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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 14114. Wien, Freitag, den 11. Dezember 1903

[1]

Hektor Berlioz als Opernkomponist.

(Zu Berlioz’ hundertstem Geburtstag, 11. Dezember 1803.)


0003Ed. H. „Blut ist ein besonderer Saft“, heißt es in
0004Faust“ — Theaterblut vor allem. Wer Berlioz’ Orchester-
0005werke kennt, dann seine Selbstbiographie, wer endlich ihn
0006selbst gekannt hat, diesen stets leidenschaftlich auflodernden
0007Feuerkopf — der mußte wohl den geborenen Opernkompo-
0008nisten in ihm vermuten. Ist doch fast jeder komponierende
0009Franzose von Haus aus Theatermusiker. Während Deutsch-
0010lands musikalische Größen mit nur wenigen Ausnahmen
0011vorzugsweise in der symphonischen und Kammermusik
0012glänzen, streben die Franzosen und Italiener instinktiv der
0013Oper zu. Was die Besten unter ihnen für die Instrumental-
0014musik geschaffen, verschwindet neben ihren dramatischen
0015Werken. Nicht bloß an Zahl, auch an Bedeutung und
0016Lebenskraft. Den Gediegensten unter ihnen (Cherubini,
0017Méhul, Boieldieu) begegnen wir mit ihren besten
0018Opern noch heute auf französischen und deutschen Bühnen,
0019während ihre Quartette und Sonaten längst rettungslos
0020versunken sind. Berlioz, zeitlebens gepeinigt von der
0021Begierde nach dem Theater, wirkt hingegen bis heute
0022nur als gefeierter Symphoniker. Seine Opern sind
0023so gut wie verschollen, waren es eigentlich von
0024allem Anfang her. Aber auch in seinen Symphonien
0025wurde er den in ihm fortglühenden Dramatiker
0026nicht los. Die „Phantastische Symphonie“, die
0027ihn zuerst berühmt gemacht, verfolgt ein dramatisches Pro-
0028gramm, das eine Reihe leidenschaftlicher Liebesszenen mit
0029einem — Hinrichtungsmarsch abschließt. In seiner „Ha-
0030rald-Symphonie
“ personifiziert er die Gestalt des
0031Helden durch eine Sologeige, welche das ganze Werk als
0032reflektierender oder mithandelnder Harald durchzieht. In
0033der „Romeo-Symphonie“ wagt er noch einen
0034Schritt weiter gegen die Oper und behandelt den Schluß-
0035teil als förmliches Opernfinale, in welchem Romeo, Julie,
0036Capulet, Montague und ihre einander bekämpfenden An-
0037hänger singend auftreten. Mit dieser Neuerung hatte Ber-
0038lioz sich gründlich getäuscht. Nachdem die großen Konzert-
0039institute der Kuriosität halber die vollständige „Romeo-
0040Symphonie“ ein- bis zweimal aufgeführt hatten, hieben
0041sie ihr den entstellenden Drachenschwanz ohneweiters ab
0042und begnügen sich seit 30 Jahren mit den beiden köstlichen
0043Orchestersätzen „Liebesszene“ und „Fee Mab“. Aber Berlioz 
0044ließ nicht ab von seiner fixen Idee einer Verschmelzung von
0045Symphonie und Oper. „Fausts Verdammung“ be-
0046wegt sich so knapp an der Grenze des Theatralischen, daß
0047es nur eines Schrittes bedurfte, um das Werk völlig in
0048die Opernform zu zwängen. Diesen Schritt hat das Pariser
0049Théâtre Lyrique vor einigen Jahren gewagt, indem es das
0050Werk im Kostüm und mit Dekorationen aufführt, dem Ge-
0051schmack der Franzosen gründlich entsprechend.


0052In diesem vergeblichen Ringen um den dramatischen
0053Lorbeer begegnet sich Berlioz ganz merkwürdig mit seinen
0054zwei größten deutschen Zeitgenossen: mit Schumann 
0055und Mendelssohn. Von beiden Meistern hatte
0056man vielfach gehofft, sie würden auch auf der Bühne ihre
0057glänzende Begabung offenbaren. Mehr als ein Stück in
0058Schumanns „Peri“, auch in der „Rose Pilgerfahrt“
0059deuteten dahin. Die Hoffnung erwies sich als trügerisch.


0060Genovefa“, die einzige Opernkomposition von Schu-
0061mann, erschien bekanntlich zuerst (1850) auf der Leipziger
0062Bühne. Sie brachte es da, trotz Schumanns persönlicher
0063Anwesenheit, notdürftig auf drei Vorstellungen; hierauf
0064verflossen (wenn wir von der exklusiven Versuchsstation
0065Weimar absehen) lange Jahre, ohne daß irgendwo davon
0066die Rede war. In dem Maße, als die letzten zwanzig
0067Jahre die Würdigung Schumanns allenthalben verbreitet
0068und erhöht haben, erwachte auch wieder die Begierde der
0069Musikfreunde, diese Oper kennen zu lernen; Karlsruhe und
0070München machten jüngst einen Versuch damit, welcher nicht
0071eben ermutigend ausfiel. Zuletzt ging Direktor Herbeck 
0072in Wien an das gleiche Werk und tilgte so in ehrenvollster
0073Weise eine doppelte Schuld: an Schumann und an das
0074für diesen Tondichter enthusiastisch eingenommene Wiener
0075Publikum. Letzteres hörte die erste Vorstellung mit pietät-
0076voller Andacht und Aufmerksamkeit; von der zweiten an
0077begann es in bedenklicher Weise auszubleiben.


0078Aus einem ganzen Haufen von projektierten Opern-
0079stoffen hatte Schumann gerade einen der unpraktischesten
0080zur Ausführung gewählt: die Genovefa. „Nach Tieck und 
0081Hebbel“, heißt es auf dem Titelblatt des Textbuches; tat-
0082sächlich hielt sich Schumann ungleich weniger an Tiecks
0083Gedicht, als an Hebbels Drama — nicht zum Vorteil der
0084Oper.*)


0092Zu diesem Textbuche hat Schumann eine Musik ge-
0093schrieben, die, von deutscher Empfindung durchdrungen, von
0094edlem Ausdruck getragen, vor allem danach strebt, mit un-
0095bestechlicher Treue das Wort des Dichters zu interpretieren.
0096Leider krankt seine Musik an dem einen unheilbaren Uebel,
0097undramatisch zu sein. Schumanns ganze Natur, auf ein
0098tief innerliches Arbeiten und ein höchst subjektives, bis zur
0099Grübelei verfeinertes Empfinden gestellt, war undramatisch,
0100unfähig, sich an die Charaktere eines Dramas so zu ent-
0101äußern, daß sie als lebendige, scharf ausgeprägte Personen
0102vor uns stehen und gehen. In der „Genovefa“ haben alle
0103Personen etwas eigentümlich Gebundenes, Verhaltenes; ihr
0104Gesang überzeugt uns nicht; es ist, als suchten sie ihre
0105Freude und ihren Schmerz sich erst einzureden und anzu-
0106singen.


0107Und doch schrieb Schumann in wunderlicher Selbst-
0108täuschung an einen Freund, in seiner „Genovefa“ sei „jeder
0109Takt durch und durch dramatisch“. In wörtlichem Sinne
0110mag man das gelten lassen; jeder Takt für sich allein
0111ist allenfalls dramatisch, könnte es wenigstens sein in
0112anderer Umgebung, aber der einzelne Takt verschwindet in
0113dem Eindruck des ganzen Musikstückes, des ganzen Aktes,
0114der ganzen Oper. Der einzelne Takt! Das ist bei Schu-
0115mann ein feiner Strich in einem Aquarellbild; man füge
0116deren noch so viele fein säuberlich aneinander, sie bleiben
0117wirkungslos dort, wo al fresco gemalt werden muß.


0118Dasselbe vergebliche Ringen auf dem Felde der
0119Opernkomposition gewahren wir vor Schumann bei Franz
0120Schubert und Mendelssohn. Ihre Opern sind
0121uns schon deshalb verloren gegangen, weil Mendelssohn 
0122in der Textwahl zu kritisch, Schubert zu kritiklos vorging.
0123Ersterem war nie ein Libretto gut genug, letzterem ein
0124jedes.

[2]


0125Aus Mendelssohns Briefen ist bekannt, wie durch
0126seine ganze glänzende Laufbahn sich die Sehnsucht nach
0127dramatischer Wirksamkeit rastlos durchzog, ohne jemals
0128Befriedigung zu finden. Mit zahlreichen Poeten trat er
0129wegen eines Operntextes in Verbindung und eingehende
0130Korrespondenz; keiner befriedigte seine Ansprüche. Es ging
0131Mendelssohn genau so wie jemandem, der zeitlebens nach
0132einem Ideal von Braut sucht, es nirgends findet und
0133richtig als Hagestolz stirbt.


0134Was von Mendelssohns Opernmusik vorliegt (die
0135Jugendversuche „Cammacho“ und „Heimkehr“, dann das
0136Lorley-Fragment), kann uns in der Meinung nur
0137stärken, daß die Oper niemals mehr als ein künstlich
0138abgeleiteter Arm seines glänzenden musikalischen Talents
0139geworden wäre. Nach manchen prachtvollen dramatischen
0140Stellen in seinem „Paulus“ und „Elias“ wurde Mendels-
0141sohn vielfach für einen geborenen Opernkomponisten
0142gehalten. Allein die Folgerung von derlei in einer
0143epischen Umgebung wirkenden Partien auf einen eminenten
0144Beruf für die Oper gehört zu den trügerischen.
0145Mendelssohn fehlte die Gabe, sich stark und unmittelbar
0146auszusprechen; er hatte kein starkes Pathos, wie hätte er
0147es den dramatischen Personen, modifiziert nach deren
0148Charakter, geben können? Daß übrigens Mendelssohn an
0149dramatischer Begabung wie an praktischem Sinn noch hoch
0150über Schumann stand, braucht nicht erst gesagt zu werden.


0151Die Deutschen haben seit Mozart (der als Opern-
0152komponist doch in gewissem Sinne der letzte große Italiener
0153heißen darf) nur drei eminent dramatische Talente aufzu-
0154weisen. Weber, Meyerbeer und Wagner, welchen sich allen-
0155falls, in gemessenem Abstand, Marschner und Lortzing 
0156anreihen. Diese Männer haben sich von Anfang an und
0157vollständig der Oper gewidmet, wie dies auch die Opern-
0158komponisten der Italiener und Franzosen tun. Im Gegen-
0159satz dazu schrieben und schreiben noch immer Hunderte von
0160deutschen Komponisten Opern mit Mühe und Fleiß, aber ohne
0161spezifisch dramatisches Talent und ohne Kenntnis der
0162Bühne, ja oft sogar ohne jedes warme Interesse für das
0163Theater.


0164Zu lange vielleicht habe ich bei Mendelssohn und
0165Schumann verweilt. Aber das seltsame Verhältnis der drei
0166gleichzeitigen Meister Schumann, Mendelssohn und Berlioz 
0167verlockt als höchst interessant und eigenartig zu einer
0168näheren Betrachtung, welche es, meines Wissens, bisher
0169nicht gefunden hat. Alle drei Tondichter strebten ihr Lebe-
0170lang leidenschaftlich dem Theater zu: keiner von ihnen
0171hat es über rasch vorübergehende, heute so gut wie ver-
0172schollene Versuche gebracht. Ebenso charakteristisch wie diese
0173Uebereinstimmung erscheint auch ihr Gegensatz. Während
0174nämlich die beiden deutschen Meister neben ihren Opern-
0175versuchen sich hauptsächlich der symphonischen und Kammer-
0176musik widmeten und diese rein erhielten von allen
0177theatralischen Einflüssen, vermag Berlioz in keinem seiner
0178Orchesterstücke den in ihm unterdrückten revolutionierenden
0179Opernkomponisten zu verleugnen; er schreibt Symphonien,
0180erfüllt sie aber mit dramatischem Inhalt, gibt ihnen dra-
0181matische Titel, wandelt immer beängstigend knapp längs
0182der schmalen Küste, während Mendelssohn und Schumann 
0183frei und siegreich ins offene Meer der Instrumentalmusik
0184segelten. Berlioz’ Opern haben das Bühnenlicht in wenigen
0185Städten und nur vorübergehend erblickt. In Oesterreich 
0186ist eine einzige seiner Opern bekannt geworden:
0187Beatrice und Benedict“. Ihr allein gebührt des-
0188halb eine etwas ausführlichere Besprechung. Schon die
0189Wahl des Stoffes, gerade von Berlioz, ist seltsam genug.


0190Man muß sich ins Gedächtnis rufen, daß Herkules 
0191auch einmal Wolle aufgewickelt und Simson Getreide ge-
0192mahlen hat, um sich Berlioz als Komponisten einer komi-
0193schen Oper vorstellen zu können. Aus seinen Tondichtungen
0194kennen wir ihn als revolutionären, nur auf höchst Leiden-
0195schaftliches und phantastisch Tragisches gerichteten Geist,
0196aus seinen Schriften als harten Asketen, dem alle Unter-
0197haltungsmusik — auch im weitesten und besten Sinne —
0198ein Greuel war. Insbesondere verabscheute er die komische
0199Oper und pflegte, was ihm am verachtungs- und ver-
0200nichtungswürdigsten erschien, auf den Begriff „Opéra
0201comique“ zu häufen. Wer ihn vollends persönlich gekannt
0202hat, den Mann mit dem wilden, grauen Haarwald, dem
0203finsteren Blick und der pessimistischen Weltverachtung, der
0204würde alles andere eher von ihm erwartet haben, als eine
0205heitere Spieloper. Es war keine Delila, sondern der be-
0206rühmte Spielpächter von Baden-Baden, Bénazet, der
0207unserem musikalischen Simson die Locken schnitt und der
0208komischen Oper überlieferte. Auf Bénazets Drängen ent-
0209schließt sich Berlioz, zur Eröffnung des neuen Theaters in
0210Baden eine Oper nach Shakespeares Lustspiel „Viel
0211Lärm um Nichts“ zu komponieren. Er schrieb sich
0212selbst das Libretto und änderte nur den für den Kompo-
0213nisten gefährlichen Titel, versichernd, es werde in „Beatrice
0214und Benedict
“ auf keinen Fall „viel Lärm“ vor-
0215kommen. Die erste Aufführung fand am 9. August 1862 
0216statt; „mit großem Erfolg“, wie Berlioz schreibt — mit
0217sehr schwachem, wie deutsche Blätter berichteten. Die zweite
0218Aufführung folgte am 11. August; eine dritte hat nicht
0219stattgefunden. Und es glänzten doch in Berlioz’ Oper die
0220besten Kräfte der Pariser Opéra Comique: die Charton-
0221Demeur
und der vortreffliche Tenor Montaubry in
0222den Titelrollen.


0223In Shakespeares „Viel Lärm um Nichts“ sind be-
0224kanntlich zwei Handlungen ineinander verschlungen; eine
0225ernste: das durch Don Juans Intrigen verstörte Liebes-
0226verhältnis zwischen Hero und Claudio, und eine heitere:
0227der lustige Krieg Beatrices und Benedicts. Jede dieser
0228beiden Parallelhandlungen hat für sich den Stoff zu einer
0229Oper geliefert: BertonsMontano et Stephanie“ be-
0230handelt die ernste, Berlioz’ „Beatrice und Benedict“
0231die lustige Hälfte der Shakespeareschen Komödie. Berlioz 
0232nimmt an, daß Hero und Claudio bereits verlobt sind,
0233und läßt sie ruhig in ihrem Glücke schwelgen; desto leb-
0234hafter beschäftigen ihn Beatrice und Benedict, die beiden
0235Ehefeinde, die einander mit nicht versiegendem Spott her-
0236ausfordern, um sich schließlich — zu heiraten. Alle übrigen
0237Personen des Stückes gruppieren sich als Nebenfiguren um
0238diese beiden, denen sie gleichsam das Stichwort geben. In
0239allen entscheidenden Szenen hat Berlioz den Shakespeare’-
0240schen Text wörtlich beibehalten. Die possenhaften Episoden
0241unterdrückt er und ersetzt sie durch andere seiner eigenen
0242Erfindung. Ihm allein gehört die komische Figur des
0243Kapellmeisters Somarone, in welchem Berlioz seinen Wider-
0244sacher Fétis persiflieren wollte.


0245Der Berlioz des „Harald“ des „Romeo“ ist in
0246Beatrice und Benedict“ nicht wiederzuerkennen. Oder
0247richtiger: nur für denjenigen zu erkennen, der aufs
0248genaueste vertraut ist mit gewissen rhythmischen und
0249harmonischen Schrullen dieses Komponisten, mit seinen
0250feineren Farbenmischungen im Orchester und seinem Wechsel [3]
0251zwischen sprühenden Geistesblitzen und kindlich-trivialen
0252Kantilenen. Berlioz hat in dieser Oper die Rolle des
0253musikalischen Revolutionärs vollständig abgelegt; er macht
0254keine Miene, irgend etwas an dem Gewohnheitsrecht der
0255Opéra Comique zu reformieren, er verbleibt bei dem
0256Wechsel von Gesang und gesprochenem Dialog und fügt
0257sich in die herkömmliche Form der „morceaux carrés“.
0258In diese alten Schläuche gießt er nicht einmal den neuen
0259Wein seiner so eigenartigen Individualität; er kehrt viel-
0260mehr zurück zu der Ausdrucksweise der älteren
0261französischen Komponisten. „Beatrice und Benedict“ könnte
0262tatsächlich komponiert sein, ehe noch ein Auber auf der
0263Welt war. Nur in Einzelheiten, nicht in der Form oder
0264dem Grundton des Ganzen zeigt sich ein moderner Geist.
0265Das Orchester ist außerordentlich diskret, fast schüchtern
0266behandelt; die Posaunen haben den halben Abend hindurch
0267Ruhe, Lärminstrumente den ganzen. Diese Zurückhaltung
0268gibt der Oper einen wohltuend graziösen, intimen
0269Charakter, einen leichten Silberglanz von Vornehmheit.
0270Der Lustspielton bleibt durchwegs unangetastet, überschlägt
0271nirgends in das Fortissimo der großen Oper. Allerdings
0272ist mehr seine Anmut darin, als volle gesunde Fröhlichkeit
0273oder herzhafte Komik. „Berlioz ne sait pas rire“, sagte
0274einmal Jules Janin, und er hatte recht. Berlioz war
0275eine durchaus ernste, pathetische Natur, die sich zur Heiter-
0276keit zwingen mußte und Komisches selbst mit großer An-
0277strengung nicht erreichte — eben wegen der großen
0278Anstrengung.


0279Da Berlioz Shakespeares „Viel Lärm um Nichts“
0280als einen besonders glücklichen Opernstoff begrüßte, mag
0281er doch zwei nicht unwichtige Punkte übersehen haben.
0282Einmal, daß die witzigen Neckereien zwischen Beatrice und
0283Benedict, die im Lustspiel blitzschnell aufeinanderfolgen
0284und gerade durch dieses Schnellfeuerwerk so ergötzlich
0285wirken, sich beiweitem nicht so willig der Musik hingeben.
0286Die Musik braucht Zeit und Wiederholungen. Fürs
0287zweite liefert die aus Shakespeares Komödie heraus-
0288schälte Seitenhandlung „Beatrice und Benedict“ für
0289sich allein nicht hinreichenden Stoff für eine ganze Oper.
0290Ihr dramatisches Interesse ist ziemlich gering, jedenfall
0291sehr kurzatmig für einen ganzen Abend, zu wenig Handlung
0292und zu wenig Musik.


0293Die Reize der Berliozschen Oper sind fein und
0294eigenartig, aber intermittierend und von geringer Energie.
0295Beatrice und Benedict“ hat im Wiener Hofoperntheater
0296mit Schrödter und der Renard in den Hauptrollen 
0297seinerzeit interessiert; um stark und nachhaltig auf das
0298Publikum zu wirken, müßte diese seine Musik zugleich
0299eine viel reichere melodische Erfindung, frischere Farben
0300und lebendigere Bewegung entfalten.


0301Als Berlioz in einer Gesellschaft sich in maßlosen
0302Ausfällen gegen Wagner gefiel, wagte eine Dame die
0303schüchterne Bemerkung, daß Berlioz und Wagner ihr doch
0304verwandt vorkämen in ihrer Richtung. Berlioz empfand
0305dies als die ärgste Beleidigung, sprang auf und verließ
0306entrüstet die Gesellschaft. In Deutschland wußte man
0307längst, daß Wagner zwar keine Symphonie wie „Romeo
0308und Julie“ zu schreiben vermochte, daß aber noch viel
0309weniger Berlioz sich als Opernkomponist mit Wagner 
0310irgendwie messen kann. Dieser hatte den großen Verstand,
0311mit ganzer Kraft ausschließlich auf seinem dramatischen
0312Gebiet zu verharren, während Berlioz, einer traurigen
0313Selbsttäuschung folgend, den Ehrgeiz seiner alten Tage
0314für eine riesige Opernschöpfung („Les Troyens“) anspannte,
0315welche doch schließlich die Unzulänglichkeit seiner dramatischen
0316Begabung bewies.


0317Außer „Beatrice und Benedict“ hat Berlioz nur noch
0318zwei Opern auf die Bühne gebracht: „Benvenuto
0319Cellini
“ und „Die Trojaner“. Ueber beide muß
0320ich mich kurz fassen: einmal, weil sie dem Wiener Publi-
0321kum vollständig unbekannt geblieben; sodann weil ich selbst
0322sie nur aus dem Klavierauszug kenne. Das mahnt Berlioz 
0323gegenüber zu besonderer Vorsicht, da kaum bei einem
0324anderen Komponisten das Orchester so Wichtiges, oft
0325Entscheidendes mitspricht. Auf den Klavierauszug be-
0326schränkt, wird man Berlioz leicht unrecht tun. Immerhin
0327hat manche Stelle im „Cellini“ mich lebhaft interessiert
0328und sympathisch berührt. Schon die Textwahl, die
0329Romantik der Vorgänge und der Personen entsprach der
0330Individualität Berlioz’, des jungen Berlioz. Dasselbe
0331Sujet hat auch neben und nach Berlioz französische und
0332italienische Opernkomponisten angelockt; von Deutschen
0333Franz  Lachner in München. Nachdem „Cellini“ in Paris 
0334und London (1853) gänzlich durchgefallen war, nahm 
0335Liszt, der überall neidlos Großmütige, sich des unglück-
0336lichen Werkes an und brachte es 1855 in Weimar zur
0337Aufführung. Ihm folgte Bülow in Hannover. Diese
0338Aufführungen blieben jedoch sporadische Versuche; eine
0339Einbürgerung des fremdartigen Werkes wollte nie und
0340nirgends glücken. Hoffentlich gelingt heute dem trefflichen
0341Ernst v. Schuch das Wagestück in Dresden und spornt
0342andere Bühnen zur Nacheiferung. Für die „Trojaner
0343dürfen wir ein Gleiches kaum hoffen. Neben „Cellini“,
0344diesem schäumenden Jugendmost, erscheinen „Die Trojaner
0345in Karthago“ als das mühsam erquälte Produkt nahender
0346Altersschwäche. Zur Komposition des „Cellini“ trieb
0347den jungen Brausekopf die Begeisterung für den Stoff;
0348zu den „Trojanern“ das unablässige Zureden und
0349Drängen der Fürstin Karoline Wittgenstein. Darüber
0350geben Berlioz’ Briefe an die Fürstin vollkommene Klarheit.
0351Schwerlich bewahrt die Zukunft diesen Trojanern noch den
0352erhofften Lorbeer. Schon das von Berlioz aus Virgils
0353Aeneide gezimmerte trostlose Textbuch macht die Oper
0354halb unmöglich; die Musik ist in großem Sinne angelegt,
0355aber lahm, stockend, unlebendig, falscher Gluck. Von welchen
0356Schrullen versprach sich Berlioz eine besondere Wirkung?
0357Der „Rhapsode“, der vor Beginn des Stückes mit einer
0358Harfe in den Händen den „Prolog“ absingen muß, er-
0359schien nur bei den zwei ersten Aufführungen; dann strich
0360man ihn als gefährlichen Erzeuger allgemeiner Heiterkeit.
0361Solch wunderlicher archaistischer Einfälle, die vor einem
0362modernen Publikum ein gefährliches Spiel wagen, zählte
0363Berlioz’ Oper mehrere. Unter anderen kam, wie mir Stephen
0364Heller erzählte, ursprünglich ein Preiskonkurs der Dido 
0365vor, bei welchem die Zünfte aufmarschierten und jede Zunft
0366in einer anderen griechischen Tonart sang. Ernst Legouvé 
0367(der Dichter der „Adrienne Lecouvreur“) und ein Pro-
0368fessor der alten Sprachen halfen Berlioz bei der Abfassung
0369des Libretto. Berlioz hat hart vor seinem Lebensende doch
0370noch die Befriedigung gehabt, seine „Trojaner“ im
0371Théâtre Lyrique aufgeführt zu sehen. Sie sind nach wenigen
0372Reprisen (1863) für immer verschwunden. Der Mißerfolg
0373dieses Werkes war einer der letzten und tiefsten Dolch-
0374stiche, an welchen der alternde Meister verblutete. Er ist
0375(nach Gounods geistreichem Wort) wie sein heldenmütiger
0376Namensbruder Hektor unter den Mauern von Troja gefallen.

Fußnoten
  • *)Auch Anton Rubinstein hat sich bekanntlich um einen
    Operntext von Hebbel bemüht, mußte aber dessen Arbeit als ganz
    unbrauchbar beiseite legen. Der geniale Tragödiendichter war
    eigentlich ganz unmusikalisch. Als ich ihm einmal zuredete, Beethovens
    Eroica“ im Philharmonischen Konzert anzuhören, wies er den Vorschlag
    rundweg ab, mit den Worten: „Ich weiche Beethoven nicht aus,
    aber noch weniger suche ich ihn auf.“