Wörter einzeln suchen


1


Die Aesthetik der Tonkunst.


Wir haben bis jetzt fünf Briefe, Referate über die
Vischer’sche Aesthetik aus der Feder des Hrn. E. v. El-
terlein
enthaltend, veröffentlicht, und es werden noch
zwei oder drei derselben folgen, bevor das Ganze vor-
läufig zum Abschluß gebracht, d. h. bis zum Beginn der
Aesthetik der Tonkunst fortgeführt ist. Doch ist mit dem
bereits Gegebenen das Abstracte beseitigt und alles
Spätere bewegt sich auf concreterem Boden.


Entsteht die Frage nach dem Zweck dieser Mitthei-
lungen, so bemerke ich zunächst, daß diese Auszüge nicht
auf flüchtiges Lesen berechnet, sondern zu wiederholter
genauer Lecture bestimmt sind. Geschieht dies, so ist der
Vorschub, der damit dem Studium des Werkes selbst ge-
leistet wird, die Erleichterung des Verständnisses für den
Ungeübteren, sehr bedeutend, und wenn auch zuerst da-
durch nur eine Uebersicht des Gedankenganges mehr äu-
ßerlicher Natur, zunächst für das Gedächtniß, gewonnen
würde. Ein zweiter Vortheil erwächst aus solchen Mit-
theilungen für diejenigen, die sich sofort mit dem Werke
selbst noch nicht befassen können oder mögen, und dies ist
die Mehrzahl. Jene großen wissenschaftlichen Resultate,
welche bisher nur das Eigenthum der in sich abgeschlos-
senen Wissenschaft waren, werden dadurch einem größeren
Kreise mindestens zugänglich und in etwas geläufig, und
es ist an sich selbst schon ein Gewinn, auch wenn den-
selben unmittelbar weiter keine Folge gegeben werden
könnte. Gehören doch die Leistungen der Deutschen auf 
dem Gebiete der Aesthetik zu den größten geistigen Thaten
derselben.


So wichtig indeß die hier angegebenen Zwecke sind,
so erscheinen dieselben doch nur von secundärer Natur im
Vergleich mit dem Nachstehenden:


Nicht blos um Vischer’s Werk handelt es sich. Ich
glaube, daß die Zeit gekommen ist, wo die Aesthetik der
Tonkunst alles Ernstes in Angriff genommen werden
muß, und nicht blos streng wissenschaftlich und in Bü-
chern, sondern mehr erfahrungsmäßig und in der Tages-
presse, mit der Bestimmung einerseits, damit das was
bisher schon festgestellt wurde, in das allgemeine Bewußt-
sein übergehe, und anderseits, um Neues zu gewinnen,
und späteren vollständigeren Leistungen vorzuarbeiten.
Zwei Stufen in der Auffassung der Tonkunst sind in
neuerer Zeit durchlaufen worden. Die erste ist die der
psychologischen Beschreibung des künstlerischen
Eindrucks
, zur Geltung gebracht insbesondere durch
Fr. Rochlitz, und fortgesetzt bis herein in die dreißiger
Jahre. Auf der zweiten Stufe war das Bestreben vor-
zugsweise darauf gerichtet, das was früher nur als un-
bestimmtes Gefühl zum Bewußtsein kam, auf bestimmte
Vorstellungen
zurückzuführen, den Inhalt nicht blos
als Gefühl zu erfassen, sondern als Gedanken-Be-
stimmung, und damit zugleich dem Zusammenhange der
Erscheinungen näher zu treten. Dies war die Aufgabe,
die ich mir vorzugsweise stellte, in dies. Bl. sowol, als
auch in meiner „Geschichte der Musik“. Der neue Schritt,
der nun zu thun nothwendig wird, — und die Zeit drängt
mit Macht darauf hin, — besteht darin, nicht blos durch
subjective innere Erfahrung den künstlerischen Geist
zu erfassen, sondern aus der objectiven Gestalt des
Tonstücks heraus ihn zu erkennen, aus der äußeren
technischen Gestaltung heraus das Innere, den
geistigen Gehalt zu begreifen
. Das Princip selbst
habe ich vor langen Jahren schon einmal ausgesprochen, 

2

und Hanslick hat neuerdings dasselbe gethan, nur daß
dieser falsche Consequenzen gezogen hat, so daß, streng ge-
nommen, kein einziger seiner Sätze stichhaltig ist. Es
thut dies — beiläufig erwähnt — der schon früher von
mir anerkannten Trefflichkeit seiner Leistung, der wissen-
schaftlichen Klarheit, mit der er seinen Gegenstand er-
faßt, durchaus keinen Eintrag. Auf wissenschaftlichem
Gebiete kommt es nicht ausschließlich darauf an, daß
einer allein schon unmittelbar das Wahre erfaßt, es ist
schon ein großes Verdienst, wenn jemand so zu fragen ver-
steht, daß eine bessere Antwort, als bis dahin möglich
war, auf die Frage folgen kann, oder wenn er ausschließ-
lich auf negative Weise seinen Gegenstand fördert. Beides
thut Hanslick, das Letztere, indem er glücklich gegen
frühere Träumereien ankämpft. Nun aber kommt es
darauf an, auf dem jetzt gefundenen richtigen Wege wirk-
lich weiter zu gehen, und nicht sofort wieder abzuirren,
auf einem Wege, dessen Verfolgung dem Musiker in der
That eine neue Welt zu öffnen verspricht, und ich be-
trachte dies, nachdem manches Bisherige vorläufig und
bis auf einen gewissen Grad erledigt ist, als eine der
weiteren Aufgaben, welche sich diese Bl. zu stel-
len haben
. In diesem Sinne haben die Auszüge aus
Vischer’s Aesthetik die Bedeutung, den Gegenstand ein-
zuleiten, ihn vorzubereiten, soweit möglich, eine Orienti-
rung darüber anzubahnen; mit diesem Bewußtsein wurden
jene Referate aufgenommen.


Der Werth der Aesthetik der Tonkunst ist nicht blos
ein streng wissenschaftlicher, sie befriedigt nicht ausschließ-
lich nur das Interesse des Erkennens, auch die prak-
tische Bedeutung derselben kann eine außeror-
dentliche sein
, sobald sie selbst nur erst zu einiger Reife
gediehen ist. Oder zweifelt man daran, daß eine große
Menge der gegenwärtigen Streitigkeiten plötzlich von
selbst aufhören müßte, wenn die ästhetischen Sätze,
welche dieselben zur Voraussetzung haben, bereits fest-
gestellt oder allgemeiner bekannt wären? Nur ein Bei-
spiel zum Beleg. Eine Hauptfrage ist die nach der Form
zum Inhalt, und in der Tonkunst ist dieselbe von ganz
besonders großer Schwierigkeit. Ist dieselbe entsprechend
gelöst, ist zur Klarheit entwickelt, wie in der Tonkunst sich
der Inhalt die Form schafft, sonach das Primi-
tive ist, und dann doch nur an der Form und so-
mit als ein blos Secundäres erscheint
, — Hans-
lick
giebt darüber durchaus Unzulässiges, wie spätere
Untersuchungen nachweisen müssen, — so sind mit einem
Schlage auch alle Zweifel über Zu- oder Unzulässigkeit
von Formveränderungen, z. B. bei Liszt’s Symphoni-
schen Dichtungen, beseitigt. Sie sind nicht blos zulässig,
sie sind nothwendig, in einem Grade, daß wir jede neue
Form willkommen heißen müssen, vorausgesetzt, daß sie
schön sei, und nicht willkürlich gemacht, sondern aus
den bisherigen Gestaltungen naturgemäß hervorwachsend.
Es geht demnach hier mit dem bezeichneten Fortschritt 
wie in allen menschlichen Dingen. Ein Zeitalter ist in
Zweifeln und Irrthümern befangen, und spannt vergeb-
lich alle Kräfte an, sich daraus emporzuringen. Ist das
Wort des Räthsels gefunden, so blickt man lächelnd zu-
rück auf eine solche Epoche, die mit einemmal zur Bedeu-
tungslosigkeit zusammenschrumpft. Jetzt ist insbesondere
die Möglichkeit zum weitern Vordringen gegeben, da die
beiden bezeichneten Stufen erst ihre Erfüllung gefunden
haben mußten, bevor weiter fortgegangen werden konnte.


Natürlich handelt es sich hier zunächst nicht um
philosophische Untersuchungen; im Gegentheil, die Praxis
muß den Ausgangspunct darbieten, und von ihr aus ist
erst weiterhin zur strengeren Wissenschaft vorzugehen.
Dies ist der Weg, den jetzt alle Wissenschaften einschla-
gen, und der auf dem Gebiete der Naturwissenschaften
bereits zu großen Resultaten geführt hat. Auch für die
Aesthetik der Tonkunst verspricht ein solches Verfahren
eine endliche Lösung des so lange vergeblich Ersehnten.
Fr. Br.