Wörter einzeln suchen


1


2


Dr. Hanslick und der „Tannhäuser“.


Bei Gelegenheit der ersten Aufführung des „Tann-
häuser“ in Wien veröffentlichte Dr. Ed. Hanslick in
der „Presse“ zwei Aufsätze, von denen der erste ein „Vor-
wort“, eine Einführung, der zweite aber eine „Kritik“
des oben genannten Tonwerkes vorstellen sollte. Diese
beiden Artikel legen wir nun unsern nachfolgenden Be-
trachtungen zugrunde. Man glaube ja nicht, daß wir
dabei eine Widerlegung bezwecken — denn wo man wi-
derlegen will, muß Etwas dasein, was würdig ist, wi-
derlegt zu werden —, sondern es handelt sich nur um —
die nähere Beleuchtung und Erläuterung, um die
Signatur der Hanslick’schen Ansichten. Wir werden
nicht den Gehalt, das Was dieser beiden Artikel ins
Auge fassen, sondern nur die Art und Weise beleuchten,
wie Hanslick seine Meinungen vorbringt, denn haben wir
die Form und sodann die Gesinnung und den Cha-
rakter
der Darstellung erkannt, so ist uns damit der
richtige Standpunkt gegeben, um auch den Inhalt in
seiner wahren Bedeutung verstehen zu können.


Jedes Werk der Wissenschaft und Kunst unterliegt
möglicherweise einer dreifachen Art der Beurtheilung:
der Kritik der Erkenntniß, der Kritik des Mißverstandes
und der Kritik des Unverstandes. Damit nun das Ton-
werk Wagner’s weder mißverstanden werde, noch unver-
standen bliebe, hat Dr. Hanslick ein „Vorwort“ voran -
gesendet, wahrscheinlich in der Absicht, um das Publicum
mit der Idee der Dichtung und mit dem Charakter der
Musik der neuen Oper bekannt zu machen. Diesen 
Zweck wenigstens hofften wir im „Vorworte“ realisirt zu
sehen; doch wir sollten arg enttäuscht werden. Statt
einer Einführung der Oper fanden wir eine vornehm-
thuende Verurtheilung der theoretischen Schriften 
Wagner’s, wir fanden eine Verdächtigung des Compo-
nisten, mit dem Versuche sein Genie auf ein bescheidenes
Maß herabzudrücken, und endlich lasen wir eine Ver-
dächtigung der Wagner’schen Schule.


Ob dieses Verfahren geeignet sei, ein neues Werk
dem Verständnisse und der Liebe des Publicums näher
zu bringen, bezweiflen wir, behaupten aber geradezu, daß
es durchaus unangemessen und unerlaubt sei. In dem
ganzen Aufsatze herrscht ein Geist der blinden Gehässig-
keit, Feindseligkeit und dumpfen Lieblosigkeit, so daß wir
es nicht begreifen, wie Dr. Hanslick es wagen darf, dem
Publicum seine subjective Antipathie aufzutischen,
und seinen Artikel „ein Vorwort“ zu einem der großar-
tigsten und poesievollsten Kunstwerke der Neuzeit zu nen-
nen. Mit einem Worte, dieser ganze erste Artikel ist eine
That der Tactlosigkeit. Denn eine solche ist es zu nen-
nen, wenn durch Hanslick dem großen Publicum Wiens
— das an rein theoretischen Fragen mit Recht kein Be-
hagen findet und nicht finden kann — statt einer einlei-
tenden Beleuchtung der Oper — Bücher und literarische
Zänkereien der Parteien über dieselben vorgelegt werden.
Diese Abgeschmacktheit wird um so evidenter, wenn man
bedenkt, daß dem Publicum jede Möglichkeit, die Theorie
Wagner’s mit seiner Praxis und die Divergenz beider
zu vergleichen, abgeht, da die Oper noch nicht aufgeführt
worden und die Schriften nur dem kleinen Kreise der
Fachmänner bekannt sind. Wurde also die Theorie
verdammt, so lag darin schon nothwendig in vorhinein
eine Mißtrauen erweckende Verdächtigung des
Tonwerkes selbst. Entweder hätte Hanslick die jedem
Vermittler zwischen einem Kunstwerke und der Oeffent-
lichkeit zukommende Aufgabe erfüllen, oder aber seine
freiwillige Einmischung unterlassen sollen.


Wir haben bis jetzt Hanslick als umsichtigen und
liebevollen negotiorum gestor des Componisten betrach-
tet, wir wollen nun den „Kritiker“ näher ins Auge fassen.


Hanslick ist der Verfasser einer Schrift: „Ueber das
musikalisch Schöne“. De mortuis nil nisi bene! Er ist
ein theoretischer Doctrinär, der sich ein System der mu-
sikalischen Aesthetik auf der Basis eines zum großen Theil
längst antiquirten sogenannten „realistischen“ Philo-
sophemes a priori construirt hat. Auf dem Gebiete der
Musikgeschichte und im unreflectirten und vorurtheils-
freien Genusse der Kunstwerke hat er sein System nicht 
gefunden, denn auf diese Weise wäre er unmöglich zu
Resultaten gekommen, die — wie sie eben wirklich in
seinem Werke vorliegen — mit dem ganzen historischen 

3

Gange der Musik und ihrer Praxis in diamentralem
Gegensatze stehen. Als Theoretiker „mit Zopf und
Schwert“ bringt Hanslick sein System an die Beurthei-
lung der Kunstwerke heran; wer aber sich in den Schran-
ken einer gewissen Theorie bewegt, ist nicht frei, ist
nicht unbefangen
genug, um der Praxis gerecht werden
zu können. An der Praxis muß die Theorie sich bewäh-
ren, da seine Theorie aber eine subjective ist — weil
mit den objectiven, historischen Verhältnissen, und
den ästhetischen Forderungen der Gegenwart im Zwie-
spalte befindliche —, er aber als Doctrinär sein System
des äußern Scheines wegen erhalten muß, so wird die
Kunst gezwungen, sich nach der wahren oder falschen
Theorie zu richten. Hanslick’s musikalische Theorie würde
jeder wahren Musik geradezu den Todesstoß versetzen,
denn seine Musik ist eine verkappte angewandte Mathe-
matik, eine Pseudomusik, und es liegt auf der Hand, daß
seine Ansichten, wenn sie je allgemein werden könnten,
ästhetische sowie künstlerische Barbarei herbeiführen müß-
ten. Sein von der Geschichte isolirter Subjectivismus
bringt es mit sich, daß er das Specifische der Musik als
Kunst
nicht zu erkennen vermag, sein Egoismus, eine
Folge seiner subjectiven Stellung, hindert ihn, bedeutende
Erscheinungen im historischen Entwicklungsgange der
Musik ihrer wahren Größe nach zu würdigen und ihre
wirklichen Mängel und Gebrechen richtig zu begrei-
fen. Er versteht es nicht, bei Beurtheilung künstlerischer
Individualitäten sein Ich außer Spiel zu lassen.


Man kann unmöglich von uns fordern, uns in diesen
kritiklosen Wirrwarr Hanslick’s zu vertiefen und einzelne
Belege für das eben Ausgesprochene zutage zu fördern,
es möge eine Hindeutung auf den zweiten Artikel genü -
gen. Der höhnische, sarkastisch sein sollende Ton, der in
demselben angeschlagen wird, die Selbstüberschätzung,
mit der Hanslick das ganze Tonwerk mit einer vornehmen
Flüchtigkeit „abmacht“, müssen sogleich den befremden,
der zwischen den Zeilen zu lesen vermag, aber wahrlich
widerwärtig wird das Ganze, wenn man auf einige
bleierne Witze stößt. Neben dieser frivolen Darstellung
aber ist zugleich auch eine auffallende Dürftigkeit der Auf-
fassung bemerkbar, die sich gerade den wahrhaft hohen
und idealen Leistungen im „Tannhäuser“ gegenüber am
breitesten macht. Es zeigt sich aus dem Ganzen, daß
Hanslick wol das Populäre des Tonwerks zu finden,
das Neue aber, und worin Wagner’s Bestrebungen wirk-
lich positiv fördernd waren, sowie das tief Poetische der
Dichtung nicht zu erfassen vermag, daß er gar nicht die
Fähigkeit besitzt, das in Wagner’s künstlerischer Indivi-
dualität wahrhaft und in jeder Beziehung Vollendete vom
Mißlungenen zu scheiden. Einem wahrhaft großen Kunst-
werke gegenüber eine im modernen oberflächlichen Lite-
ratentone geführte Sprache verzeiht man bedeutenden
Persönlichkeiten nicht, um wie viel weniger untergeord-
neten Geistern, die die hohe Würde der Kunst mit Füßen
treten, weil sie die Letztere nicht in ihrer wahren idealen
Wesenheit, in ihrer Sittlichkeit und ihrem tiefen Ernste
fassen mögen. Wir sahen uns um so mehr bewogen, auf
die trostlose Negativität solcher Kritik hinzuweisen, als
diese „literarische Tendenz“ im Gebiete der modernen
Kunst die traurigsten Verwirrungen verursacht und jede
Aufklärung über den Werth der Productionen, sowie jede
Abklärung der durch Parteistreitigkeiten erhitzten Gemü-
ther verhindert.
Prag.
Franz Gerstenkorn.