1Humorist. No. 305. Samstag den 25. November 1854. 18. Jahrgang
2Vom Musikalisch-Schönen.
Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst von Dr. Ed. Hanslick.
Von Emil Kuh.
Das Werk, mit dem Eduard Hanslick zum ersten Mal in die Literatur tritt
und von dem die in der Beilage der „Wiener Zeitung“ veröffentlichten Bruch-
stücke die Aufmerksamkeit auch der Nichtmusiker erregten, ist so bedeutend,
daß es enthusiastische Anhänger und wüthende Gegner in der deutschen
Kritik finden und einen wichtigen Abschnitt in der Geschichte der Aesthetik dieser
Kunst bilden dürfte. Wer die ersten Seiten des Hanslick’schen Buchs gelesen hat,
der wird ebensowenig leugnen, daß ein tiefer Kenner der Musik und ihrer Theorie
zu ihm spricht, als es ihm entgehen kann, daß hier keine Schlacht auf gewonne-
nem Gebiet geschlagen, sondern das Terrain selbst der Gegenstand des Kampfes
ward. Das Hanslick’sche Buch ist nicht polemischer Natur, es ist ein Feldzug: denn
nicht diese oder jene Meinung soll bestritten, nicht eine irrige Ansicht aufgeklärt,
ein zweifelhafter Punkt in’s rechte Licht gesetzt werden, nein, sogenannte Resultate
der Aesthetik der Tonkunst, Grundsätze und Begriffsbestimmungen durch viele, mit-
unter würdige Namen in der Wissenschaft, durch die Tradition von Decennien
und die allgemeine Geschmacksrichtung des Publikums sanctionirt, sollen in ihr
Nichts aufgelöst und ihre unberechtigten, dem innersten Wesen dieser Kunst ent-
gegengesetzten Prämissen und Consequenzen gezeigt werden. Richard Wagners
Bilderstürmerei findet in dem vorliegenden Buche einen ganz prächtigen Alba,
und es war auch Zeit, jenem wüsten, wenn auch genialen Theoretiker und Produ-
centen in einer Person mit aller Energie an den Leib zu rücken. Weil dies aber
dadurch geschah, daß man den Kreis der Tonkunst neuerdings abgemessen und ihre
Aesthetik revidirte, ohne von dem verrückten Ingenieur weiter Notiz zu nehmen,
der darin Raum für ein Pantheon, einen Circus, ein Spital und eine Festung
entdeckte, so ist die Wirkung eine um so reinere und schlagendere, da die Sache
ihrer selbst willen einer Prüfung unterzogen erscheint.
Das Hanslick’sche Buch zerfällt in sieben Kapitel, unter denen das erste,
zweite und letzte, welche die Begriffe Zweck und Inhalt der Musik bestimmen und
die Herrschaft der Gefühle aus dem Centrum der Musik hinausweisen, die wichtig-
sten sind. Wie die Aesthetik der Kunst im Allgemeinen erst in den letzten Decen-
nien dieser einen Selbstzweck vindicirte und deren Aufgabe, auf Staats- und
Völkerleben, auf Humanität und Sittlichkeit zu wirken, in zweite Linie rückte,
wie sie selbst das reinste, d. h. das unabsichtlichste Utilitätsprinzip als mit der
Heiligkeit und Größe der Kunst unverträglich erklärte, ebenso brachte Hanslick in
diese specielle Sphäre der Kunst Verstand und Ordnung und entkleidete die
Musik ihres falschen Helmschmuckes, beraubt sie ihrer Piken und Fähnlein, auf
welche Dinge bis jetzt grade der einzige Nachdruck gelegt worden war. Man hatte
sich gewöhnt, eine bemalte, mit der Farbenpracht des Colibri künstlich ausgestattete
Nachtigall in der Musik zu sehen und man wird von Profanation, Verstandes-
Construction u. s. w. sprechen, wenn man hört, daß „Vhilomele“ ein grauer Vogel
sei. Die Musik, als die einzig begrifflose Kunst — mit Ausschluß der Architectur
— mußte, da man ihr keine Ideen im philosophischen Sinn unterschieben konnte,
nothwendig von der Masse als das beste Ausdrucksmittel der Gefühle betrachtet
werden; aber man vergaß, daß auch diese erst durch Begriffe aus einer allgemei-
nen farblosen Empfindung sich zu Gefühlen verdichten und dann in bestimmt
begrenzte sich zertheilen. Die Gefühle, welche die Musik zum Ausdruck brächte,
könnten überirdische, doch nimmer menschliche Wesen durchzittern, in denen ein
Endliches angeregt werden muß, das nur durch einschränkende Begriffe im Reiche
der Vernunft wie der Anschauung möglich ist. Aber die Musik weiß nichts von
einschränkenden Begriffen, sie kennt bloß eine allgemein-traurige, eine allgemein-
heitere Stimmung, und ihr Zweck und ihr Inhalt, welchen letzteren Hanslick
auf Gehalt reducirt, liegt in ihrem eigensten Kreise und ist nicht allgemein
menschlicher, sondern specifisch-musikalischer Natur.
(Fortsetzung folgt.)
3Humorist. No. 306. Sonntag den 26. November 1854. 18. Jahrgang
4Vom Musikalisch-Schönen.
Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst von Dr. Ed. Hanslick.
Von Emil Kuh.
(Fortsetzung.)
Hanslick hat auf die eindringlichste und schlagendste Weise bewiesen, daß
die Musik nicht nur keine bestimmte Freude, keinen bestimmten Schmerz darstellen
kann, sondern daß es ihr auch unmöglich ist, mehr als eine Stimmung von
Schmerz, eine Stimmung von Freude anzuregen. Er überzeugte uns, daß die
Musik weder die Wuth einer Medea von der eines Kärrner’s unterschieden zu
schildern, noch durch Töne auszudrücken vermag, daß wir es überhaupt mit
Wuth, nicht etwa mit Zorn, Haß, Liebesraserei, Glaubensfanatismus u. dgl. zu
thun haben. Wo aber eine solche Individualisirung ersten Grades nicht einmal
möglich, wie soll da noch weiter von einer künstlerischen Manifestation der Ge-
fühle die Rede sein! Dies ist klar. Wenn Hanslick aber die Anforderung an den
ästhetisch Gebildeten stellt, sich an der reinen Form dieser Kunst, ohne Neben-
wünsche und Beziehungen zu erfreuen und den Genuß blos in ihrem Specifischen
zu suchen, so verlangt er da nicht das, was jeder Künstler in jeder Kunst ver-
langen muß, nein, er verlangt, meiner Ansicht nach, etwas den Bedingungen der
menschlichen Natur und der Kunst Widerstrebendes. Hier ist für mich der Punkt,
wo ich Hanslick nicht beistimmen kann; denn in der Musik sehen wir, wie Hans-
lick unwiderleglich darthut, „Inhalt und Form, Stoff und Gestaltung, Bild und
Idee in dunkler, untrennbarer Einheit verschmolzen“ und er bemerkt ganz richtig,
daß „dieser Eigenthümlichkeit der Tonkunst, Form und Inhalt ungetrennt zu be-
sitzen, die dichtenden und bildenden Künste schroff gegenüberstehen.“ Dieser un-
leugbare Mangel der Tonkunst kann nun doch nie und nimmer einen Mangel
in der Seele des Genießenden zu seinem Bundesgenossen begehren, um so weni-
ger, als eine Allianz solchen Schlages die ganze Tonkunst selber zu einem inhalt-
losen Spiel, in ästhetischer wie in ethischer Bedeutung herabdrücken müßte, die
Malerei, die Plastik, namentlich die Poesie haben grade darin ihre künstlerische
Aufgabe zu lösen, „Form“ und „Inhalt“ ineinander zu schmelzen, und dieser ge-
heimnißvolle Act, den man den schöpferischen Prozeß nennt, gebiert erst das Wun-
der jener Form, die als beseelter Leib das Eigentliche, Ewige der Kunst darstellt.
Shakespeare fordert daher vom Genießenden die Freude an der Form seines
„Lear,“ seines „Macbeth,“ unbekümmert um die rohe Materie, die sich in dieser
Szene, in jener Charakterwendung am leichtesten betasten läßt, und er fordert es
mit Recht; ebenso Raphael, wenn er seine sixtinische Madonna aus dem Himmel
hervorzaubert; ebenso der Grieche, der die Majestät des olympischen Gottes aus
dem Marmor entbindet. Beethoven jedoch, wenn er zwar mit demselben Rechte
begehrt, der Hörer seiner Symphonie soll die „klingend bewegten Formen“ ge-
nießen, kann dies nicht in dem absoluten Maße begehren, wie es den früher ge-
nannten Künstlern zusteht. Dort sollten wir den Inhalt der Welt, alles was den
Menschengeist und das Menschenherz erfüllt, aus einem Becher edlen Weines trinken
und hier uns plötzlich mit der Glut und Flüßigkeit des Weines allein begnügen?!
Die Musik hat ihre spezifische Schönheit in den „klingend bewegten For-
men“ und nach dieser muß zuerst gefragt werden, Gefühle sind nicht ihr Zweck
und nicht ihr Inhalt, aber sie muß Bilder, Gefühle und Gedanken im ästhe-
tischsten, „musikalischsten“ Zuhörer erwecken und sie thut es auch. Hundert
Menschen, wenn sie aus einer Beethoven’schen Symphonie kämen und aufgefordert
würden, das von der Musik Erregte zu Papier zu bringen, müßten, wie Hanslick
mit Recht behauptet, jeder etwas Anderes zu notiren haben. Wohl, doch jeder
würde etwas zu notiren haben, keiner setzte sich von den Tönen unbefruchtet an
das Pult. Das Materiale dieser Kunst ist eben der Art, daß der Genießende
nicht gebunden wird, daß er im Gegentheil umherschwärmen kann, wie es ihm
gefällt. Hebbel’s tiefsinniges Epigramm:
Jede Form ist ein Kerker, wie hält die Natur denn das Leben /
Fest in allen? Sie hat keinen mit Fenstern versehen, /
stößt im Umkreise von Natur und Kunst in der Musik zum ersten und letzten Mal
auf eine Ausnahme. Dieser Kerker ist mit Fenstern versehen, wenigstens mit Luft-
löchern und das Leben strömt wechselseitig, zerstörend und erzeugend, aus und ein.
(Schluß folgt.)
5No. 309. Mittwoch den 29. November 1854. 18. Jahrgang
6Vom Musikalisch-Schönen.
Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst von Dr. Ed. Hanslick.
Von Emil Kuh.
(Schluß.)
Wenn Hanslick sagt, daß den Componisten nicht irgend ein Gefühl, eine
Idee zum Schaffen anrege, sondern daß er eine Melodie, ein Thema klingen höre,
so erleidet das keinen Widerspruch; auch der Dichter sieht eine Gestalt, vernimmt
eine Stimme, dem bildenden Künstler geht eine Erscheinung auf, und dann com-
poniren, dichten und malen die Leute. Aber jeder unter ihnen, mit Einschluß des
Componisten, wird von der Zeit und ihren Schicksalen, von den Ideen und Con-
flicten der Welt berührt, und bei der Produktion eines jeden influenziren ganz
gewaltig die individuellen Leiden und Freuden, und das Alles theilt sich nun
unbewußt dem künstlerischen Gebilde mit. Die Musik ist dem Feuer vergleichbar.
Dieses verzehrt Kronen und Papierstreifen, Blumen und Metall, und diese Gegen-
stände werden Feuer und nur Feuer, bald rothstrahlend, bald bläulich züngelnd,
bald in Flammen emporschlagend, bald als Glut sich zusammenpressend, doch das
Feuer hat Kronen und Papierstreifen, Blumen und Metall gefressen. Roms Unter-
gang und Napoleons Kaisergröße, Lieb’ und Haß, Conflicte der tiefsten und der
schmerzlichsten Art, wenn sie auch den Componisten im Innersten durchzittern,
sie sind nur Klänge, Tonfiguren, Schallwellen, harmonisch verknüpft, zur Melodie
crystallisirt, sobald sie uns als Musik entgegentreten; alle bestimmten Linien er-
bleichen, jede Grenze verschwindet, das Individuelle, Concrete des Gedankens und
Gefühls wird zum allgemeinen Feuer, aber im Genießenden wandeln die Schatten
sich in lebendige Individuen um, und Gefühle und Gestalten, wenn auch schein-
bar mit ungezügelter Willkühr, steigen in ihm auf. Daß die Musik nun ein
solcher Conductor des Menschengeistes ist, daß sie ebenfalls an den „großen Be-
wegungen im Weltall“ participirt, dafür liefert uns die „reine Kunst,” als welche
Hanslick bloß die Instrumentalmusik betrachtet, keinen Beweis, wohl aber die
Vocalmusik, oder die Musik überhaupt, sobald sie mit den übrigen Künsten und
mit dem empirischen Leben sich verbindet, sobald sie mit einem Wort einen dienen-
den Charakter annimmt, wie wir dies an jedem vortrefflichen Liede täglich
erfahren können.
Das sechste Capitel des Hanslick’schen Buches, das „von den Beziehungen
der Tonkunst zur Natur“ handelt, erläutert uns das merkwürdige Phänomen der
Musik: Inhalt und Form ungetrennt zu besitzen und gibt uns einen Erklärungs-
grund für das mysteriöse Gesetz, das in dieser sinnlichsten aller Künste waltet,
welches in uns dennoch einen übersinnlichen Eindruck hervorruft, indem Hanslick
auf eben so gelehrte als anschauliche Weise die Nichtexistenz eines
Naturschönen für die Mustk darthut. Die Musik ist ausschließlich ein Pro-
dukt des Menschengeistes nach Form und Inhalt und trotzdem seine sinnlichste
Emanation. „Hat Jemand in der Natur einen Dreiklang gehört, einen Sext- oder
Septim-Accord? Wie die Melodie so war auch (nur in viel langsamerem Fort-
schreiten) die Harmonie ein Erzeugniß menschlichen Geistes.” —„Dadurch, daß
in der Musik Alles commensurabel sein muß, in den Naturlauten aber nichts
commensurabel ist, stehen diese beiden Schallreiche unvermittelt nebeneinander.
Die Natur gibt uns nicht das künstlerische Material eines fertigen, vorgebildeten
Tonsystems, sondern nur den rohen Stoff der Körper, die wir der Musik dienstbar
machen. Nicht die Stimmen der Thiere, sondern ihre Gedärme sind uns wichtig,
und das Thier, dem die Musik am meisten verdankt, ist nicht die Nachtigall,
sondern das Schaf.“ Ich müßte das ganze Capitel exerciren, wollte ich von der
wunderbaren Entwicklung der Ideen Hanslick’s über das Verhältniß der Musik zur
Natur einen Begriff geben.
Das ganze Buch zeichnet sich durch schärfste Analyse und klarste Darstellung
vor den meisten wissenschaftlichen Arbeiten, die in Deutschland hervortreten, aus,
und namentlich ward, was schon einige Kritiker hervorhoben, die merkwürdige
Ehe zwischen unerbittlicher Dialektik und poetischer Anschauung darin vollzogen.
Man wird auch auf keinem Kunstgebiet etwas Ersprießliches fördern, wenn nicht
in einem und demselben Aesthetiker jene beiden Eigenschaften zusammenfallen,
denn es existiren Punkte in der Kunst, und das sind leider die wichtigsten, wo
man durchaus nur mit der Anschauung den Dingen an den Leib zu rücken ver-
mag, wo man nur mit einem Bilde dem Bilde nahe kommt; Glas kann bloß
mit Diamanten geschnitten werden.
Die Ausstattung des Buches von Rudolph Weigel in Leipzig ist eine sehr
gefällige und dürfte zur größeren Verbreitung desselben beitragen, obgleich es an
und für sich gute Beine hat.