:
0005Ein Hauptmann, den ein Anderer erstach, /
0006Ließ mir ein paar falsche Würfel nach. /


0007Diese beiden Zeilen, ein kleiner beredter Denkstein des
0008Zusammenwirkens zweier großer Dichter, sind von Goethe.
0009Er hatte sie in Schiller’s Manuscript eingefügt, um zu
0010motiviren, wie der Bauer zu den falschen Würfeln gekommen
0011ist. Eine ähnliche verbessernde Zuthat, unscheinbar, aber
0012interessant, hat Schumann’s Oper „Genofeva“ aufzu-
0013weisen; nur mit dem Unterschied, daß hier nicht, wie in
0014Wallenstein’s Lager“, der ältere, erfahrenere Dichter dem
0015jüngeren nachhalf, sondern der viel jüngere dem älteren,
0016der Schüler dem Meister. Von Brahms sind vierzehn
0017Tacte in der „Genofeva“. Wir erfahren dies erst jetzt,
0018vierzig Jahre nach Schumann’s Tod, und zwar — wie
0019seltsam! — aus der neuesten (vierten) Auflage der Bill-
0020roth-Briefe
. Zu einer Aeußerung Billroth’s, er
0021glaube nicht daran, daß Brahms eine Oper componire,
0022macht der Herausgeber Dr. Georg Fischer folgende
0023Randbemerkung: „Brahms hat keine Oper componirt.
0024Es ist aber bislang unbekannt, daß derselbe an einer Oper,
0025wenn auch nur mit vierzehn Tacten, betheiligt ist, indem er
0026den Schluß am Liede des Siegfried im dritten Act von
0027Schumann’s Genofeva geschrieben hat.“ Das geschah, als
0028im Jahre 1874 die Oper am königlichen Theater zu
0029Hannover einstudirt werden sollte. Da schickte Frau Clara
0030Schumann dem Sänger Max Stägemann, welchem die
0031Rolle des Pfalzgrafen zugetheilt war, den betreffenden Zu-
0032satz von Brahms mit der Erklärung, sie wäre damit nicht
0033nur völlig einverstanden, sondern halte diesen Schluß im
0034Interesse der Wirkung für wünschenswerth. In der Partitur,
0035wie sie Schumann nach der ersten Leipziger Aufführung
0036(1850) redigirt hatte und wie sie hierauf für München, Wien 
0037und Wiesbaden copirt wurde, findet sich diese Ergänzung
0038ebensowenig wie in dem gedruckten, von Clara Schumann 
0039verfaßten Clavierauszug. Für Hannover wurden die Brahms’-
0040schen vierzehn Tacte als Einlage in die Partitur eingeheftet.
0041Indem ich diese (mir in Abschrift vorliegende) Ergänzung
0042mit dem Schumann’schen Original vergleiche, in welchem
0043sie fehlt, kann ich nicht umhin, die richtige Empfindung
0044Brahms’ zu bewundern. Er fühlte, daß bei Schumann das
0045Lied keinen befriedigenden Abschluß habe, vielmehr an dessen
0046Stelle recht unpassend ein fragender Halbschluß auf der
0047Dominante steht; daß ferner auf diesen Halbschluß („Mich
0048trennt keine Macht mehr von dir!“) viel zu rasch und un-
0049vermittelt gleich Siegfried’s Worte folgen: „Wer sprengt
0050so eilig ins Thor herein?“ Es geschah also ebensosehr im
0051dramatischen Interesse als im rein musikalischen, daß
0052Brahms die zwei so heterogenen Hälften dieser Scene durch
0053den Einschub seiner vierzehn Nothhelfertacte auseinander
0054hielt. Von praktischer Wichtigkeit ist das heute kaum; die
0055Genofeva“, musikalisch so vornehm und tief empfunden,
0056aber dramatisch zaudernd und bleichsüchtig, findet mit und
0057ohne die Brahms’sche Einlage doch nur mehr verschlossene
0058Thüren. Aber für die Operngeschichte wie für die Verehrer
0059von Brahms und Schumann bleibt es ein eigenartig an-
0060ziehendes Factum. Wir verdanken es, wie gesagt, der
0061neuesten vierten Auflage der „Briefe von Th. Bill-
0062roth“, deren erste im November 1895, also erst vor
0063zwei Jahren, erschienen ist. Dieser beispiellose Erfolg zeigt
0064neuerdings, wie stark und lebendig die Erinnerung an
0065Billroth in Aller Herzen haftet. Die vierte Auflage bringt
0066allerdings zu den früheren wenig Neues hinzu: im Ganzen
0067neun Briefe. Sie sind immerhin eine werthvolle Bereiche-
0068rung, und ich möchte nicht unterlassen, davon den zahl-
0069reichen Freunden Billroth’s zu erzählen, die, mit den frühe-
0070ren Auflagen ausgerüstet, doch nicht alljährlich eine neue
0071dazu kaufen können.


0072Zuerst ein noch ungedruckter Brief an Brahms vom
00736. November 1890; eines der schönsten Schriftdenkmale
0074dieses Freundschaftsbundes. Der Brief bezieht sich auf das
0075G-dur-Quintett op. 111 und ist — echt Billrothisch — Mor-
0076gens um 1 Uhr geschrieben, nachdem der Schreiber sich bis
0077nach Mitternacht „mit allerlei trivialer Lebensarbeit geplagt“
0078hat. „Doch ich kann nicht zur Ruhe kommen,“ setzt er fort,
0079„ohne dir, mein lieber alter Freund, gesagt zu haben, welch
0080glückliche Stunde du mir heute wieder bereitet hast. Und
0081fange ich an, darüber nachzudenken, in welchen Stunden 
0082meines Lebens, mit dessen Reichthum sich wohl wenige Sterb-
0083liche messen können, mir am wohlsten war, so nimmst du
0084doch immer den breitesten Platz ein. Ich habe einen großen
0085Theil deines Werdens miterlebt, und du mit mir. Das ist
0086ein Band, wie es Geschwister in einem guten Hause um-
0087schlingt. Ein Jeder der Familie geht seinen Weg, doch man
0088findet sich immer wieder zusammen. Es hat dich früher wol
0089gefreut, wenn ich dir dies und das über eine deiner neuen
0090Schöpfungen sagte. In neuerer Zeit bin ich stumm,
0091denn ich weiß nichts mehr zu sagen, als musikalisch
0092schön, wunderschön; und nun auch für mich schon
0093beim ersten Hören klar, himmlisch-blau klar! Wol
0094hörte ich heute begeisterte Rufe: das Schönste, was er je
0095geschrieben! — Ich habe in meinem lieben Garten in
0096St. Gilgen Rosenstöcke in vollster Kraft. Sie tragen wol
0097100 Rosen im Jahr. Und wenn ich am Morgen wieder
0098eine neue Rose erblüht sehe, meine ich, das ist nun die
0099schönste! Und dabei thut man den früheren Unrecht. Es
0100gibt eine Kraft der Blüthe und Schönheit, wo es kein
0101schön, schöner, am schönsten gibt. ... Soll ich eins sagen,
0102so ist es das: du concentrirst dich in der Form jetzt so,
0103als wenn man ein schönstes Werk von Lessing, Goethe und
0104Schiller zugleich lesen könnte. ... Ich habe oft darüber ge-
0105grübelt, was menschliches Glück sei — nun heute war ich
0106im Anhören deiner Musik glücklich. Darüber bin ich mir
0107ganz klar.“ Welch starkes Glücksgefühl in dieser Empfäng-
0108lichkeit, in dieser Hingebung an die Musik, an die Schön-
0109heit, an die Freundschaft! —


0110Außer diesem einzigen Brief an Brahms sind neu
0111hinzugekommen noch sieben Briefe an Wilhelm Engel-
0112mann
, Professor der Physiologie in Utrecht. Da grüßt
0113uns wieder die andere für die Ewigkeit geprägte Seite von
0114Billroth’s Januskopf: der Gelehrte, der Arzt, der Uni-
0115versitäts-Professor. Man braucht nicht Fachmusiker zu sein,
0116um von den musikalischen Briefen Billroth’s gefesselt zu
0117werden; ebenso sicher wecken die Theilnahme jedes Gebildeten
0118jene Sendschreiben, in welchen Billroth medicinische oder
0119Universitätsfragen bespricht. Die Briefe an Professor Engel-
0120mann stammen sämmtlich aus Billroth’s letzten vier Lebens-
0121jahren und behandeln die Besetzung der chirurgischen Pro-
0122fessur in Utrecht. Um seine Meinung gebeten, empfiehlt
0123Billroth die Doctoren Friedrich Salzer und Anton [2]
0124v. Eiselsberg. Er begnügt sich aber nicht mit dem
0125schwerwiegenden Lobe: „zwei Assistenten, die zu den talent-
0126vollsten und tüchtigsten gehören, die ich je ausgebildet habe“,
0127noch auch mit dem Zeugnisse, Beide seien „eminente 
0128Operateure allerersten Ranges“ — nein, er schreibt seiten-
0129lang ihre Biographien und charakterisirende Schilderungen
0130ihres Wesens. Jeder Frage kommt er zuvor, die etwa
0131noch bezüglich der Beiden gestellt werden könnte.
0132Nachträglich erwähnt er sogar, Salzer sei blond
0133und blauäugig und passe seinem ganzen Wesen nach
0134vortrefflich nach Holland. Kennten wir nicht aus anderen
0135Quellen das unvergleichlich schöne Verhältniß Billroth’s zu
0136seinen Schülern, die paar Briefe an Engelmann würden
0137genügen, uns ein treues Bild davon zu geben. Nur einige
0138köstliche Stellen seien hier herausgehoben: „ich habe das
0139ungeheure Glück,“ schreibt Billroth, „daß meine Schüler
0140mir nicht nur persönliche Achtung entgegenbringen, sondern
0141mit jeder Gedankenfaser an mir hängen. Nie kommt eine
0142Heftigkeit oder eine ernste Differenz zwischen uns vor; eine
0143leise mimische Bewegung genügt, uns zu verständigen. Ich
0144lasse meinen Schülern die freieste subjective Entwicklung, und
0145doch ahnen sie und folgen meinem leisesten Wink und thun
0146nichts, was nicht in meinem Geiste zu thun wäre. Ich habe
0147an meiner Klinik eine Tradition eingeleitet, die mit
0148ungeschwächter Kraft fortwirkt. Ich halte nichts von der
0149fortwährend nörgelnden Ermahnung und Erziehung. Die
0150Mitbewegung und Mitempfindung sind die stärksten physio-
0151logischen und ethischen Motive, durch welche wir das Beste
0152in dem Menschen erwecken und unterhalten. Wenn die
0153wissenschaftliche und moralische Welt mit mir zufrieden ist,
0154wie es scheint, so wird sie auch mit meinen Schülern zu-
0155frieden sein.“


0156Er spinnt den liebgewordenen Gedanken noch weiter
0157aus in einem späteren Briefe an Engelmann: „Ich habe
0158es früher wol bedauert, daß ich keine leiblichen Söhne habe,
0159doch wenn ich ernsthaft jetzt darüber nachdenke, so habe ich
0160allen Grund, mit der Wahl meiner geistigen Adoptivsöhne
0161mehr als zufrieden zu sein. Sie bringen mir nicht nur
0162Achtung und Vertrauen entgegen, sondern wirklich eine
0163Liebe, Treue und Anhänglichkeit, wie man sie einem leib-
0164lichen Vater gegenüber fühlt.“ Und daß ein leiblicher Vater
0165nicht liebevoller für seine Söhne sorgen konnte, beweist uns 
0166ein bald nachfolgender, wieder von Salzer handelnder Brief. „Ich
0167werde ihn schon am 30. Juni entlassen, damit er Muße
0168hat, sich für seine neue Stellung vorzubereiten. Ich habe
0169meinen Assistenten immer nur von Ueberarbeitung zurück-
0170halten müssen; er wollte noch hier einige größere Arbeiten
0171abschließen, die er im Kopfe und theilweise vorbereitet hat.
0172Ich habe ihn dringend gebeten, dies nicht zu thun, damit
0173er frisch in seine neue Stellung eintritt. Das stillere Leben
0174in einer kleinen Stadt zeitigt die Arbeit besser als
0175hier im Wirbel der großen Centrale.“ Dr. Salzer wurde
0176Professor der Chirurgie in Utrecht. Leider hielt seine
0177schwächliche Gesundheit nicht lange vor; er erkrankte bald
0178und starb mit 36 Jahren. Sein Nachfolger wurde Bill-
0179roth’s Assistent Anton v. Eiselsberg. Auch ihm folgt
0180Billroth’s liebevolle Sorgfalt bis in die neue Heimat nach.
0181„Ermahnen Sie ihn nur von Zeit zu Zeit,“ schreibt er an
0182Professor Engelmann im November 1893, „langsamer beim
0183Vortrag zu sprechen; er läßt sich bei dem reichen Zufluß
0184von Gedanken leicht verleiten, allzu schnell zu sprechen. Ich
0185hatte in Zürich mit demselben Fehler zu kämpfen, wo mich
0186die Schweizer anfangs schwer verstanden. Daß er Alles
0187kann, was die moderne Chirurgie überhaupt vermag, werden
0188Sie bald erfahren. Wenn Sie seine Mutter kennen lernen
0189und das rührend schöne Verhältniß, in welchem Mutter
0190und Sohn stehen, wird Ihnen Manches von den vortreff-
0191lichen Eigenschaften Toni’s erklärlich werden.“


0192Es übt einen besonderen Reiz auf uns, daß selbst in
0193dieser Correspondenz zweier berühmter Aerzte über die Be-
0194setzung einer chirurgischen Lehrkanzel es nicht ohne musika-
0195lische Anhängsel und Randverzierung abgeht. Professor
0196Engelmann war als feinsinniger Musikfreund auch von
0197Brahms geschätzt. Dieser vertheilte die Widmung seiner drei
0198Streichquartette zwischen die beiden Aerzte: Billroth 
0199wurde das erste und zweite (op. 51), Engelmann das
0200dritte (op. 67) dedicirt. „Wir sind also auch außer der
0201Universität Collegen,“ schreibt Billroth und fügt das
0202drollige Geständniß hinzu, er sei auf Engelmann eifersüchtig
0203gewesen, als dieses dritte Quartett in B-dur („Ihr 
0204Quartett“) von Joachim 1890 in Wien gespielt wurde.
0205„Der Erfolg war selbst neben Beethoven, Mozart, Haydn,
0206Schumann ein colossaler. Die conservativsten alten Musik-
0207söhne kamen auf mich zu (ich gelte nämlich hier als Haupt-
0208Brahmane), um mich zu versichern, daß sie eigentlich jetzt
0209erst das Quartett verstanden hätten. Und auch das große
0210Leimsieder-Publicum gerieth in Ekstase. Ich fürchte, daß
0211diese Dedicationen unsere Namen länger in Erinnerung
0212halten werden, als unsere besten Arbeiten. Für uns nicht
0213sehr schmeichelhaft, doch schön für die Menschheit, die mit
0214richtigem Instinct die Kunst für ewiger nimmt, als die
0215Wissenschaft. Es ist der ewige menschliche Satz, daß uns
0216Liebe schwerer wiegt, als Hochachtung.“ Wie intensiv be-
0217leuchtet dieser Ausspruch Billroth’s innerstes Wesen!


0218Noch einmal kommt er auf Brahms zu sprechen,
0219in dem letzten an Engelmann gerichteten Briefe vom
02205. November 1893. Er schreibt: „Brahms hat in diesem
0221Sommer wieder ein Dutzend Clavierstücke componirt; ich
0222weiß nicht, woher ihm diese Passion auf einmal gekommen
0223ist. Ich liebe dieses Genre von ihm am wenigsten, die
0224Rhapsodie in G-moll ausgenommen. Er ist in der von ihm
0225gewählten Form nicht mannigfaltig genug, meist zu schwer-
0226fällig, nicht pikant genug. Chopin und Schumann 
0227verstanden das besser. Beethoven’s Bagatellen liebe ich
0228auch nicht, auch nur wenige Stücke dieser Art von
0229Schubert. Brahms sollte beim großen Styl bleiben.“
0230Diese Aeußerung gibt Zeugniß, daß Billroth bei seinem fast
0231schrankenlosen Enthusiasmus für Brahms ihn doch nicht
0232immer und überall, nicht blindlings bewunderte. Die hier
0233erwähnten Clavierstücke (op. 118, 119) sind die letzten
0234Brahms’schen Compositionen, welche Billroth noch kennen
0235gelernt. Nur die beiden Clarinett-Sonaten op. 120 und
0236die „Vier ernsten Gesänge“ hat er nicht mehr erlebt. Er
0237konnte bei aller Vor- und Ueberliebe sich nicht
0238verhehlen, daß über den fünf Clavierheften (op. 116 bis 119)
0239ein fremdartig grauer Schleier liegt, ein hypochondrisch
0240grübelnder Zug. Als geistvoller souveräner Beherrscher seiner
0241Kunst imponirt Brahms allerdings auch in diesen kleineren
0242Stücken, aber der kühne Flug der Phantasie erscheint ge-
0243hemmt, der lebendige Saft der Melodie eingetrocknet. Brief-
0244lich und mündlich betonte Billroth gegen mich den „senilen
0245Charakter“ der späteren Brahms’schen Production, die in
0246dem Clarinett-Quintett noch einen einmaligen Höhenpunkt
0247erstürmt hatte. Gegen Brahms schwieg er natürlich davon.
0248Zwischen dem 60. und 70. Jahre fühlt das ja ohnehin
0249jeder Künstler selbst am deutlichsten und schmerzlichsten. [3]
0250Niemand braucht ihn auf die erste leichte Lähmung seiner
0251Schwingen erst aufmerksam zu machen. Und so sehen wir
0252Brahms wie Billroth in ihren letzten Jahren auffallend
0253oft, fast absichtlich von ihrer geschwächten Productionskraft
0254sprechen. Ohne Zweifel waren Beide immer noch kräftiger
0255und reicher, als alle ihre jüngeren Concurrenten, aber sie
0256wollten lieber das Prävenire spielen und selbst auf den
0257Einfluß des Alters hindeuten, bevor Andere es thun.


0258Neu ist außerdem nur noch ein kurzes Billet Billroth’s
0259vom 2. Januar 1894 aus Abbazia an den dortigen Arzt
0260Dr. Glax. „Ich wollte Sie schon immer bitten, falls mir
0261etwas Menschliches passiren sollte, an Dr. Gersuny in
0262Wien zu telegraphiren. Es geht mir nicht gerade
0263schlechter. ... Bitte sich deßhalb nicht zu mir zu bemühen;
0264es sind nur bekannte Zustände.“ Jedesmal, wenn Billroth 
0265in der knappen letzten Frist seines Lebens nothgedrungen
0266von seiner Krankheit berichtet, schließt er den Brief mit
0267einer tröstlich beruhigenden Wendung. Und doch war er
0268sich seines nahen Endes vollständig bewußt. Er blieb zart-
0269fühlend, schonend bis zum letzten Atemzug. Das Merk-
0270würdigste ist, daß er noch in den letzten Briefen (vierzehn
0271Tage vor seinem Tode) eifrig Erkundigungen einzieht über
0272Tact und Tongeschlecht der italienischen Volkslieder. Mit
0273der ihm eigenen unerbittlichen Energie spannte er seinen
0274Geist in wissenschaftliche Arbeit, um darüber die körperlichen
0275Qualen zu vergessen. Diesen traurigen Eindruck mochte ich
0276nicht als letzten behalten und blätterte zurück, bald hier,
0277bald dort in den mir wohlbekannten Briefen. Ich war ver-
0278wundert, daß Alles mich wieder so neu und fesselnd an-
0279sprach. Nicht mehr loslassen wollten mich diese Blätter, in
0280denen ein großer und guter Mensch sein bestes Denken und
0281Empfinden so wahr und unmittelbar ausströmte. Ob er
0282nun von einer neuen Symphonie oder einer Reform des
0283Krankenhauses sprach, von interessanten Büchern oder
0284Reisen, von politischen Fragen oder Familien-Angelegen-
0285heiten — immer derselbe klare Geist, dasselbe warme zarte
0286Empfinden, dasselbe himmlische Mitgefühl! Da hat uns
0287Billroth ein kostbares Vermächtniß hinterlassen, von dem
0288er selbst nichts ahnte. Es ward mir bei diesem Jahres-
0289abschiednehmen ein wahres Erbauungsbuch — eine Weih-
0290nachtsandacht, in welcher die Glockenstimmen heiterer Er-
0291hebung und innigen Dankgefühls zusammenklingen.