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Eduard Hanslick.


I.


Wenn irgend etwas in unserer Zeit der Verwirrung
der Gedanken über Musik noth thut, so ist es die Erkennt-
niss ihres wahren Wesens als selbstständige Kunst.
Das Unkraut auf dem Felde der musicalischen Aesthetik
hat in den letzten Jahren dermaassen gewuchert, dass es
den gesunden Menschenverstand zu ersticken droht; ja, es
muss dies letztere wohl schon bei einem Theile der Zeitge-
nossen, die sich um die Tonkunst bekümmern, gelungen
sein, sonst wäre es unmöglich, dass ein Gewäsch, wie z. B.
dasjenige, das der Artikel „Moderne Kritik“ in unserer Nr.
5 zum Besten gegeben, noch irgend einen Leser fande. Die
Verwirrung der Begriffe ist aber vorzüglich dadurch ent-
standen und wird täglich noch dadurch vergrössert, dass
die Meisten von denen, die sich zur Schriftstellerei über
Musik, Gott weiss, wodurch! berufen fühlen, entweder wis-
senschaftlich gebildete Denker und nicht zugleich Musiker,
oder Musiker und nicht zugleich Männer der Wissenschaft
sind, womit wir keineswegs eine dritte Classe läugnen wol-
len, welche diejenigen bilden, die weder Philosophen noch
Musiker sind. Welche Classe von Wortführern das Wesen
der Tonkunst mehr verkannt und den grösseren Schaden
angerichtet habe, ist schwer zu entscheiden. So viel scheint
uns jedoch ausgemacht, dass die wirklichen Philosophen,
wenn sie auch nichts von Musik verstehen, wie z. B. Hegel,
doch zum Denken über die Kunst anregen und gar manche
Sätze aufstellen, welche theils positiv fördernd werden,
theils negativ, d. h. durch Anregung zur Prüfung und Wi-
derlegung derselben; dass aber die schriftstellernden Musi-
ker mit ihrem Symbolisiren und schöngeistischen Raisonni-
ren mehr Verwirrung anrichten als jene, sobald ihnen die
zwei Grundlagen aller Erkenntniss menschlicher Dinge, das
historische Wissen und das logische Denken, abgehen.


Mit wahrer Freude reichen wir daher einem Manne
die Hand, der in einer nicht umfang-, aber inhaltreichen
Schrift das Wesen der Musik als einer selbstständigen Kunst
zu ergründen sucht, und sich zu dieser Untersuchung so-
wohl durch musicalische Kenntnisse als durch wissenschaft-
lichen Sinn, logische Schärfe der Gedanken-Entwicklung
und klare Darstellung als vollkommen berechtigt ausweis’t.
Die Schrift heisst:


Vom Musicalisch-Schönen. Ein Beitrag zur
Revision der Aesthetik der Tonkunst. Von Dr.
Ed. Hanslick. Leipzig, 1854, bei R. Weigel.“


Zwar ist sie in diesen Blättern bereits (in Nr. 44 des
vor. Jahrgangs, v. 4. Nov.) von unserem Herrn Correspon-
denten in Wien sehr warm empfohlen worden; allein ihre
Bedeutung ist viel zu gross und ihr Erscheinen für uns und
die seit Jahren von uns vertretenen Grundsätze viel zu er-
freulich, als dass wir ihr nicht eine wiederholte und aus-
führlichere Besprechung widmen sollten. Um aber die tüch-
tige Arbeit von vorn herein durch eine Probe ihres Gei-
stes und ihrer Resultate sich selbst empfehlen zu lassen
theilen wir zunächst das letzte Capitel derselben im Aus-
zuge mit, und werden die weitere Entwicklung des Ideen-
ganges des Verfassers daran knüpfen.


Hat die Musik einen Inhalt?


So lautet, seit man gewohnt ist, über unsere Kunst
nachzudenken, ihre hitzigste Streitfrage. Sie wurde für und
wider entschieden. Gewichtige Stimmen behaupten die In-
haltlosigkeit der Musik, sie gehören beinahe durchaus den
Philosophen: Rousseau, Kant, Hegel, Vischer,
Kahlert u. A. Die ungleich zahlreicheren Kämpfer fech-
ten für den Inhalt der Tonkunst; es sind die eigentlichen
Musiker unter den Schriftstellern, und das Gros der all-
gemeinen Ueberzeugung steht zu ihnen.


Fast mag es seltsam erscheinen, dass gerade diejeni-
gen, welchen die technischen Bestimmungen der Musik ver-
traut sind, sich nicht von dem Irrthume einer diesen Be-
dingungen widersprechenden Ansicht lossagen mögen, die
man eher dem abstracten Philosophen verzeihen könnte.
Das kommt daher, weil es vielen Musik-Schriftstellern in
diesem Punkte mehr um die vermeintliche Ehre ihrer Kunst,
als um die Wahrheit zu thun ist. Sie befehden die Lehre

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von der Inhaltlosigkeit der Musik nicht wie Meinung gegen
Meinung, sondern wie Ketzerei gegen Dogma. Die gegne-
rische Ansicht erscheint ihnen als unwürdiges Missverstehen,
als grober, frevelnder Materialismus. Es handelt sich hier
um keinen Ehrenpunkt, kein Partei-Zeichen, sondern ein-
fach um die Erkenntniss des Wahren, und zu dieser zu ge-
langen, muss man sich vor Allem über die Begriffe klar
sein, die man bestreitet.


Die Verwechslung der Begriffe Inhalt, Gegenstand,
Stoff ist, was in dieser Materie so viel Unklarheit verur-
sacht hat und noch immer veranlasst, da Jeder für densel-
ben Begriff eine andere Bezeichnung gebraucht, oder mit
dem gleichen Worte verschiedene Vorstellung verbindet.
Inhalt“ im ursprünglichen und eigentlichen Sinne ist,
was ein Ding enthält, in sich hält. In dieser Bedeutung
sind die Töne, aus welchen ein Musikstück besteht, welche
als dessen Theile es zum Ganzen bilden, der Inhalt dessel-
ben. Dass sich mit dieser Antwort Niemand zufrieden stel-
len mag, sie als etwas ganz Selbstverständliches abfertigend,
hat seinen Grund darin, dass man gemeiniglich „Inhalt“
mit „Gegenstand“ verwechselt. Bei der Frage nach dem
„Inhalt“ der Musik hat man die Vorstellung von „Gegen-
stand
“ (Stoff, Sujet) im Sinne, welchen man als die Idee,
das Ideale den Tönen als „materiellen Bestandtheilen“ ge-
radezu entgegensetzt. Einen Inhalt in dieser Bedeutung,
einen Stoff im Sinne des behandelten Gegenstandes hat
die Tonkunst in der That nicht. Kahlert stützt sich mit
Recht nachdrücklich darauf, dass sich von der Musik nicht,
wie vom Gemälde, eine „Wortbeschreibung“ liefern lässt
(Aesth. 380), wenngleich seine weitere Annahme irrig ist,
dass solche Wortbeschreibung jemals eine „Abhülfe für
den fehlenden Kunstgenuss“ bieten kann. Aber eine erklä-
rende Verständigung, um was es sich handelt, kann sie
bieten. Die Frage nach dem „Was“ des musicalischen In-
halts müsste sich nothwendig in Worten beantworten las-
sen, wenn das Musikstück wirklich einen „Inhalt“ (einen
Gegenstand) hätte. Denn ein „unbestimmter Inhalt“,
den sich „Jedermann als etwas Anderes denken kann“, der
sich „nur fühlen“, „nicht in Worten wiedergeben lässt“,
ist eben kein Inhalt in der genannten Bedeutung.


Die Musik besteht aus Tonreihen, Tonformen; diese
haben keinen anderen Inhalt, als sich selbst. Wir erinnern
abermals an die Baukunst und den Tanz, die uns gleich-
falls schöne Verhältnisse ohne bestimmten Inhalt entgegen-
bringen. Mag nun die Wirkung eines Tonstückes Jeder
nach seiner Individualität anschlagen und benennen, der In
halt
desselben ist keiner, als eben die gehörten Tonformen;
denn die Musik spricht nicht bloss durch Töne, sie spricht
auch nur Töne. — —


Es bedarf wohl nicht der ausdrücklichen Beru-
fung auf den früher begründeten Satz, dass, wenn vom In-
halt und von der Darstellungsfähigkeit der „Tonkunst“ die
Rede ist, nur von der reinen Instrumental-Musik aus-
gegangen werden darf. Niemand wird dies so weit verges-
sen, uns z. B. den Orestes in Gluck’s „Iphigenia“ einzu-
wenden. Diesen „Orestes“ gibt ja nicht der Componist;
die Worte des Dichters, Gestalt und Mimik des Darstellers,
Costume und Decorationen des Malers — dies ist’s, was den
Orestes fertig hinstellt. Was der Musiker hinzugibt, ist
vielleicht das Schönste von Allem; aber es ist gerade
das Einzige, was nichts mit dem wirklichen Orest zu schaf-
fen hat: Gesang.


Lessing hat mit wunderbarer Klarheit aus einander
gesetzt, was der Dichter und was der bildende Künstler aus
der Geschichte des Laokoon zu machen vermag. Der Dich-
ter, durch das Mittel der Sprache, gibt den historischen, in-
dividuel bestimmten Laokoon, der Maler und Bildhauer hin-
gegen einen Greis mit zwei Knaben (von diesem bestimm-
ten Alter, Aussehen, Costume u. s. f.), von den furchtbaren
Schlangen umwunden, in Mienen. Stellung und Geberden
die Qual des nahenden Todes ausdrückend. Vom Musiker 
sagt Lessing nichts. Ganz begreiflich; denn nichts ist es
eben, was er aus dem Laokoon machen kann.


Wir haben bereits angedeutet, wie enge die Frage nach
dem Inhalt der Tonkunst mit deren Stellung zum Na-
turschönen
zusammenhängt. Der Musiker findet nicht
das Vorbild für seine Kunst, welches den anderen Künsten
die Bestimmtheit und Erkennbarkeit ihres Inhalts gewähr-
leistet. Eine Kunst, der das vorbildende Naturschöne ab-
geht, wird im eigentlichen Sinne körperlos sein. Das Urbild
ihrer Erscheinungsform begegnet uns nirgend, fehlt daher
in dem Kreise unserer gesammelten Begriffe. Es wiederholt
keinen bereits bekannten, benannten Gegenstand, darum
hat es für unser in bestimmte Begriffe gefasstes Denken
keinen nennbaren Inhalt.


Vom Inhalt eines Kunstwerkes kann eigentlich nur
da die Rede sein, wo man diesen Inhalt einer Form ent-
gegenhält. Die Begriffe „Inhalt“ und „Form“ bedingen
und ergänzen einander. Wo nicht eine Form von einem
Inhalt dem Denken trennbar erscheint, da existirt auch kein
selbstständiger Inhalt. In der Musik aber sehen wir Inhalt
und Form, Stoff und Gestaltung, Bild und Idee in dunkler,
untrennbarer Einheit verschmolzen. Dieser Eigenthümlich-
keit der Tonkunst, Form und Inhalt ungetrennt zu besitzen,

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stehen die dichtenden und bildenden Künste schroff gegen-
über, welche denselben Gedanken, dasselbe Ereigniss in
verschiedener Form darstellen können. Aus der Geschichte
des Wilhelm Tell machte Florian einen historischen Ro-
man, Schiller ein Drama, Göthe begann, sie als Epos
zu bearbeiten. Der Inhalt ist überall derselbe, in Prosa auf-
zulösende, erzählbare, erkennbare; die Form verschieden.
Die dem Meere entsteigende Aphrodite ist der gleiche In-
halt unzähliger gemalter und gemeisselter Kunstwerke, die
durch die verschiedene Form nicht zu verwechseln sind. Bei
der Tonkunst gibt es keinen Inhalt gegenüber der Form,
weil sie keine Form hat ausserhalb des Inhalts. Betrachten
wir dies näher.


Die selbstständige, ästhetisch nicht weiter theilbare,
musicalische Gedanken-Einheit ist in jeder Composition das
Thema. Die primitiven Bestimmungen, die man der Mu-
sik
als solcher zuschreibt, müssen sich immer am Thema,
dem musicalischen Mikrokosmus, nachweisbar finden. Hö-
ren wir irgend ein Haupt-Thema, z. B. zu Beethoven’s
B-dur-Sinfonie. Was ist dessen Inhalt? was seine Form?
Wo fängt diese an? wo hört jene auf? Dass ein bestimmtes
Gefühl nicht Inhalt des Satzes sei, hoffen wir dargethan zu
haben, und wird in diesem, wie in jedem anderen concre-
ten Falle nur immer einleuchtender erscheinen. Was also
will man den Inhalt nennen? Die Töne selbst? Gewiss;
allein sie sind eben schon geformt. Was die Form? Wie-
der die Töne selbst — sie aber sind schon erfüllte Form.


Jeder praktische Versuch, in einem Thema Form von
Inhalt trennen zu wollen, führt auf Widerspruch oder
Willkür. Zum Beispiel: Wechselt ein Motiv, das von einem
anderen Instrumente oder einer höheren Octave wiederholt
wird, seinen Inhalt oder seine Form? Behauptet man, wie
zumeist geschieht, das Letztere, so bliebe als Inhalt des
Motivs bloss die Intervallen-Reihe als solche, als Schema
der Notenköpfe, wie sie in der Partitur dem Auge sich dar-
stellt. Dies ist aber keine musicalische Bestimmtheit,
sondern ein Abstractum. Es verhält sich damit, wie mit
den gefärbten Glasfenstern eines Pavillons, durch welche
man dieselbe Gegend roth, blau, gelb erblicken kann. Diese
ändert hiedurch weder ihren Inhalt, noch ihre Form,
sondern lediglich die Färbung. Solch zahlloser Farben-
wechsel derselben Formen vom grellsten Contrast bis zur
feinsten Schattirung ist der Musik ganz eigenthümlich und
macht eine der reichsten und ausgebildetsten Seiten ihrer
Wirksamkeit aus.


Eine für Clavier entworfene Melodie, die ein Zweiter
später instrumentirt, bekommt durch ihn allenfalls eine
neue Form, aber nicht erst Form; sie ist schon geform-
ter
Gedanke. Noch weniger wird man behaupten wollen,
ein Thema ändere durch Transposition seinen Inhalt und
behalte die Form, da sich bei dieser Ansicht die Wider-
sprüche verdoppeln und der Hörer augenblicklich erwidern
muss, er erkenne einen ihm bekannten Inhalt, nur „klinge
er verändert.“


Bei ganzen Compositionen, namentlich grösserer Aus-
dehnung, pflegt man freilich von deren Form und Inhalt
zu sprechen. Dann gebraucht man aber diese Begriffe nicht
in ihrem ursprünglich logischen Sinne, sondern schon einer
specifisch musicalischen Bedeutung. Die „Form“ einer
Sinfonie, Ouverture, Sonate nennt man die Architektonik
der verbundenen Einzelheiten und Gruppen, aus welchen
das Tonstück besteht; näher also: die Symmetrie dieser
Theile in ihrer Reihenfolge, Contrastirung, Wiederkehr und
Durchführung. Als den Inhalt begreift man aber dann
die zu solcher Architektonik verarbeiteten Themen. Hier
ist also von einem Inhalt als „Gegenstand“ keine Rede
mehr, sondern lediglich von einem musicalischen. Bei gan-
zen Tonstücken wird daher „Inhalt“ und „Form“ in einer
künstlerisch angewandten, nicht in der rein logischen Be-
deutung gebraucht; wollen wir diese an den Begriff der
Musik legen, so müssen wir nicht an einem ganzen, daher
zusammengesetzten Kunstwerke operiren, sondern an des-
sen letztem, ästhetisch nicht weiter theilbarem Kern. Dies
ist das Thema, oder die Themen. Bei diesen lässt sich in
gar keinem Sinne Form und Inhalt trennen. Will man Je-
mandem den „Inhalt“ eines Motivs namhaft machen, so
muss man ihm das Motiv selbst vorspielen. So kann
also der Inhalt eines Tonwerkes niemals gegenständlich,
sondern nur musicalisch aufgefasst werden, nämlich als das
in jedem Musikstücke concret Erklingende. Nachdem die
Composition formellen Schönheits-Gesetzen folgt, so impro-
visirt sich ihr Verlauf nicht in willkürlich planlosem Schwei-
fen, sondern entwickelt sich in organisch übersichtlicher
Allmählichkeit wie reiche Blüthen aus Einer Knospe.


Dies ist das Haupt-Thema — der wahre Stoff und
Inhalt des ganzen Tongebildes. Alles darin ist Folge und
Wirkung des Thema’s, durch es bedingt und gestaltet, von
ihm beherrscht und erfüllt. Es ist das selbstständige Axiom,
das zwar augenblicklich befriedigt, aber von unserem Geiste
bestritten und entwickelt geschen werden will, was denn
in der musicalischen Durchführung, analog einer logischen
Entwicklung, Statt findet. Wie die Haupt-Figur eines Ro-
mans bringt der Componist das Thema in die verschieden-
sten Lagen und Umgebungen, in die wechselndsten Erfolge

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und Stimmungen — alles Andere, wenn noch so contrasti-
rend, ist in Bezug darauf gedacht und gestaltet.


Inhaltlos werden wir demnach etwa jenes freieste
Präludiren nennen, bei welchem der Spieler, mehr aus-
ruhend als schaffend, sich bloss in Accorden, Arpeggio’s,
Rosalien ergeht, ohne eine selbstständige Tongestalt be-
stimmt hervortreten zu lassen. Solche freie Präludien wer-
den als Individuen nicht erkennbar oder unterscheidbar sein;
wir werden sagen dürfen, sie haben (im weiteren Sinne)
keinen Inhalt, weil kein Thema.


Das Thema eines Tonstückes ist also sein wesentlicher
Inhalt.


In Aesthetik und Kritik wird auf das Haupt-Thema 
einer Composition lange nicht das gehörige Gewicht gelegt.
Das Thema allein offenbart schon den Geist, der das ganze
Werk geschaffen. Wenn ein Beethoven die Ouverture zur
Leonore“ so anfängt, oder ein Mendelssohn die Ouver-
ture zur „Fingalshöhle“ so — da muss jeder Musiker,
ohne von der weiteren Durchführung noch eine Note zu
wissen, erkennen, vor welchem Palast er steht. Klingt uns
aber ein Thema entgegen, wie das zur Faust-Ouverture
von Donizetti, oder „Louise Miller“ von Verdi, so bedarf
es ebenfalls keines Eindringens in das Innere, um uns zu
überzeugen, dass wir in der Kneipe sind. In Deutschland 
legt Theorie und Praxis einen überwiegenden Werth auf
die musicalische Durchführung gegenüber dem thema-
tischen Gehalt. Was aber nicht (offenkundig oder versteckt)
im Thema ruht, kann später nicht organisch entwickelt
werden, und weniger vielleicht in der Kunst der Entwick-
lung, als in der symphonischen Kraft und Fruchtbarkeit
der Themen liegt es, dass unsere Zeit keine Beethoven’-
schen Orchesterwerke mehr aufweis’t. In fleissiger Ver-
wendung des Geringen kann sich ein kluger Hausvater er-
proben; ein Fürst muss mit vollen Händen schenken. Es
ist auch von der blossen Durchfuhr in der Musik eben so
wenig Jemand reich geworden, als in der National-Oeko-
nomie.


Bei der Frage nach dem Inhalt der Tonkunst muss
man sich insbesondere hüten, das Wort in lobender Be-
deutung
zu nehmen. Daraus, dass die Musik keinen In-
halt (Gegenstand) hat, folgt nicht, dass sie des Gehaltes 
entbehre. „Geistigen Gehalt“ meinen offenbar diejenigen,
welche mit dem Eifer einer Partei für den „Inhalt“ der
Musik fechten. Mag man den „Gehalt“ nun mit Göthe 
(45, 419) als „etwas Mystisches ausser und über dem
Gegenstande und Inhalt“ eines Dinges begreifen oder, dem
allgemeinen Verstande gemässer, als die substantiel werth-
volle Grundlage, das geistige Substrat überhaupt, immer
wird man ihn der Tonkunst zuerkennen und in ihren höch-
sten Gebilden als gewaltige Offenbarung bewundern müs-
sen. Die Musik ist ein Spiel, aber keine Spielerei. Gedanken
und Gefühle rinnen wie Blut in den Adern des ebenmässig
schönen Tonkörpers; sie sind nicht er, sind auch nicht
sichtbar, aber sie beleben ihn. Der Componist dichtet 
und denkt. Nur dichtet und denkt er, entrückt aller ge-
genständlichen Realität, in Tönen. Muss doch diese Tri-
vialität hier ausdrücklich wiederholt sein, weil sie selbst
von denjenigen, die sie principiel anerkennen, in den Con-
sequenzen allzu häufig verläugnet und verletzt wird. Sie
denken sich das Componiren als Uebersetzung eines ge-
dachten Stoffes in Töne, während doch die Töne selbst die
unübersetzbare Ursprache sind. Daraus, dass der Tondichter
gezwungen ist, in Tönen zu denken, folgt ja schon die
Inhaltlosigkeit der Tonkunst, indem jeder begriffliche Inhalt
in Worten müsste gedacht werden können.


So strenge wir bei der Untersuchung des Inhalts 
alle Musik über gegebene Texte, als dem reinen Begriffe
der Tonkunst widersprechend, ausschliessen mussten, so
unentbehrlich sind die Meisterwerke der Vocal-Musik bei
der Würdigung des Gehaltes der Tonkunst. Vom ein-
fachen Liede bis zur gestaltenreichen Oper und der altehr-
würdigen Gottesfeier durch Kirchenmusik hat die Tonkunst
nie aufgehört, die theuersten und wichtigsten Bewegungen
des Menschengeistes zu theilen und zu verherrlichen.


Nebst der Vindication des geistigen Gehaltes muss
noch eine zweite Consequenz nachdrücklich hervorgehoben
werden. Die gegenstandlose Formschönheit der Musik hin-
dert sie nicht, ihren Schöpfungen Individualität auf-
prägen zu können. Die Art der künstlerischen Verarbeitung,
so wie die Erfindung gerade dieses Thema’s ist in jedem
Falle eine so einzige, dass sie niemals in einer höheren All-
gemeinheit zerfliessen kann, sondern als Individuum da-
steht. Ein Motiv von Mozart oder Beethoven ruht so fest
und unvermischbar auf eigenen Füssen, wie ein Vers -
the’s
, ein Ausspruch Lessing’s, eine Statue Thorwald-
sen’s
, ein Bild Overbeck’s. Die selbstständigen musica-
lischen Gedanken (Themen) haben die Sicherheit eines Ci-
tats und die Anschaulichkeit eines Gemäldes; sie sind indi-
viduel, persönlich, ewig. — —


Gegenüber dem Vorwurf der Inhaltlosigkeit also hat
die Musik Inhalt, allein musicalischen, welcher ein nicht ge-
ringerer Funke des göttlichen Feuers ist, als das Schöne
jeder anderen Kunst. Nur dadurch aber, dass man jeden
anderen „Inhalt“ der Tonkunst unerbittlich negirt, rettet

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man deren „Gehalt“. Denn aus dem unbestimmten
Gefühle
, worauf sich jener Inhalt im besten Falle zurück-
führt, ist ihr eine geistige Bedeutung nicht abzuleiten, wohl
aber aus der bestimmten Tongestaltung, als der
freien Schöpfung des Geistes aus geistfähigem, begrifflosem
Material.


Dieser geistige Gehalt verbindet nun auch im Gemüthe
des Hörers das Schöne der Tonkunst mit allen anderen
grossen und schönen Ideen. Ihm wirkt die Musik nicht
bloss und absolut durch ihre eigenste Schönheit, sondern
zugleich als tönendes Abbild der grossen Bewegungen im
Weltall. Durch tiefe und geheime Naturbeziehungen steigert
sich die Bedeutung der Töne hoch über sie selbst hinaus
und lässt uns in dem Werke menschlichen Talents immer
zugleich das Unendliche fühlen. Da die Elemente der Mu-
sik: Schall, Ton, Rhythmus, Stärke, Schwäche, im ganzen
Universum sich finden, so findet der Mensch wieder in der
Musik das ganze Universum.“



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Nr. 8. KÖLN, 24. Februar 1855. III. Jahrgang


Eduard Hanslick.


II.


Wir haben durch den Abdruck des letzten Abschnit-
tes von Hanslick’s Büchlein (in der vor. Nummer) den Leser
sogleich in medias res, oder eigentlich in ultimas, hineinge-
führt. Man könnte es sonderbar finden, mit dem Ende an-
zufangen; unsere Absicht aber war, eines der schlagend-
sten Resultate der ganzen Untersuchung des scharfsinnigen
Verfassers sogleich mitzutheilen, um dadurch zu zeigen,
was man bei ihm zu erwarten habe. Auch läugnen wir
nicht, dass die Befriedigung, dasjenige, was wir seit Beginn
der Herausgabe unserer ehemals Rheinischen, jetzt Nieder-
rheinischen Musik-Zeitung so oft deutlich, wiewohl apho-
ristisch, ausgesprochen und an zerstreuten Stellen angedeu-
tet haben, hier in ein System gebracht und durch eine lo-
gische Entwicklung festgestellt zu schen, mit dazu beige-
tragen hat, den Inhalt gerade dieses letzten Capitels zu-
nächst mitzutheilen.


Schon im I. Jahrgange 1850 der Rhein. Musik-Zeitung 
sagten wir in dem Aufsatze über J. Haydn’s Musik (S.
242): „Einer wahren künstlerischen Natur, wie Haydn,
erscheint Alles musicalisch; seine Empfindung ist Musik, er
denkt nicht Philosophie, nicht Aesthetik, nicht Geschichte,
nicht Romantik u. s. w., er denkt Musik — seine An-
schauungen und Vorstellungen sind Musik — — er hört 
in sich keine andere Sprache als Musik, und so redet er
denn auch keine andere — darin ist er Original-Schrift-
steller, während Andere die musicalische Sprache zu reden
vermeinen, wenn sie in diese zu übersetzen versuchen,
was sie in der gewöhnlichen Sprache gedacht haben.“ (Vgl.
Hanslick in der vor. Nr., S. 52, Sp. 2.)


Dasselbe Thema behandelte in Nr. 46 (vom 17. Mai
1851) der Artikel „Plastische Musik“, in welchem die
„lächerlichen Prätentionen der neueren Componisten, die
uns zumuthen, durch ihre Musik die speciellen Vorstellun-
gen in uns hervorzurufen, welche sie durch Ueberschriften
u. dgl. bezeichnen“, so wie die Programme zu Musik-
stücken verspottet werden, „bei denen man sich einstwei-
len noch des alltäglichen Mittels der Vermittlung der Ideen
zwischen den Menschen bedient, bis völlig ausgebildete mu-
sicalische Formen und Phrasen für „ „jede Gegenständlich-
keit“ “ erfunden sind“ — und wo es unter Anderem heisst:
„Es klingt in Worten ganz prächtig, dass der Componist
bei seinen Schöpfungen etwas Höheres (?) denken müsse,
als Musik, dass er aus der Subjectivität in die Objectivität
treten müsse, damit die Musik die Elemente der Zeit, die
weltbewegenden Ideen der gegenwärtigen Menschheit in
sich aufnehme und darstelle. Schade nur, dass Töne keine
Worte sind und der Schlüssel noch nicht gefunden, die
Hieroglyphen der Notenschrift durch den Klang der Instru-
mente urplötzlich in das Alphabet der Muttersprache der
Zuhörer zu verwandeln.“


Man vergleiche ferner das Programm zu dem III. Jahr-
gange in Nr. 1 vom 3. Juli 1852, die humoristische Po-
lemik in den Artikeln „Stoppellese“ gegen die After-Philo-
sophen, die Aufsätze über „Kunst und Kunststil“ (Nieder-
rheinische Musik-Ztg., I. Jahrg., Nr. 9 v. 27. Aug. 1853)
bei Gelegenheit von A. Helfferich’s Schrift u. s. w. — über-
all wird auf den einzig möglichen Inhalt der Musik, nämlich
den musicalischen, hingewiesen, was denn in dem Programm
zum II. Jahrgange der Niederrh. Musik-Ztg., unter der Ueber-
schrift „Nichts Neues“, in Nr. 1 v. 7. Januar 1854 auch
mit dürren Worten ausgesprochen wird: „Wollt ihr wissen,
was der wahre Inhalt der Musik ist? Die Melodie ist
es, der musicalische Gedanke, das Thema; und ein den-
kender Tonkünstler ist nicht der, der einen Inhalt ausser-
halb
der Musik sucht, sondern der in der Sphäre der
Musik bleibt, nur Musik denkt und den Verstand nur ge-
braucht, die Thema’s, die ihm aus der Seele gequol-
len
, als musicalische Gedanken durch diejenigen Mittel
zu entwickeln, welche ihm seine Kunst und sein Wissen
in dieser darbieten.“


Wir brauchen wohl kaum hinzuzufügen, dass Niemand
glauben möge, wir wollten durch diese Anführungen dem
Dr. Hanslick etwa beweisen, dass er nichts Neues gesagt

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habe. Es kann kein Mensch ein abgesagterer Feind jenes
Schlagwortes der heutigen Kritik in allen Kunstfächern:
„Das ist zwar nicht neu, aber —“ u. s. w. sein, als wir
selbst. Es ist mit dem wirklich Neuen in geistigen Dingen
überhaupt eine eigene Sache, und Ben Akiba’s: „Das alles
war schon einmal da!“ enthält eine gewisse Wahrheit,
wenngleich ebenfalls keine neue. Auf das eigentliche We-
sen der Sache trifft Göthe, wenn er sagt: „Alles Gescheidte
ist schon gedacht worden; man muss nur versuchen, es
noch einmal zu denken
.“ Ferner ist es auch viel leich-
ter, den Irrthum zu erkennen, als die Wahrheit zu finden;
mit jenem wird man wohl fertig, aber dadurch hat man
noch lange nicht das Wahre an dessen Stelle gesetzt,
vollends nicht in der Gestalt, dass Alle davon überzeugt
werden.


Wer also das Verfahren zur Erforschung der Wahr-
heit und zur Erhärtung und evidenten Darlegung der ge-
fundenen gründlich durchmacht, wer alles in Beziehung
auf dieselbe in einem besonderen Falle Gedachte noch ein-
mal denkt, d. h. logisch verfolgt, entwickelt, in ein System
bringt, der ist als der wirkliche Schöffe oder Finder der-
selben mit dem vollsten Rechte zu betrachten. Und dies
Verdienst wollen gerade wir dem Dr. Hanslick im vorlie-
genden Fall am allerwenigsten schmälern. Seine kleine
Schrift enthält offenbar die Saat zu einer Revision der
Aesthetik der Tonkunst; und nach der ganzen Art und
Weise, wie er sich hier gibt, glauben wir nicht, dass er zu
denjenigen Reformatoren gehört, die da meinen, ihre Ori-
ginalität zu verlieren, wenn sie das Wahre anerkennen,
das schon von Anderen anerkannt worden ist.


Seine Untersuchung beginnt, nach einigen einleitenden
Sätzen über den bisherigen wissenschaftlichen Standpunkt
der Aesthetik der Tonkunst, die da noch nicht dahin ge-
langt sei, eben so wie die übrigen Kunstlehren vor Allem
das schöne Object, nicht das empfindende Subject
zu erforschen“, mit der Polemik gegen den Satz, dass die
Bestimmung der Musik sei, Gefühle zu erregen. Das
Organ, womit das Schöne ausgenommen wird, ist nicht das
Gefühl, sondern die Phantasie, als die Thätigkeit des
reinen Schauens (Vischer’s Aesthetik §. 384) — d. h.
eines Schauens mit Verstand, das ist Vorstellen und Ur-
theilen, welches letztere aber mit solcher Schnelligkeit ge-
schicht, dass dessen einzelne Vorgänge uns gar nicht zum
Bewusstsein kommen. — Der Hörer geniesst das Ton-
stück in reiner Anschauung jedes stoffliche Interesse muss
ihm fern liegen; ein solches ist aber die Tendenz, Affecte
in sich erregen zu lassen.


Eine secundäre Wirkung auf das Gefühl, nämlich
durch die Phantasie, kommt in jeder Kunst vor, also auch
in der Musik, allein eine unmittelbare findet nicht Statt.
Indem nun nachgewiesen wird, dass der Zusammenhang
eines Tonstückes mit der dadurch hervorgerufenen Gefühls-
bewegung weder ein nothwendiger (vielmehr häufig
ein conventioneller, durch äussere Zwecke bis zu den lächer-
lichsten Ueberschriften herab beeinflusster), noch ein
stetiger, noch ein ausschliesslicher sei, so wird
damit der Eindruck der Musik auf das Gefühl keineswegs
geläugnet — „zu den schönsten Mysterien der Tonkunst
gehört es ja, dass sie solche Gefühle ohne irdischen An-
lass, recht von Gottes Gnaden, hervorzurufen vermag.“ (S.
9) —, sondern nur gegen die Verwerthung dieser That-
sachen für ästhetische Principien Verwahrung ein-
gelegt. Nicht aus der unsicheren Wirkung, sondern aus
den Kunstwerken selbst und aus den Gesetzen ihres Or-
ganismus ist zu erklären, was ihr Inhalt ist, worin ihr
Schönes besteht.


Diese Grundsätze hat Hegel bereits erschöpfend als
allein richtig für alle und jede Aesthetik dargelegt und ge-
zeigt, dass die Untersuchung der Empfindungen, welche
eine Kunst erweckt, nicht anders als ganz im Unbestimm-
ten stehen bleiben könne, was Hanslick auch erwähnt. Dass
dieselben aber auf die Tonkunst bisher fast gar nicht oder
doch nur mangelhaft angewandt wurden, ist nicht zu läug-
nen, und wie sehr sie in der neuesten Zeit durch das Un-
kraut der philosophischen Unwissenheit in der Lehre von
der Gegenständlichkeit der Musik unterdrückt worden sind,
haben wir in diesen Blättern oft genug dargethan.


Der zweite Abschnitt hat es mit der Behauptung des
Satzes zu thun, dass die Gefühle eben so wenig der In-
halt
der Tonkunst sein können, als deren Erregung ihre
Bestimmung sei. Der Ideengang des Verfassers ist folgender:


Die Gefühle stehen nicht isolirt in der Seele da, sie
sind abhängig von physiologischen und pathologischen Vor-
aussetzungen, und bedingt durch das ganze Gebiet des Den-
kens, welchem man so gern das Gefühl als Gegensätz-
liches
gegenüber stellt.


Das Gefühl wird ein bestimmtes erst durch Vor-
stellungen und Urtheile, es lässt sich als solches von con-
creten Vorstellungen und Begriffen nicht trennen, es ist
ohne einen historischen Inhalt nicht denkbar. Dieser ist
aber nur in Begriffen darzulegen. Begriffe kann jedoch ein-
gestandener Maassen die Musik nicht wiedergeben, folglich
vermag sie auch nicht, bestimmte Gefühle darzustellen 
(was natürlich nicht mit erregen zu verwechseln ist).



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Nur das Dynamische der Gefühle, die Bewegung 
eines psychischen Vorganges nach den Momenten: schnell,
langsam, stark, schwach, steigend, fallend — kann die Mu-
sik ausdrücken. Was uns ausserdem in der Musik be-
stimmte Seelenzustände zu malen scheint, ist durchaus
symbolisch (wie z. B. der Charakter der Tonarten oder
Accorde eben so nur auf Deutung beruht, wie das Grün
sich uns mit Hoffnung, das Blau mit Treue u. s. w. ver-
bindet).


Auch die Vocal-Musik, wiewohl ihre Theorie niemals
das Wesen der Musik bestimmen kann, ist nicht im Stande,
den aufgestellten Satz Lügen zu strafen. Nicht die Töne,
sondern der Text stellt dar.


Alles dies wird durch Beispiele erläutert, denen man,
wenn man nur, wie es die Sache fordert, die Begriffe mit
logischer Schärfe auf die Spitze stellt, ihre Beweiskraft
nicht absprechen kann. Auch der Ausweg, dass die Musik
zwar nicht bestimmte, aber wohl unbestimmte Gefühle
erwecken und darstellen solle, wird gründlich verstopft.


Angenommen aber auch, dass musicalische Gefühls-
darstellung möglich sei — was jedoch schlechtweg ge-
läugnet wird —, so kann sie doch niemals das ästhe-
tische Princip
der Tonkunst abgeben. Es wird dies
sodann an der Vocal-Musik, welcher das Betonen von See-
lenzuständen zukommt, nachgewiesen und gezeigt, dass
das Schöne in der Musik mit der Genauigkeit der Ge-
fühlsdarstellung auch dann nicht congruiren würde, wenn
diese möglich wäre. Was bei dieser Gelegenheit über das
Wesen der Oper und gegen R. Wagner, selbst gegen
Gluck gesagt wird, ist ganz vortreflich. Gar Manches, was
von uns in der kritischen Analyse des „Tannhäuser“ in der
Rheinischen Musik-Zeitung (Jahrg. III. vom Nov. 1852 
an), und von Prof. Jahn in dem Artikel „Lohengrin“ in
den Grenzboten, ferner in unseren Aufsätzen über Gluck 
gesagt ist, findet hier seinen Wiederhall, seine Ausführung
und Begründung.


Nachdem der Verfasser bis hieher negativ verfahren,
wendet er sich im dritten — dem ausführlichsten — Ab-
schnitte zu der positiven Frage: welcher Natur das
Schöne einer Tondichtung sei
.


„Es ist ein specifisch Musicalisches, d. h. ein
Schönes, das, unabhängig und unbedürftig eines von aussen
her kommenden Inhalts, einzig in den Tönen und ihrer
künstlerischen Verbindung liegt.“


„Das Urelement der Musik ist Wohllaut, ihr We-
sen Rhythmus. Unausgeschöpft und unerschöpflich wal-
tet vor Allem die Melodie, als Grundgestalt musicalischer
Schönheit. Immer neue Grundlagen bietet ihr die Har-
monie
; beide vereint bewegt der Rhythmus, und es
versehen sie mit mannigfaltigem Reiz die Klangfarben.“


„Was soll ausgedrückt werden? Musicalische
Ideen
, als Selbstzweck, als selbstständiges Schönes. -
nend bewegte Formen
sind einzig und allein Inhalt
und Gegenstand der Musik.“


„Wie das Schöne eines Tonstücks nur in dessen mu-
sicalischen Bestimmungen wurzelt, so folgen auch die Ge-
setze seiner Construction nur diesen.“


Dies sind die Hauptsätze, deren Ausführung in der
Schrift selbst nachzulesen ist. Es reihen sich daran eine
Menge von treffenden Bemerkungen über das Sinnliche und
Geistige in der Musik, über das Gemeine oder Edle der
musicalischen Gedanken, über das Hineindeuten und Hin-
einlegen durch den Hörer, über das Verhältniss der Musik
zur Sprache u. s. w. — welche zwar grossentheils nicht
so neu, wie sie vielleicht dem Verfasser vorgekommen, aber
einzig wahr sind, und desshalb nicht oft und eindringlich
genug gemacht werden können. Wenn es S. 40 heisst:
„Melodie und Harmonie eines Thema’s entspringen zugleich
in Einer Rüstung aus dem Haupte des Tondichters“, so
sind wir um so sicherer derselben Ansicht, als wir in dem
schon oben angeführten Aufsatz über „Haydn’s Musik“ aus
dem Jahre 1851, S. 243 sagten: „Die Melodie bringt
ihre Harmonisirung gewisser Maassen schon mit auf die
Welt“ — ; und wenn Hanslick S. 51 die Theorieen ver-
wirft, „welche der Musik die Entwicklungs- und Construc-
tionsgesetze der Sprache aufdringen wollen, wie es von den
Jüngern Wagner’s versucht wird“, so verweisen wir auf
unsere Beurtheilung der Schrift von L. Köhler: „Die Me-
lodie der Sprache“, in Nr. 14 vom I. Jahrgang dieser Blät-
ter (vom 1. Oct. 1853) und unterschreiben mit voller
Ueberzeugung seine Worte: „Dabei wird das wahrhafte

9

Herz der Musik, die in sich selbst befriedigte Formschön-
heit, durchstossen und dem Phantom der „ „Bedeutung“ “
nachgejagt.“



10


Nr. 9. KÖLN, 3. März 1855. III. Jahrgang


Eduard Hanslick.


III.


Der vierte Abschnitt behandelt den subjectiven 
Eindruck der Musik.


Die Phantasie, als das Organ, aus welchem und für
welches das Kunstschöne entsteht, erweis’t sich in der
Wirklichkeit als Vermittlerin zwischen dem Fühlen des
Componisten und des Hörers.


Das Gefühl wird beim Tondichter, wie bei jedem
Poeten, sich reich entwickelt vorfinden; aber es ist nicht
der schaffende Factor in ihm. Die Thätigkeit des Com-
ponisten ist eben so gut eine bildende, wie die des plasti-
schen Künstlers; denn das geringste Musikstück erfordert
eine Ausarbeitung bis ins Kleinste, welche nur bei einem
gewissen Grade der Entäusserung der Subjectivität zu voll-
enden ist. Allein der unendlich ausdrucksfähige geistige
Stoff der Töne lässt es zu, dass die Subjectivität des musi-
calischen Bildners sich in der Art seines Formens auspräge.
Es werden demnach vorherrschende Charakterzüge sich
nach den allgemeinen Momenten abdrücken, welche die
Musik wiederzugeben fähig ist. Das selbstständige, rein mu-
sicalische Schöne wird innerhalb der Gränzen des musicali-
schen Bildens mehr oder weniger subjectiv ausgestattet.
Daher unverkennbare Eigenthümlichkeit der Werke ver-
schiedener Meister, wie z. B. gewaltige oder sentimentale
Innerlichkeit (Beethoven, Spohr) im Gegensatz zu klarem
Formen (Mozart, Mendelssohn). — Die unmittelbare Aus-
strömung des Gefühls findet nicht bei der Composition,
wohl aber bei der Reproduction des Tonwerkes Statt,
beim Spieler oder Sänger.


So richtig diese letzte Bemerkung ist, so können wir
doch der Subjectivität des Spielers keine so volle Berechti-
gung einräumen, als Hanslick zu thun scheint, wenn er
sagt: „Dem Spieler ist es gegönnt, sich von dem Ge-
fühle, das ihn eben beherrscht, durch sein Instrument
zu befreien.“ Das kann nur von der „freien Phantasie“
gelten, worauf Hanslick zuletzt auch selbst kommt. Im
Uebrigen müssen wir vor der Lehre von der subjectiven
Auffassung bei der Reproduction von Tonwerken sehr
ernstlich warnen, da sie neuerdings gewaltig auszuarten
droht und eben sowohl die verkehrtesten Grundsätze für
die Praxis des Dirigirens von Orchestersachen, als wider-
liche Unarten der Sänger erzeugt hat. Vergleiche unsere
Bemerkungen über correcten Vortrag in Nr. 6, S. 48, un-
ter „Köln“.


Hiernach kommt der Verfasser zu dem Eindruck der
Musik auf den Hörer.


Der Hörer wird durch die Musik weit über das bloss
ästhetische Wohlgefallen hinaus ergriffen; keine andere
Kunst wirkt so schnell, so intensiv und so unmittelbar auf
das Gefühl. „Die anderen Künste überreden, die Musik
überfällt uns.“ Sehr wahr heisst es ferner: „In Gemüths-
zuständen, wo weder Gemälde noch Gedichte, weder Sta-
tuen noch Bauten mehr im Stande sind, uns zu theilneh-
mender Aufmerksamkeit zu reizen, wird Musik noch Macht
über uns haben, ja, gerade heftiger als sonst. Wer in
schmerzhaft aufgeregter Stimmung Musik hören oder machen
muss, dem schwingt sie wie Essig in der Wunde. Form
und Charakter des Gehörten verlieren ganz ihre Bedeutung,
sei es nächtig trübes Adagio oder ein hell funkelnder Wal-
zer: wir können uns nicht loswinden von seinen Klängen
— nicht mehr das Tonstück fühlen wir, sondern die Töne
selbst, die Musik als gestaltlos dämonische Gewalt.“


Es entstehen nun die zwei Fragen: worin der speci-
fische
Charakter der Wirkung der Musik auf das Gefühl
liege, und wie viel von dieser Wirkung ästhetischer 
Natur sei. Sie erledigen sich beide durch die Erkenntniss
der intensiven Einwirkung der Musik auf das
Nerven-System
. Die eigenthümliche Qualität der Macht
der Musik beruht auf physiologischen Bedingungen.
„Die Musik, durch ihr körperloses Material die geistig-
ste
, durch ihr gegenstandloses Formenspiel die sinnlich-
ste
Kunst, zeigt in dieser geheimnisvollen Vereinigung
zweier Gegensätze ein lebhaftes Assimilations-Bestreben
mit den Nerven, diesen nicht minder räthselhaften Or

11
-
ganen des unsichtbaren Telegraphendienstes zwischen Leib
und Seele.“


Die intensive Wirkung der Musik auf das Nervenleben
ist als Thatsache von der Psychologie wie von der Physio-
logie anerkannt. Aber eine ausreichende Erklärung dersel-
ben fehlt. „Es vermag die Psychologie eben so wenig das
Magnetisch-Zwingende des Eindrucks gewisser Accorde,
Melodien und Klangfarben auf den Organismus des Men-
schen zu ergründen, weil es dabei zuvörderst auf eine spe-
cifische Reizung der Nerven ankommt, als die im Triumph
fortschreitende Wissenschaft der Physiologie bis jetzt etwas
Entscheidendes über dieses Problem gebracht hat, zumal die
letztere bei der Untersuchung des Hörens vielmehr den
Schall und Klang überhaupt, als insbesondere den musi-
calisch
verwendeten, im Auge zu haben pflegt.“


„Steht einmal fest, dass ein integrirender Theil der
durch Musik erzeugten Gemüthsbewegung physisch ist,
so folgt weiter, dass dieses Phänomen auch von seiner rein
körperlichen Seite erforscht werden muss.“


„Je stärker aber eine Kunstwirkung körperlich über-
wältigend, also pathologisch, auftritt, desto geringer ist ihr
ästhetischer Antheil. Es muss darum bei der Musik in
der Hervorbringung und Auffassung ein anderes Element
hervorgehoben werden, welches das unvermischte Aesthe-
tische dieser Kunst repräsentirt und als Gegenbild zu der
specifisch-musicalischen Gefühls-Erregung sich den all-
gemeinen
Schönheits-Bedingungen der übrigen Künste
nähert. Dies ist die reine Anschauung.“ Ueber ihre
Erscheinungsform in der Tonkunst handelt der folgende
Abschnitt.



12


Nr. 10. KÖLN, 10. März 1855. III. Jahrgang


Eduard Hanslick.


IV.


Der Abschnitt Nr. V. enthält zwar ebenfalls treffliche
Wahrheiten und ist vielleicht einer der unterhaltendsten
von allen; allein auch er verweilt, wie die anderen, mehr
auf dem Verneinen, auf dem Oppositionellen, als dass er
das Positive, die Bedingungen, unter welchen die reine An-
schauung des Schönen in der Musik allein möglich ist, und
die Art und Weise, wie sie zur Erscheinung kommt, syste-
matisch darlegte. Die Grundlage zu einem ästhetischen
System ist aber nicht zu verkennen, und es wird dem Ver-
fasser auch sicher gelingen, bei weiterer Forschung auf dem
eingeschlagenen Wege den positiven Ausbau desselben zu
bewerkstelligen.


Der fragliche Abschnitt kommt zuvörderst noch einmal
auf die Wirkung der Musik auf das Gefühl zurück und
erkennt dessen Recht auf die Musik, da es sich thatsächlich
mehr oder minder mit der reinen Anschauung paart, aller-
dings an, aber nur dann, wenn es sich seiner ästheti-
schen Herkunft
bewusst bleibt, d. h. der Freude an
einem bestimmten Schönen, also hier dem Musica-
lisch-Schönen. Fehlt dieses Bewusstsein, so ist es nur das
Elementarische der Musik, d. i. Klang und Bewe-
gung
, welches das Gefühl erregt, und diese Erregung ist
pathologisch, nicht ästhetisch.


Für solche reine Gefühls-Auffassung stehen die Werke
der Tonkunst den Naturproducten gleich, welche man mit Ver-
gnügen geniesst, die uns aber keineswegs zwingen, einem
Geiste, der bewusst geschaffen, nach zu denken. Und die
sinnliche Seite der Musik lässt allerdings einen geistlosen
Genuss zu, und zwar mehr, als jede andere Kunst. (Ei
nun! die Leda von da Vinci, die Io von Correggio, selbst
die Ariadne von Dannecker u. s. w. machen auf das rohe
Gefühl auch einen Eindruck, dem das ästhetische Bewusst-
sein noch weit ferner liegen dürfte, als dem Genusse des
blossen Gefühls-Musikers.)


Dies führt auf die richtige Würdigung der so genann-
ten moralischen Wirkungen der Musik. Diese wird
dabei nicht als ein Schönes genossen, sondern als Natur-
gewalt empfunden. Die Anklage derselben (schon bei den
Alten) als verweichlichend, entnervend, ist am Ende noch
würdiger, als ihre Lobpreisung in dieser Beziehung; denn
der moralische Einfluss der Töne wächst mit der Uncultur
des Geistes und Charakters, und die stärkste Wirkung der 
Art übt bekanntlich die Musik auf Wilde.


Dem pathologischen Ergriffenwerden ist nun eben das
reine Anschauen entgegen zu setzen; die contemplative
Form des Hörens
ist die einzig künstlerische, ästheti-
sche. Ihr gegenüber fällt der rohe Affect des Wilden und
der schwärmende des Gefühls-Enthusiasten in Eine Classe.
Dem Schönen entspricht ein Geniessen, nicht ein Er-
leiden
. Das Geniessen muss aber ein thätiges sein, ein
geistiges Begleiten und Folgen, welches bei der Musik, de-
ren Werke sich successiv abspinnen, ganz eigentlich ein
Nachdenken der Phantasie genannt werden kann. — Nur
solche Musik bietet künstlerischen Genuss, welche dieses
geistige Nachfolgen hervorruft und lohnt. Es kann sich dies
allerdings bis zur geistigen Arbeit steigern, aber auch bei
sinnlichen Naturen auf ein Minimum sinken. Es gibt also
eine Kunst des Hörens, und sie ist nicht leicht.



13


Die Hauptforderung einer ästhetischen Aufnahme
der Musik ist, dass man ein Tonstück um seiner selbst 
willen höre. Sobald die Musik nur als Mittel angewandt
wird, also accessorisch, decorativ, so hört sie auf, als Kunst 
zu wirken. (In dem Verkennen dieser Wahrheit liegt, bei-
läufig gesagt, der Grund-Irrthum Richard Wagner’s.) Na-
menlose Verwirrung ist dadurch entstanden, dass man das
Elementarische der Musik mit ihrer künstlerischen Schön-
heit verwechselte. Die reizende Musik in J. Strauss’ besse-
ren Walzern z. B. hört auf, es zu sein, wenn man nichts
will, als dabei im Tacte tanzen. — Sehr zu beachten ist
auch die Bemerkung, welche der Verfasser bei dieser Ge-
legenheit eben hinwirft, dass die Kritik überall zu entschei-
den habe, was bei einer vorhandenen Wirkung künstlerisch,
was elementarisch sei.


Sollen wir diesem Abriss des fünften Abschnittes des
Büchleins eine Bemerkung zulügen, so wird es der Aus-
spruch der Befürchtung sein, dass die darin aufgestellten
Ansichten von der Kunst des Hörens und der Schwierig-
keit derselben das Missverständniss veranlassen könnten, dass
sich der Mensch, auch der gebildete, nur durch das Zeug-
niss einer musicalischen Studien-Anstalt, in der er seinen
Cursus gemacht, zum Genusse der Werke der Tonkunst
legitimiren müsse. Wir sagen: das Missverständniss; denn
wir glauben nicht, dass dieses die Meinung des Verfassers
sei. Das würde die Kunst als nur für die Künstler, nicht
für die Menschen existirend charakterisiren, und wenn dem
also wäre, so wäre das ein grosses Unglück. Es entsteht
also hier die sehr wichtige Frage: „Welcher Art muss die
Bildung sein, die der Mensch erlangt haben muss, um
der künstlerischen Auffassung des Musicalisch-Schönen we-
nigstens annähernd theilhaftig zu werden?“ Und die zweite,
für die schaffende Tonkunst noch unendlich wichtigere:
„Welcher Art der Darstellung und Ausarbeitung des Mu-
sicalisch-Schönen bedarf es, um alle auf jene Weise gebil-
deten Menschen anzuziehen und geistig anzuregen und zu
befriedigen?“ — Wir hoffen, auf diese Fragen zurück zu
kommen; für jetzt erinnern wir nur an die trefflichen Auf-
sätze von C. F. W. U. (Uhlemann): „Die Tonkunst für Alle“,
im I. Jahrgang der von uns herausgegebenen Rheinischen
Musik-Zeitung.


In dem sechsten Abschnitte handelt der Verfasser von
dem Verhältnisse der Tonkunst zur Natur. Dass
die richtige Einsicht in dasselbe zu den wichtigsten Folge-
rungen für die musicalische Aesthetik führe, geben wir zu;
dass aber das Resultat: „es gibt keine Musik in der Na-
tur“, erst jetzt gefunden sei, stellen wir in Abrede, da
Nägeli, Hand, Krüger und vielleicht noch Andere im
Wesentlichen dasselbe bereits ausgesprochen haben.
Hand legt allerdings Nachdruck auf die „geistige Besee-
lung“ im musicalischen Tone im Gegensatz zu den Natur-
tönen, allein er sagt auch geradezu: „Nimmer gelingt es,
die Folge der Töne der Vögel unserer musicalischen Scala
anzupassen“, was denn doch mit anderen Worten heisst:
„sie sind nicht messbar“, worauf Hanslick allerdings mit
Recht den Haupt-Nachdruck legt. Auch bei Hand ist das
Ergebniss das, dass die Musik ein Product des Menschen-
geistes sei. Was Nägeli betrifft, so geht dieser nicht nur
in diesem Punkte, sondern überhaupt schon einen Weg,
welcher dem von Hanslick eingeschlagenen sehr nahe liegt,
indem z. B. einer von Nägeli’s Hauptsätzen ist, dass die
Musik keinen Inhalt habe, sondern nur Formen und gere-
gelte Verbindung von Tönen und Tonreihen gewähre. —
Der Gedankengang bei unserem Verfasser ist folgender:


Die Musik gestaltet den durch Höhe und Tiefe be-
stimmten, d. i. den messbaren Ton zu Melodie und
Harmonie; beide finden sich in der Natur nicht vor, sie
sind Schöpfungen des Menschengeistes. Vor dem Menschen
existirt in der Natur nur das Eine Element der Musik, der
Rhythmus. Aber auch dieser ist nicht der Rhythmus der
menschlichen Musik, er trägt nur unmessbare Luftschwin-
gungen, weder Melodie noch Harmonie. (Vergl. Hand, I.,
S. 40.)


Unser Tonsystem und alles, was damit zusammenhängt,
ist kein natürliches, sondern ein künstliches, etwas Gewor-
denes
im Gegensatz zu einem Geschaffenen. Haupt-
mann
(Die Natur der Harmonik und Metrik) irrt, wenn er
den Begriff eines künstlichen Tonsystems einen durchaus
nichtigen
nennt (S. 7), „indem die Musiker eben so we-
nig haben Intervalle bestimmen und ein Tonsystem erfinden
können, als die Sprachgelehrten die Worte der Sprache und
die Sprachfügung erfunden haben.“ Sehr zur Sache führt
der Verfasser dagegen J. Grimm’s Ansicht an: „Wer
nun Ueberzeugung gewonnen hat, dass die Sprache freie
Menschen-Erfindung war, wird auch nicht zweifeln über
die Quelle der Poesie und Tonkunst“ (Ueber den Ursprung
der Sprache). Nicht die Sprachgelehrten, aber die Völker
bilden sich ihre Sprache und ändern sie fortwährend; und
so haben auch nicht die „Tongelehrten die Musik errich-
tet“, sondern das fixirt und begründet, was der musicalisch
befähigte Geist mit Vernünftigkeit, aber nicht mit Noth-
wendigkeit
ersonnen hatte.


Alle Naturstimmen sind lediglich Schall und Klang;
selbst die reinste Erscheinung des natürlichen Tonlebens,

14

der Vogelgesang, steht zur menschlichen Musik in keinem
Bezuge, da er unserer Scala nicht angepasst werden kann.
In der Musik muss Alles commensurabel sein, in den Na-
turlauten ist nichts commensurabel. „Nicht die Stimmen
der Thiere, sondern ihre Därme sind uns wichtig, und nicht
der Nachtigall, sondern dem Schafe verdankt die Musik am
meisten.“


Die Poesie, Malerei, Sculptur haben den Quell ihrer
Stoffe in der Natur; irgend ein Naturschönes regt sie
an, wird ihnen Stoff zu eigener Hervorbringung, wird ihnen
Vorbild. Die Tonkunst hat kein Vorbild in der Natur, für
die Musik gibt es kein Naturschönes. — Der Maler,
der Dichter (dieser in der Betrachtung des Menschen, sei-
ner Handlungen, Schicksale u. s. w.) finden in naturschö-
nen Vorbildern das, was sie künstlerisch umbilden; der
Musiker findet nichts dergleichen — er kann nichts umbil-
den, er muss Alles neu erschaffen. „Der Componist
muss der guten Stunde warten, wo es in ihm anfängt, zu
singen und zu klingen; da wird er dann aus sich heraus
schaffen, was in der Natur nicht seines Gleichen hat und
daher auch, ungleich den Erzeugnissen anderer Künste,
geradezu nicht von dieser Welt ist.“


Man könnte aber den Einwand machen (und die neuere
Afterlehre von der Gegenständlichkeit der Musik macht ihn
oft genug theoretisch und praktisch!), dass der Mensch,
wie dem Dichter, so auch dem Musiker Stoff zum Umbilden
gebe. Führen wir Ein Beispiel für hundert andere an: Beet-
hoven’s Ouverture zu Egmont. Hier ist nun eben die Ver-
wirrung der Begriffe zu lösen. „Dem Dichter ist die (histo-
rische) Gestalt wirkliches Vorbild, das er umbildet, dem
Componisten bietet sie bloss Anregung, und zwar poe-
tische
, nicht musicalische. Nicht die Gestalt Egmont’s,
nicht seine Thaten, Erlebnisse, Gesinnungen sind Inhalt der
Beethoven’schen Ouverture, wie dies allerdings im Bilde 
Egmont, im Drama Egmont der Fall ist. Der Inhalt der
Ouverture sind Tonreihen, welche der Componist voll-
kommen frei nach musicalischen Denkgesetzen 
aus sich erschus. Mit der Vorstellung „Egmont“ bringt sie
lediglich die poetische Phantasie des Tonsetzers in Verbin-
dung. Diese Verbindung ist aber so willkürlich, dass
niemals die Hörer des Musikstückes auf dessen angeblichen
„ „Gegenstand“ “ verfallen würden, wenn nicht der Autor
durch die ausdrückliche Benennung unserer Phan-
tasie von vorn herein die bestimmte Richtung octroyirte.“


Sehr schlagend fügt der Verfasser später noch hinzu:
„Uebrigens kann der Anspruch an ein Tonwerk mit be-
stimmter Ueberschrift, die zur Vergleichung des Mu-
sikstückes mit einem ausser ihm stehenden Objecte nöthigt,
nur auf gewisse charakteristische Eigenschaften lauten,
z. B. dass die Musik erhaben, düster, oder niedlich, froh
klinge, sich zu betrübtem oder freudigem Abschluss ent-
wickle, u. s. w. An die Malerei und an die Dichtkunst aber
stellt der Stoff die Forderung einer bestimmten, concreten
Individualität.“


Einen zweiten Einwand könnte man aus der musicali-
schen Literatur holen, indem ja doch Tonsetzer wirklich
hörbare Aeusserungen des natürlichen Tonlebens nachge-
bildet haben, z. B. Haydn, Beethoven, Spohr (Weihe der
Töne). Allein die genannten Componisten führen uns ja das
Krähen des Hahns, den Wachtelschlag, den Kuckucksruf,
den Schlag der Nachtigall nicht als Musik vor (oder als
ein naturschönes Vorbild, welches sie umbilden oder musi-
calisch-künstlerisch gestalten), „sondern nur als Citate, um
den Eindruck zurückzurufen, welcher mit jenen Natur-Er-
scheinungen zusammenhängt; sie entspringen einzig und
allein der Tendenz, uns zu erinnern: es ist Morgen, es ist
Frühling u. s. w. Ein Thema können alle Naturstimmen
der Welt zusammen nicht hervorbringen.“


Man sieht, dass das Verhältniss der Musik zum Natur-
schönen mit der ganzen Frage vom Inhalt der Musik
enge zusammenhängt. Und diese Frage ist es dann eben,
welche der letzte Abschnitt der Hanslick’schen Schrift be-
antwortet, welchen wir bereits in dem ersten Artikel über
dieselbe (in Nr. 7) im Auszuge gegeben haben.


Unsere Leser werden sich überzeugt haben, welche
wichtige Punkte der musicalischen Aesthetik der Verfasser
zur Sprache bringt, welche Menge von Problemen er der
Lösung entgegenführt, welche eingewurzelte Vorurtheile
er bekämpft. Seine Schrift ist uns ein Zeichen des Auf-
lebens der tonkünstlerischen Vernunft gegen die wissen-
schaftliche Unmündigkeit und den faselnden Wahnsinn der
Scharwächter der realistischen Propaganda; wir begrüssen
dieses Morgenroth mit freudigem Zurufe und wünschen
dem wackeren Kämpfer in dessem Lichte und für dessen
Licht die nöthige Ruhe und Musse, das alles noch mehr
zu präcisiren und zu einem vollständigen System der musi-
calischen Aesthetik auszuarbeiten.
L. Bischoff.

Fußnoten
  • *)
    Vgl. namentlich Art. IV. in Nr. 44 vom 4. Nov. 1854, wo
    es bei Gelegenheit der Dedication zu „Paris und Helena“
    heisst: „Wer möchte eine so gefährliche Lehre unterschrei-
    ben, die das Wesen des musicalischen Kunstwerks zerstört,
    und zum Realismus führt!“ u. s. w. Und wenn Hanslick S.
    30 sagt, dass Gluck zwar die falsche Theorie aufgestellt habe:
    die Opern-Musik habe nichts Anderes zu sein, als eine gestei-
    gerte Declamation, „in der Ausübung aber breche die mu-
    sicalische
    Natur des Mannes oft genug zum Vortheil sei-
    nes Werkes durch“, so stimmten wir mit ihm bereits völlig
    überein, als wir a. a. O. S. 345 äusserten: „Dass Gluck in der
    Praxis nie vergass, dass die Musik in der Oper die Haupt-
    sache sei, und dies auch gar nicht vergessen konnte, weil er
    eben ein musicalisches Genie war, welches (S. 347) die
    Reflexion nur auf Augenblicke auf einen Abweg führen
    konnte.“
  • *)
    „Die siegende Alleinherrschaft der Oberstimme bei den Ita-
    liänern hat einen Hauptgrund in der geistigen Bequemlichkeit
    dieses Volkes, welchem das ausdauernde Durchdringen uner-
    reichbar ist, womit der Nordländer einem künstlichen Gewebe
    von harmonischen und contrapunktischen Verschlingungen zu
    folgen liebt.“ S. 79. — Darin liegt etwas Wahres, allein auch
    eine Ungerechtigkeit; denn sollte die wunderbare Leichtigkeit
    der Italiäner im Hervorbringen des musicalischen Gedankens,
    der Melodie, und dieser gegenüber die ausserordentliche Em-
    fänglichkeit des Volkes dafür, nicht eben so gut auf die reine
    Anschauung des Musicalisch-Schönen zurück zu führen sein,
    und zwar auf eine primitive, von der Natur verliehene Kraft
    derselben? Wäre dies nicht der Fall, so würden wir ja auch
    kein Thema an und für sich schön finden können, und
    doch muss die Hauptschönheit eines Musikstückes im Thema
    oder in den verschiedenen Thema’s desselben liegen, wie der
    Verfasser ganz richtig meint.
  • *)
    Vischer (Aesthetik, II.), dem Hanslick, wie er unter dem
    Text bemerkt, hier in den allgemeinen Bestimmungen über
    das Naturschöne folgt, nimmt die Baukunst aus, als kein
    Vorbild habend in der Natur. Sollten die hohen Bogengänge
    in den deutschen Wäldern auf den germanischen Spitzbogen-
    Styl nicht denselben Einfluss gehabt haben, wie die Blätter
    und Blumen auf die architektonischen Verzierungen?