Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12676. Wien, Dienstag, den 5. Dezember 1899
[1]Concerte.
0002Ed. H. Die letzten philharmonischen Concerte bescheerten
0003uns zwei interessante symphonische Novitäten: „Aus Italien“
0004von Richard Strauß und „Die Waldtaube“ von
0005Dvořak. Bei großer Verschiedenheit des musikalischen
0006Kernes haben die beiden doch manches Aeußerliche gemein:
0007„Aus Italien“ ist halbverhüllte, „Die Waldtaube“ ganz un-
0008verhüllte Programm-Musik. In vier großangelegten Sym-
0009phoniesätzen malt Richard Strauß italienische Landschaft,
0010italienisches Volksleben; Dvořak erzählt in Einem Satz eine
0011ganze wechselvolle Geschichte. In den Worten „malt“ und
0012„erzählt“ spiegelt sich ungefähr der grundsätzliche Unterschied
0013zwischen diesen beiden Orchesterwerken.
0014Strauß’ „Symphonische Phantasie“ — so nennt er es
0015etwas preziös — ist ein früheres Werk (op. 16) des frucht-
0016baren Münchener Componisten. Bekannter und berühmter
0017sind seine späteren Orchesterdichtungen Don Juan, Tod und
0018Verklärung, Eulenspiegel, Zarathustra. Diese übersetzen ein
0019poetisches Programm, eine Erzählung, ins Musikalische mit
0020einer Virtuosität, welche eines komischen Beigeschmacks nicht
0021gänzlich entbehrt. Vor solchen Wagstücken schien der Führer
0022unserer musikalischen Secessionisten noch einige Scheu em-
0023pfunden zu haben, als er sich damit begnügte, die vier Sätze
0024seiner italienischen Symphonie einfach zu betiteln: Die
0025Campagna, Roms Ruinen, Sorrento, Neapel. So klar und
0026einfach wie diese Aufschriften bleibt keineswegs die Musik
0027selbst. Strauß’ unruhiges, nervöses Talent, sein Ueber-
0028schuß an glänzendem Raffinement bei Dürftigkeit des
0029schöpferischen Gedankens lassen ihn bei gesammelter,
0030natürlicher Empfindung nicht lange verweilen. Wo
0031man es am wenigsten erwartet, unterbricht irgend ein
0032auserlesener Orchester-Effect, eine wunderliche Figuration
0033plötzlich den musikalischen Zusammenhang. Blendende Instru-
0034mentalwitze ziehen unsere Aufmerksamkeit vom Ganzen ab:
0035wie zum Beispiel die in raschem Flug auf- und nieder-
0036schießenden chromatischen Sext-Accorde der Holzbläser im
0037Andantino (Sorrent). Die übrigen Sätze wimmeln von
0038ähnlichen, wenngleich nicht immer so hübsch klingenden Ueber-
0039raschungen. Sie wirken ungefähr wie die pikanten oder
0040drastischen „Zwischenrufe“, welche im Abgeordnetenhause
0041langwierige Reden unterbrechen — für die Hörer oft das
0042Ergötzlichste an der ganzen Geschichte. Der Unterschied
0043ist nur, daß hier der Redner, R. Strauß, die amüsanten
0044störenden Zwischenrufe selbst macht. Er mag mitunter
0045ein wenig besorgen, daß der ungestörte glatte Ver-
0046lauf seiner Rede doch ermüden würde. Thatsächlich weiß
0047uns Strauß, abgesehen von jenen Ueberraschungen, wenig
0048Neues, wenig Bedeutendes zu sagen. Die ersten drei Sätze
0049„Italien“ rauschen mit verschiedenen glänzenden Orchester-
0050Effecten und vereinzelten melodischen Ansätzen ohne tieferen
0051Eindruck an uns vorüber. Ja, wir vermissen darin sogar
0052Eines, was wir von allem Anfang zu erwarten ein Recht
0053hatten und das auch leicht zu beschaffen war: italienische
0054Farbe, italienische Stimmung! Wie klingt das Alles so
0055deutsch umständlich! In diesen verschwommenen, dickflüssigen
0056Melodien rinnt kein italienischer Blutstropfen. Sogar in
0057Aeußerlichkeiten ist Strauß, bei allem Raffinement, auffallend un-
0058italienisch: im ersten und dritten Satz hören wir zwei
0059Harfen unermüdlich arpeggiren, als handelte es sich um eine
0060Illustration Ossian’s. Wer hat je bei römischen oder neapoli-
0061tanischen Volksfesten eine Harfe gehört? Beim Finale an-
0062gelangt, scheint der Componist doch die Nothwendigkeit
0063empfunden zu haben, sein „Volksleben in Neapel“ etwas
0064neapolitanisch zu färben. Er intonirt das bekannte „Funi-
0065culi Funicula“, und wir glauben, das Stück werde, rasch
0066dahinströmend, fortan die südliche heitere Laune beibehalten.
0067Nichts weniger als das. Mag Strauß es nicht gewollt oder
0068nicht gekannt haben — mit der volksthümlichen Herrlichkeit
0069ist es schnell zu Ende. Er läßt die eingefangene lustige Lerche
0070Funiculi nur ein Weilchen flattern, dann steckt er sie
0071gnadenlos in seine düsteren Casematten, wo sie von aller-
0072hand polyphonen wilden Thieren erbärmlich gezaust und zer-
0073rissen wird. Ein paar Federchen fliegen ganz zuletzt noch
0074auf und melden das schnöde Ende des armen Thierchens.
0075Die ganze symphonische Phantasie interessirt stellenweise als
0076das Product eines geistreichen, effectkundigen, mehr poetisch
0077angeregten als musikalisch-schöpferischen Künstlers. Sichtlich
0078von Berlioz inspirirt, mit Wagner’schen Combinationen
0079arbeitend, verschmäht es Strauß trotzdem nicht, einigemale
0080von Mendelssohn zu borgen.
0081Die Aufführung unter G. Mahler gehörte zu den
0082glänzendsten Virtuosenstücken. Es dürfte selbst unter den
0083neuesten nicht vieles Schwierigere und Complicirtere geben.
0084Der Beifall, nach den ersten drei Sätzen recht mäßig, am
0085Schlusse um so lebhafter, war hauptsächlich wol den Phil-
0086harmonikern zugedacht. Nach einer schleunigen Wieder-
0087holung des Werkes wird man sich schwerlich sehnen. „Will
0088Italien nit mehr sehen,“ singt die Engländerin in
0089„Fra Diavolo“.
0090Neben R. Strauß ist Dvořak unstreitig die musi-
0091kalisch stärkere, ursprünglichere Natur; in naivem Em-
0092pfinden und melodischem Reichthum diesem unendlich über-
0093legen. Allein gerade in der „Waldtaube“ thut er einen
0094Schritt weiter in der Programm-Musik, als Strauß in seiner
0095italienischen Symphonie. Diese bringt schöne Aufschriften
0096zu unschöner Musik, Dvořak schöne Musik zu unschönem
0097Texte.
0098Die „Waldtaube“ schließt sich in Form und Tendenz
0099völlig an die beiden symphonischen Dichtungen („Der
0100Wassermann“ und „Die Mittagshexe“), welche wir
0101bereits früher gehört haben. Welch seltsam neueste
0102Passion Dvořak’s für das Grauenhafte, Widernatürliche
0103und Gespenstige, das seinem echt musikalischen Sinn
0104seiner liebenswürdig menschlichen Natur doch so wenig
0105entspricht! Im „Wassermann“ der Kobold, welcher dem
0106eigenen Kinde den Kopf abhaut und ihn der unglück-
0107lichen Mutter zuschleudert; in der „Mittagshexe“ ein weib-
0108liches Ungeheuer, in dessen mörderischen Fäusten das un[2]-
0109schuldige Kind einer Bäuerin verathmet. Und nun die
0110„Waldtaube“! Das Stück beginnt mit einem Trauermarsch.
0111Wehklagend folgt die junge Frau dem Sarge ihres ver-
0112storbenen Gatten. Da intoniren hinter der Scene Trom-
0113peten, von Oboen, Harfen und Englischhorn begleitet, ein
0114lustiges Lied im Zweivierteltact: ein schmucker Bursche
0115macht der Witwe einen Heiratsantrag. Schnell folgt das
0116Hochzeitsfest. Ein derbes Tanzmotiv in C-dur, worin die
0117übermäßige Quarte (Fis) humoristisch aufjauchzt, führt
0118uns in die böhmische Dorfschänke. Zartere Empfindungen
0119klingen vorübergehend in einem Allegretto grazioso
0120an. Bis hieher wäre Alles ziemlich einfach und verständ-
0121lich. Aber was erzählt uns gleich darauf das unmittelbar
0122aus dem Hochzeitsjubel sich losringende schaurige Andante?
0123„Aus den Zweigen der Eiche, über dem Grabe ihres durch sie
0124vergifteten ersten Gatten ertönt das Gurren der Waldtaube,“
0125so belehrt uns das der Partitur vorgedruckte Programm.
0126Also die schöne Witwe hat ihren Mann vergiftet? Davon
0127hatte ja kein Mensch eine Ahnung! Und das Girren einer
0128Taube treibt die eben noch so Fröhliche zu Verzweiflung
0129und Selbstmord? Wenn nur irgend ein bedeutsamer fata-
0130listischer Zug, ein psychologischer Zusammenhang zwischen
0131diesem Taubengirren und dem Verbrechen des Weibes vor-
0132her angedeutet wäre! So aber überrascht uns der grausige
0133Ausgang dieser Dorfgeschichte noch gewaltsamer als im
0134„Wassermann“ und der „Mittagshexe“. Dabei ist die Musik
0135von einer liebenswürdigen Anmuth und Naivetät, wie sie
0136heute unter den Instrumental-Componisten nur Dvořak
0137besitzt. Wir lauschen entzückt diesen kindlichen Melodien,
0138denen originelle Harmonienfolgen und Klangfarben einen
0139wechselnden scharfen Reiz verleihen.
0140Was ihre Wirkung schmälert, ist nur die fortwährende
0141Nöthigung des Zuhörers, die Musik schrittweise mit der ihr
0142aufgezwungenen Erzählung zu vergleichen. Man wende
0143nicht ein, das Programm könne ja nicht schaden, wenn
0144die Musik nur gut ist. Die Musik leidet immer darunter,
0145wenn ein detaillirtes Programm die Freiheit des Compo-
0146nisten wie des Hörers vernichtet. Dvořak’s Tondichtung
0147gleicht einer schönen Gefangenen, welche gefesselt zwischen
0148zwei Gendarmen ihren vorgeschriebenen Weg zurücklegen
0149muß. Ein erzählendes Programm, wie das zur „Wald-
0150taube“, ist ein Unglück für die Composition, weil es miß-
0151verständlich und weil es leider — unentbehrlich ist. Denn
0152aus dem musikalischen Gedankengang der „Wald-
0153taube“ lassen sich diese jähen Stimmungswechsel, Absprünge,
0154Rückwanderungen und verblüffenden Orchesterklänge nimmer
0155erklären. Anders ein Titel, der uns wie eine angeschlagene
0156Stimmgabel nur den durchklingenden poetischen Grundton
0157des Stückes angibt. Aufschriften, wie „Ländliche Hochzeit“
0158(Goldmark), „Italien“ (R. Strauß), „Aus der neuen Welt“
0159(Dvořak) und andere lassen dem Hörer Freiheit genug.
0160Nicht so die jüngsten symphonischen Dichtungen von Dvo-
0161řak. Gegen ihre Programme sprechen neben ästhetischen
0162auch sehr praktische Bedenken. Wer kann sich für diese halb
0163kindischen, halb widerwärtigen Schauergeschichten begeistern?
0164Wie lange wird man trotz der geistvollen Musik sich
0165dafür interessiren? Der erste Eindruck dieser neuen
0166Orchesterstücke ist bestrickend; aber wir fürchten für die
0167Dauer und Sicherheit ihrer Herrschaft. Ein prächtig blü-
0168hendes Zweiglein, die Musik Dvořak’s, erscheint hier auf
0169einen kranken Baum gepfropft, der es vorzeitig verdorren
0170macht.
0171Wir bemerkten Sonntags recht verlegen fragende
0172Mienen — Concertbesucher, die es unterlassen hatten, ein
0173Programm zu verlangen oder darin mitzulesen! Sie
0174konnten sich den Fall nicht zurechtlegen. Die Ausdrucks-
0175fähigkeit der Instrumental-Musik hat sich seit Berlioz in
0176früher nicht geahnter Weise gesteigert. Wenn man aber
0177heutzutage vorgibt, die reine Instrumental-Musik sei bereits
0178fähig, alles Mögliche auszudrücken, wozu dann die so
0179emsig erläuternden Programme? Dvořak ist zu sehr echter
0180Musiker, als daß ästhetische Experimente, Entdeckungs-
0181fahrten nach den Grenzen der Kunst ihn zu reizen ver-
0182möchten. Was ihn weggelockt haben mag aus dem Reich
0183der absoluten Musik, das er seit Brahms’ Heimgang als
0184Erster beherrscht, ist offenbar die Nachbildung der ver-
0185schiedenen Naturstimmen. Darin schafft Dvořak ganz un-
0186vergleichliches, Wunderbares. Das Wellen- und Wogen-
0187rauschen in seinem „Wassermann“, das schreiende Kind in
0188der „Mittagshexe“, das Schnurren des „Spinnrädchens“!
0189Auch die „Waldtaube“ reizt und fesselt uns ununterbrochen
0190durch ihren Klangzauber und realistische Züge, die bei
0191aller Kühnheit nie ans Häßliche streifen. Dankbar,
0192ja nur allzu sehr empfänglich für die Reize
0193Dvořak’scher Musik konnte ich mir doch die Gefahren
0194seiner neuesten Richtung nicht verhehlen. Dvořak hat es
0195nicht nöthig, für seine Musik bei der Dichtkunst (und
0196welcher „Dichtkunst“!) betteln zu gehen. Seine reiche
0197musikalische Erfindung bedarf keiner Anleihe, keiner Krücke,
0198keiner Gebrauchsanweisung; drängt es ihn aber, zur Ab-
0199wechslung, heraus aus der wortlosen Instrumental-Musik
0200zu realen Gestalten, dann steht ein weit offenes Thor ein-
0201ladend vor ihm: die Oper.
0202Die „Waldtaube“ ist mit großem Beifalle, aber doch
0203nicht so enthusiastisch aufgenommen worden, wie die viel
0204ernstere und schwerer faßliche F-dur-Symphonie von
0205Brahms, nach welcher der Applaus nicht enden wollte. Die
0206Aufführung beider Werke war unübertrefflich. Das Con-
0207cert schloß mit Beethoven’s großer Ouvertüre „Weihe
0208des Hauses“. Das „Haus“, welches mit diesem gewichti-
0209gen, fugengepanzerten Spätwerk Beethoven’s vor
021077 Jahren eingeweiht wurde, ist bekanntlich unser —
0211Josephstädter Theater. Es hat einen überwältigenden Reiz,
0212sich auszumalen, wie etwa heute der Geist der Beethoven’-
0213schen Ouvertüre in seinem „Hause“ auftaucht und mit einem
0214ehrerbietigen „Ich bin so frei!“ Fräulein Dirkens begrüßt.
0215Vielleicht macht Dvořak einmal eine musikalische Legende
0216daraus.