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Populäre Aesthetik.


  • Aesthetik in Umrissen. Zur allgemeinern philosophischen
    Orientirung auf dem Gebiete der Kunst. Von Joseph
    Bayer
    . Erster Theil. Prag, Mercy. 1855-56. Gr. 8.
    1 Thlr. 26 Ngr.

  • A-B-C der Aesthetik. Fünf Vorlesungen, gehalten zu
    Strasburg von Albert Grün. Strasburg, Treuttel u.
    Würtz. 1856. 8. 1 Thlr. 2 Ngr.

  • Die Grenzen der Musik und Poesie. Eine Studie zur
    Aesthetik der Tonkunst. Von August Wilhelm Ambros,
    Prag, Mercy. 1856. 8. 24 Ngr.

  • Zur Reform der modernen Kunst. Eine Studie zur neue-
    sten Kunstgeschichte. Halle, Schroedel u. Simon. 1856.
    Gr. 8. 15 Ngr.

  • Wenn auf dem Gebiete der Aesthetik Schriften wie die
    beiden erstgenannten erscheinen, die nicht durch neue Ideen
    oder Forschungen die Wissenschaft als solche weiterführen,
    sondern das in ihr Errungene für die allgemeine Bildung ver-
    ständlich und fruchtbar machen wollen, so ist das immer ein
    erfreuliches Zeichen, daß sich in weitern Kreisen auch ein Ver-
    langen nach der Einsicht in das Wesen des Schönen und der
    Kunst rege, wiewol es immer besser wäre, wenn auch die selb-
    ständigen Denker und Forscher von Haus aus weniger für die
    Schule und mehr für das Leben schrieben. Der Ton, den
    Schiller in den „Briefen über die ästhetische Erziehung des
    Menschen“, den Lessing im „Laokoon“, den Schelling in seiner
    Rede „Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zur Natur“
    angeschlagen, sollte maßgebend sein; denn diese Werke bewei-
    sen, daß man zugleich die Wissenschaft weiterführen und zugleich
    auf die Nationalbildung einwirken, daß man tief und klar,
    scharf und schön zugleich über ästhetische Fragen schreiben 

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    kann. Die im vorigen Decennium begonnene „Aesthetik“ von
    Vischer bietet neben den eigenen Gedanken und Urtheilen des
    Verfassers zugleich ein ziemlich vollständiges Repertorium aller
    Leistungen auf ästhetischem Gebiet; sie hat zugleich die Kunst-
    geschichte und ihre Resultate mit der Hegel’schen Philosophie in
    Verbindung gebracht. So ist sie für Nachfolgende, die keineswegs
    alle Studien des Verfassers mitgemacht haben, eine Fundgrube
    von Gelehrsamkeit, eine Sammlung von mannichfaltigen Ansich-
    ten, die man weiter erörtern kann; ihr großer Umfang reizt dazu,
    sie mehr ins Enge zu ziehen, und die Form der abstract gehal-
    tenen Paragraphen und der erläuternden Anmerkungen veran-
    laßt dazu, beide ineinander zu arbeiten. Das scheint sich denn
    Bayer zur Aufgabe gemacht zu haben. Er und A. Grün 
    nehmen im Wesentlichen den Vischer’schen Standpunkt ein,
    Bayer zeigt sich aber überall von ihm abhängig. Er kennt
    kaum etwas Anderes oder Neueres. So sind ihm z. B. Zei-
    sing’s „Proportionslehre“ und „Aesthetische Forschungen“ fremd
    geblieben, und was ich über das Ungenügende von Vischer’s,
    d. h. Hegel’s philosophischen Principien in Fichte’s Zeitschrift,
    was ich selbständig darstellend in meiner „Poetik“, namentlich in
    den einleitenden Abschnitten veröffentlichte, ist für ihn nicht
    geschrieben gewesen. Er will das Schwierige durch einen blü-
    henden Stil leicht machen und setzt Metaphern an die Stelle
    des begriffsmäßigen Ausdrucks. Von einem großen Verdienste
    um die Wissenschaft kann bis jetzt weder bei ihm noch bei
    Grün die Rede sein; aber ihren Zweck, eine bestimmte Ent-
    wickelungsstufe der Aesthetik auf eine leichtfaßliche und ein
    größeres Publicum leicht ansprechende Weise popularisirend zu
    schildern, diesen Zweck haben sie glücklich erreicht.


    Grün’s Vorlesungen sind durch jugendliche Frische und
    Wärme ausgezeichnet, das lebendige Wort des Redners klingt
    auch im Druck durch die stummen Lettern hindurch, er sagt We-
    niges, was geradezu falsch wäre, aber er meint oft ein Problem
    dadurch gelöst zu haben, daß er es beschreibt, wie z. B. das Pro-
    duciren der Phantasie. Wenn er selbst laut seiner Vorrede
    „weit entfernt ist, dem hier von ihm Gebotenen große Bedeu-
    tung beizulegen“, so wird er auch von uns nicht fodern kön-
    nen, daß wir es thun; aber um einen Ueberblick über das Ge-
    biet der Aesthetik zu gewinnen, um einmal, was jetzt Eigen-
    thum aller Gebildeten ist, dem heranwachsenden Geschlechte in
    gedrängtem Zusammenhange vorzutragen, ist sein Büchlein
    empfehlenswerth. Daß er die landschaftliche Schönheit leugnet,
    mit der für viele Menschen doch die ästhetischen Eindrücke be-
    ginnen, der zuliebe Tausende jetzt in die Schweiz und jetzt ans
    Meer reisen, ist eine Consequenz davon, daß er das Schöne
    zunächst in den Dingen statt in dem auffassenden Subjecte
    gesucht hat. Diesen Jrrthum theilt er mit Bayer. Wir wollen
    etwas näher auf die Frage eingehen.


    Wir glauben nach gewöhnlicher Ansicht der Dinge in einer
    tönenden, hellen, farbenreichen Welt zu leben und sie, die für
    sich fertig ist, mit unsern Sinnen und Gedanken nur aufzu-
    nehmen, uns mit ihrem Inhalt zu erfüllen. Aber die kritische
    Philosophie lehrt uns, daß wir zunächst nur die Aenderung
    der eigenen Zustände im Bewußtsein erfassen und die innern
    Bilder, die wir danach produciren, als eine Erscheinungswelt
    außer uns setzen, indem wir sie vorstellen und von unserm
    Selbst unterscheiden. Nur daß wir denken, ist das unmittel-
    bar und unzweifelhaft Gewisse, weil ein Zweifel daran selbst
    ein Gedanke wäre und weil dieser das sich selbst erfassende
    Sein ist; und wäre kein Bewußtsein, keine Wahrnehmung und
    Empfindung, so würde das bloße Dasein einer materiellen Welt
    weder genossen, noch angeschaut, noch irgendwie erfaßt werden
    und so gut wie gar nicht vorhanden sein. Ohne Kant’s „Kri-
    tik der reinen Vernunft“ studirt zu haben, sollte Niemand in
    ästhetischen Dingen ein Wort mitreden wollen, aber weder bei
    Bayer noch bei Grün sind die Spuren eines Verständnisses
    dieses Buchs. Mit diesem aber stimmt die Naturwissen-
    schaft überein, wenn sie lehrt, daß Ton und Farbe außer uns
    als solche nicht erfunden, daß sie erst in uns und durch uns 
    erzeugt werden. Außer uns vorhanden sind Luft und Aether,
    sind Dinge, deren Bewegungen sich der Luft oder dem Aether
    mittheilen. Die an sich lautlosen und dunkeln Weltenschwin-
    gungen durchwogen die Luft und den Aether, und erst wo sie
    an ein Ohr, wo sie an ein Auge schlagen und durch dies Sin-
    nesorgan die in ihm verzweigten Nerven berühren und nach
    Maßgabe der eigenen Bewegung erregen, empfinden wir diese
    Umstimmung unserer Organe und vernehmen sie als Schall
    und Licht. Die Sterne stehen am Himmel, wenn auch alle
    Augen geschlossen sind, aber sie glänzen erst, wenn ihre Strah-
    len vom offenen Auge aufgenommen werden; wir hören die
    Stimme der Nachtigal nicht außer uns, erst in unserm Ohr,
    erst unserer Empfindung beginnt sie zu tönen.


    Da nun alles Schöne in Natur und Kunst uns durch die
    Sinne vermittelt wird, da es durch Formen, Farben, Töne
    unserm Gemüthe mitgetheilt werden muß, so ergibt sich aus
    der obigen Betrachtung, daß es nicht außer uns in den Din-
    gen fertig besteht, sondern in uns durch unsere Empfindung
    erst erzeugt wird. Wir wissen zunächst nicht von schönen Ge-
    genständen, sondern von Lustgefühlen, in welchen unser Dasein
    erhöht, unser ganzes Gemüth durch ein sinnlich-geistiges Wohl-
    behagen, durch den Genuß voller Gesundheit befriedigt und
    beseligt wird. Dann werden wir inne, daß wir diese Gefühle
    nicht willkürlich hervorrufen, daß sie nicht zufällig auftauchen,
    sondern in einem Zusammenwirken bestimmter Vorstellungen
    mit unserer Seele entstehen, und wir nennen die Gegenstände
    dieser Vorstellungen schön im Unterschiede von andern, welche
    andere Empfindungen in uns erwecken.


    Hätte Bayer dies erwogen, so würde er es nicht für ein
    Besonderes der Schönheit in der unorganischen Natur erachtet
    haben, daß dieselbe in uns, in unserm fühlenden Auge, in unserm
    sinnigen Schauen sei; auch die Farben des Gemaldes sind erst
    unsere Empfindung, auch die Melodie eines Liedes besteht außer
    uns nur als Luftschwingungen, die in unserm Ohr zum Tone
    werden; das Ohr vernimmt nur Töne nacheinander; wenn der
    eine gehört wird, ist der andere verklungen, das Bewußtsein
    muß die Töne in ihrer Folge festhalten und zur Einheit ver-
    knüpfen, die Seele hört also die Melodie durch eigene Thätigkeit,
    und wer eine Dichtung genießen will, der muß sie miterzeu-
    gen, der muß sie dem Dichter in sich selbst nachschaffen.


    Bayer hat von unserm Leben eine sehr schlechte, von der
    Aesthetik eine sehr gute Meinung. Er sagt: „Das aus der
    Welt geschiedene Schöne, das die Basis einer schönen Wirk-
    lichkeit verloren hat, muß in die Sphäre des Gedankens erho-
    ben werden, um uns so gesichert und unverloren zu bleiben.“
    Aber all seine Erhebungen in den Gedanken würden uns ein
    schlechter Ersatz sein, wenn Rafael’sSixtinische Madonna“
    oder Mozart’sDon Juan“ verlorengingen. Das ist ja gerade
    die Eigenthümlichkeit des Schönen, daß die ewige Idee nicht
    blos gedacht, sondern angeschaut und empfunden wird, und
    darum ist für den Verstand in jedem schönen Werke ein Un-
    erschöpfliches und Unsagbares vorhanden. Der Künstler wäre
    ein rechter Thor, welcher jahrelang an einem Werke meißelte
    oder malte, wenn er dasselbe mit ein paar Worten ausdrücken
    könnte, wenn nicht das Bild eine Offenbarung ewiger Wesen-
    heit auf eine ganz eigene Art wäre, die in ihrer eigenen
    Sphäre bestehen will, die nicht in einer andern aufgehoben
    werden kann. Bayer sieht in den griechischen Tempeln Weih-
    geschenke, die das Volk seinen Göttern brachte, während Schin-
    kel’s berliner, Klenzel’s münchener Bauten in keinem Zusammen-
    hange zur preußischen oder bairischen Staatsidee ständen; aber
    müßte er nicht mit den Tempeln vielmehr unsere Kirchen zu-
    sammenstellen, die doch aus unserer Religion hervorgehen? Er
    nennt die burgschützende Athene auf der Akropolis das durch
    die Siege über die Perser auch zu geistiger Riesengröße empor-
    gewachsene Palladium, während die Bavaria in München nur
    deshalb so kolossal dastehe, weil sie König Ludwig so bestellt habe.
    Aber ist denn jenes Erzbild des Phidias nicht auch durch Pe-
    rikles bestellt und von Phidias gegossen worden, sollte es wirk

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    lich gewachsen sein wie jene Flinte, die der Judenjunge schon
    als kleines Pistölchen gekannt haben wollte? Er meint, Kaul-
    bach’s Bilder im Neuen Museum hätten mit dem preußischen
    Saate nichts zu thun, während die Malereien Polygnot’s,
    welche die Großthaten der Griechen darstellten, eine lebensvolle
    Bedeutung für Athen gehabt hätten. Aber ließ nicht Ludwig
    Philipp in Versailles die Großthaten der Franzosen malen,
    stehen nicht in Berlin die Statuen der Helden aus dem Be-
    freiungskriege, und ist unsere Gegenwart zu denken ohne die
    großen Epochen der Culturgeschichte, die uns Kaulbach ver-
    anschaulicht? Ehemals, meint Bayer, sei die Architektur das
    Haus der Kunst gewesen, jetzt wohne diese aber nur in Concert-
    sälen, Buchläden und Kunsthandlungen zur Miethe; er fragt,
    was da zu thun sei, und antwortet: „Die Kunst muß eine
    neue Heimat im Gedanken suchen, da sie dieselbe nicht mehr
    durch Vermittelung der Architektur im unmittelbaren Volks-
    dasein findet: das moderne Pantheon, das sich nicht aus Stein
    bauen läßt, das neue Haus, in das die Kunst nun als in ihr
    eigenes einziehen soll, ist die Aesthetik.“ Die Aesthetik ist
    aber nicht eine Kunst, die Darstellung des Schönen ist nicht
    ihr Zweck, sondern sie ist eine philosophische Wissenschaft, welche
    die Wirklichkeit des Schönen erkennen und im Zusammen-
    hang des geistigen Lebens begreifen, ihre Idee erfassen und
    daraus ihre Gesetze entwickeln will. Das erfodert freilich das Ver-
    ständniß der Natur und des Geistes, es erfodert eine gründ-
    liche philosophische Bildung, und es ist das Schwerste, über
    den Begriff des Schönen auch volksverständlich zu schreiben.


    Nachdem ich der Redaction die Besprechung von Bayer’s
    Buch zugesagt, habe ich es genau durchgenommen und beson-
    ders in den ersten Heften eine Menge halbwahrer oder fal-
    scher Vorstellungen neben den zusammengelesenen wirklichen
    Resultaten der seitherigen Forschung gefunden. Eigenthüm-
    liches ist anfangs wenig vorhanden, später findet sich mehr
    davon; doch wäre uns auch eine lesbare und übersichtliche Zu-
    sammenstellung des von Andern Geleisteten willkommen ge-
    wesen; aber freilich wie soll sie Jemand veranstalten, der nicht
    das Princip im eigenen Wissen gefunden und damit einen
    Maßstab der Beurtheilung gewonnen hat! Doch wir müssen
    noch einen Augenblick bei unserm obigen Satze verweilen. Eine
    Kunst, was die Architektur ist, ersetzen zu wollen durch Aesthe-
    tik, ist nichts Anderes, als wenn man dem Mann mit hunge-
    rigem Magen statt des Brotes eine Abhandlung über die Phy-
    siologie der Nahrungsmittel böte. Daß die erkannte Wahrheit,
    daß die Einsicht in das Wesen der Kunst dem Künstler förder-
    lich wird, bestreitet kein Vernünftiger; wir Alle wissen, was
    nach Goethe’s eigenem Bekenntniß die deutsche Poesie Lessing’s
    Kritik verdankt, und Lessing selbst, der sich nicht einmal für
    einen Dichter im vollen Sinne des Worts halten wollte, er-
    klärte doch, daß er mittels seines künstlerischen Wissens das
    beste Stück Corneille’s besser machen wolle als sein gepriesener
    Autor. Aber eben im Künstler muß die Kunstlehre wieder
    fruchtbar werden, sonst bleibt es bei dem Distichon:
    Fortzupflanzen die Welt sind alle vernünft’gen Discurse
    Ungenügend, auch kommt durch sie kein Kunstwerk hervor.


    Für Bayer’s Zweck war es ganz angemessen, nicht mit der
    Idee des Schönen zu beginnen, sondern mit der Betrachtung
    der Wirklichkeit, um aus ihr jene zu gewinnen. So wendet er
    sich zuerst zur Natur und macht hier manche feine Bemer-
    kung, die zwar oft einer andern Begründung bedarf, dadurch
    aber in ihrem Werthe nicht beeinträchtigt wird, z. B. daß die
    schöne Naturgestalt in ihrem rechten Glanz erscheint, wenn das
    Individuum durch seine eigene Thätigkeit das in ihm schlum-
    mernde Urbild weckt, so das wohlgeformte Roß in seiner Be-
    wegung, der Adler im majestätischen Flug. Er hat Recht, wenn
    er sagt, daß wir eine Pflanze oder ein Thier schön nennen,
    insofern sie den gattungsmäßigen Ausdruck der vegetabilischen
    oder animalischen Daseinsform vollkommen erreichen; wenn er
    aber diese Schönheit eine That der Gattung nennt, an wel -
    cher das Individuum keinen Antheil habe, so verkennt er, daß
    alles Leben sich aus individuellen Keimen und nicht aus all-
    gemeinen Gesetzen, sondern nur nach denselben entwickelt, und
    daß uns das Einzelwesen schön heißt, welches das Gesetz in
    eigener freier Triebkraft erfüllt und verwirklicht. Eine Ahnung
    davon, daß das Schöne immer ein Freies ist und aus bloßer
    Nothwendigkeit nicht entwickelt und verstanden werden kann,
    hat auch Vischer gehabt, aber auf sehr verkehrte Weise den
    Zufall herangezogen, wofür ihn Bayer mit schülerhaftem Nach-
    sprechen preist, ohne zu bedenken, daß Nothwendigkeit und Zu-
    fälligkeit zusammen noch lange keine Freiheit geben, und daß
    der Zufall als das Grundlose in Wirklichkeit gar nicht ist,
    sondern nur eine Ansicht der Menschen bei mangelnder Erkennt-
    niß der Gründe, oder ein Ausdruck für Dasjenige, was sich
    ohne unsere Absicht ereignet, was uns zufällt, ohne daß wir
    daran gedacht, oder einsehen, woher es kam, sodaß es nur für
    uns zufällig, an sich aber wohlbegründet und auch sein Zu-
    sammentreffen mit uns durch den Weltzusammenhang bedingt
    war. „Es gibt keinen Zufall, Zufall wäre Gotteslästerung“,
    rief einmal Lessing wie von dem Blitz der Wahrheit hingerissen,
    und vor den Physikern macht man sich lächerlich, wenn man
    den Zufall wieder in die Natur einführen will. Der Geist ist
    so wenig ohne Gesetz und Nothwendigkeit, als die Natur ohne
    Freiheit. Die Freiheit aber in ihrem ganzen Wesen und in
    ihrem innigen Verhältniß zur Schönheit darzustellen, erfodert
    eine eigene Abhandlung, die ich bald im systematischen Zusam-
    menhang einer Aesthetik den Freunden dieser Wissenschaft vor-
    zulegen hoffe.


    Was mag sich Bayer bei folgender Phrase gedacht haben,
    die das Goethe’sche Wort „Im Anfang war die That“ erläu-
    tern soll? Unter That verstehen wir Andern das Werk der
    Freiheit, des Selbstbewußtseins, er aber sagt: „Im Anfang
    war der Gedanke nur als Naturthat, als denkbares, aber
    noch nicht selbst denkendes Schaffen.“ Ein Gedanke, der nicht
    denkt und nicht gedacht wird, denn das ursprüngliche Schaffen
    soll ja nicht denken, wenn das nicht jenes Messer ohne Klinge
    ist, dessen Stiel abhanden kam.


    Mit Wohlgefallen liest man dagegen die Schilderung vom
    „Geistschönen“, d. h. den Abschnitt, welcher das menschliche
    Leben vom ästhetischen Standpunkt betrachtet; hier ist Man-
    ches selbständig und sinnig weiter entwickelt, während die Dar-
    stellung der Phantasie oder des künstlerischen Schaffens bei vie-
    len trefflichen Einzelheiten dadurch ungenügend bleibt, daß
    Bayer sich das Unfreiwillige und Freiwillige, das hier stets
    zusammenwirkt, nicht recht vor Augen gestellt, geschweige die
    Erklärung der Thatsache versucht hat, wie das Kunstwerk zu-
    gleich als des Künstlers eigene That und als ein ihm zutheil
    gewordenes Geschenk einer höhern Macht sein kann; denn als
    Eingebung und als eigener Kraft Erzeugniß, als Werk der
    Begeisterung und besonnenen Erwägung zugleich stehen nach
    der Aussage der Künstler selbst ihre Schöpfungen da. Ich
    habe in einem Abschnitte meiner „Poetik“ das Problem aufgestellt
    und das Wort ausgesprochen, welches die Thatsache nicht leug-
    net, sondern begreift und damit das Räthsel löst, für mich
    nämlich, und ich hätte gern erfahren, ob auch für Andere;
    aber der Verfasser hat es nicht der Mühe werth erachtet, auf
    diese Fragen einzugehen. Doch hätte sich gerade hier der Ver-
    fasser es klar machen können, ob er selbst auf pantheistischem
    Standpunkte, den Vischer für den allein möglichen und zuläng-
    lichen ausgibt, stehenbleiben oder auf einen andern mit uns
    sich erheben wolle, der die Innen- und Ueberweltlichkeit Got-
    tes, Gottes Unendlichkeit und freies Selbstbewußtsein zugleich
    festhält, sowie die Seele des Menschen allgegenwärtig im Leibe
    lebt und doch über ihm als Geist bei sich selbst ist.


    Im Abschnitt über das Kunstschöne betrachtet der Ver-
    fasser das Architektonische, Plastische, Malerische und Musika-
    lische, und wir müssen ihm das Zeugniß geben, daß sein Werk
    sich hebt, je mehr er ins Concrete kommt. Die Poesie und ihre
    Verbindung mit der Musik, die Begriffe des Erhabenen, Tra

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    gischen, Komischen, Humoristischen hat er noch nicht erörtert;
    wir empfehlen ihm hierfür Zeising’s „Aesthetische Forschungen“.
    Gar manches treffende Wort sagt er über jene Künste; seine
    Urtheile über einzelne Werke sind fein und zeigen eine preis-
    würdige Gediegenheit der Geschmacksbildung, und so ergibt sich,
    daß Bayer ein warmer Freund des Schönen ist, der es für
    sich zu genießen versteht, der in einzelnen bestimmten Fragen
    über besondere Gegenstände Ausgezeichnetes leisten kann, aber
    für die grundlegenden allgemeinen Untersuchungen des philo-
    sophischen Talents und der Reife des Geistes für metaphysische
    Fragen ermangelt. Um das bereits von der Wissenschaft Er-
    rungene in weitere Kreise einzuführen, ist sein Werk geeignet,
    aber es führt auch Irrthümer mit sich, auf die schon hingewie-
    sen war, ohne daß er es wußte. In der Darstellung hüte er
    sich bei dem Streben, Licht und Wärme zu verbinden und über
    ästhetische Dinge auch ästhetisch zu schreiben, vor der Gefahr,
    den noch unklaren Gedanken durch einen blühenden Stil auf-
    zuputzen und die Schärfe des begrifflichen Ausdrucks durch
    Metaphern zu ersetzen, die jene immerhin veranschaulichen mö-
    gen, sobald sie für sich vorhanden ist.


    Auch Ambros gibt sich in seiner Schrift „Die Grenzen
    der Musik und Poesie“ als gebildeten Dilettanten zu erkennen;
    er entwickelt nicht aus Principien, noch steigt er zu ihnen em-
    por, er begründet seine Ansichten weder auf das Wesen der
    Kunst noch auf die Natur des Geistes; er hält das Thema
    weniger direct und scharf im Auge, als daß er sich darüber
    und um dasselbe herum in mannichfaltigen Bemerkungen er-
    geht, und es gelingt ihm nicht, das Gesetz mit der Präcision
    und Unantastbarkeit für den Unterschied der Musik und Poesie
    festzustellen, wie es Lessing in seinem ästhetischen Meisterwerke
    in Bezug auf die Grenzen der Malerei und Dichtkunst gethan.
    Aber nur an diesem höchsten Maßstab gemessen, läßt das Werk-
    chen etwas vermissen; als „Studie zur Aesthetik der Tonkunst“,
    als eine Sammlung kunstsinniger Betrachtungen und seiner
    Urtheile wird es den Freunden der Musik wie der Aesthetik
    willkommen sein und kann ihnen wegen der Richtigkeit der
    aufgestellten Ansichten empfohlen werden, wenn auch diese An-
    sichten der philosophischen Begründung und Entwickelung noch
    bedürfen.


    Mit Fug erklärt sich Ambros gegen selche Musiker, welche
    (wie Félicien David im „L’avant d’homme“) den Zustand des
    Planeten in der Lias- oder Keuperperiode malen, welche, wie
    Berlioz, einzelne Scenen aus Shakspeare’s „Romeo und Julie“
    nacherzählen wollen, und nennt solche Tonstücke Programmen-
    musik, weil sie ohne die erläuternden Worte gar nicht verständlich
    sind. Hier wird also der Musik etwas aufgegeben, was ihr
    unmöglich ist, was darzustellen einer andern Kunst überlassen
    bleiben muß. Jeder Kunst eignet ein bestimmter Lebensinhalt,
    den nur sie vollkommen darstellen kann, und wie sie unüber-
    trefflich ist auf ihrem eigenen Gebiete, so bleibt sie nothwendig
    zurück, wenn sie in die Sphäre einer andern Kunst übergreift.
    Gegen die Verkehrtheit, Tonwerke mit Bildern oder Worten
    schildern zu wollen, statt das Schöne in der musikalischen Form
    zu verstehen und zu genießen, oder Bilder und Worte musika-
    lisch darstellen zu wollen, hat Hanslick bekanntlich ein ebenso
    einseitiges als geistvolles Schriftchen gerichtet. „Der Compo-
    nist“, sagt Hanslick, „dichtet und denkt, nur dichtet und denkt
    er, entrückt aller gegenständlichen Realität, in Tönen.“ Der
    Musiker componirt nicht mit dem Gefühl, sondern wie jeder
    Künstler mit der Phantasie. Aber Hanslick leugnet auch, daß
    das Gefühl der Inhalt der Musik sei, während gerade diese
    Kunst allein das Gefühl als solches offenbart, d. h. die
    Selbstinnigkeit unserer Seele, die Zuständlichkeit unsers Gemüths
    als solche, wie sie durch Vorstellungen und Gedanken angeregt
    und verändert wird, aber selbst weder Anschauung noch Ge-
    danke, sondern Stimmung ist, deren Empfindung sich im Ton,
    zunächst im Schrei des Schmerzes und der Freude kundgibt.
    Der Wechsel der Zustände in der ununterbrochenen Einheit des
    Ich, der Fluß des innern Lebens hat sein äußeres Gegenbild 
    im Flusse der Zeit und in deren Erfüllung durch den Ton,
    und in der Stärke, im Rhythmus, im Auf- und Absteigen der
    höhern und tiefern Töne und in ihrem Zusammenklang prägt
    sich der Verlauf eines Gefühls selbst künstlerisch aus und kann
    es allein auf diese Weise, da die bildende Kunst nicht die Be-
    wegung als solche auszudrücken, sondern nur einen Moment
    im Raum zu firiren vermag, die Poesie aber die Vorstellungen
    und Gedanken des Geistes, nicht dessen eigene, sie begleitende
    Zuständlichkeit ausspricht und zur Bestimmtheit des Wortes
    fortgeht, während das Gefühl ein ganz Individuelles und zu-
    gleich Unsagbares ist. Hanslick aber sagt, „daß tönend bewegte
    Formen einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik
    sind“. Aber es gibt keine Form als solche, sie ist immer an
    einem Inhalt, sie ist das selbstgesetzte Maß innerer Bildungs-
    kraft, das Wesen bringt sich in ihr auch für Andere zur Er-
    scheinung, und das unterscheidet die Melodie vom leeren Kling-
    klang, daß sie der Ausdruck des fühlenden Geistes ist, der eine
    Stimmung nach ihrer Natur und ihrem Verlaufe künstlerisch
    abgerundet in ihr auf ideale Weise kundthut, in ihrem Rhyth-
    mus und Wohlklang die Harmonie der Welt vernehmen und
    das Gesetz der Entwickelung empfinden läßt. Allerdings kann
    die Musik nicht sagen: „Ich liebe dich“, oder: „Es ist heute
    trübes Wetter“; aber anders ist die Stimmung der Seele im
    Freudvoll und Leidvoll der Liebe, anders, wenn ein schwerer
    Herbstnebel die Natur belastet, und die Resonanz der Gedan-
    ken oder äußern Wahrnehmungen im Gemüthe offenbart eben die
    Tonkunst. Anders empfindet der Denker im Ringen mit dem
    Zweifel um das Geheimniß des Daseins und in der Beseli-
    gung der selbstgefundenen Wahrheit, anders das Landmädchen,
    wenn es den Burschen zum Tanz unter der Linde trifft; der
    Genius eines Beethoven hat auch für jenes den Ausdruck ge-
    funden, während dieses bereits in der Melodie des Ländlers
    erklingt. Endlich gibt uns die Musik den Verlauf des Gefühls
    als solchen ohne das Bild des bestimmten Gegenstandes, des
    bestimmten Gedankens, der es erregte; aber wie auch das
    Gemälde und das Gedicht in uns zum Gefühle wird, so weckt
    der Ausdruck des Gefühls wieder Vorstellungen gleich Klang-
    figuren in der Seele, in jeder andere nach ihren Lebenserfah-
    rungen. Die Musik gibt sozusagen die Buchstabenformel,
    die der Hörer dann mit benannten oder unbenannten Zahlen
    ausfüllt.


    So sagt denn auch Ambros viel Treffendes gegen Hans-
    lick, indem er die Thaten der großen Musiker der mangelhaf-
    ten Theorie des leeren Formalismus entgegenstellt. Er erörtert
    Händel’s „Alexanderfest“, um darzuthun, wie der Künstler des
    Ausdrucks und der Erweckung der Gefühle fähig ist. Er nennt
    es ästhetischen Materialismus, wenn man in der Musik nur
    den äußern Klang und seine Verbindung, nicht auch einen
    idealen Gehalt wahrnimmt, und in der That ist ja alles Schöne
    die Offenbarung des Geistes in sinnlich wohlgefälligen Formen,
    und wenn die Musik nur eine tönende Arabeske wäre, könn-
    ten wir sie so wenig als den Tanz zu den eigentlichen Künsten
    rechnen, die mit der Philosophie, mit der Religion das Höchste
    im Leben sind. Ambros entwickelt, wie in der Harmonie, in
    dem symmetrischen Gliederbau, im Rhythmus der Leib des
    Tonstücks besteht; aber der Leib verlangt auch eine Seele!
    Brächte die Musik, sagt er, nur die physikalische Nerven-
    reizung hervor — und mehr könnte sie nicht, wenn sie ohne
    idealen Gehalt wäre —, so befänden wir uns ihr gegenüber auf
    dem Standpunkte eines galvanisirten Froschschenkels. Ihre Wir-
    kung allein in den Rhythmus setzen, hieße den Eindruck eines
    Trauerspiels von Sophokles dem Versmaß zuschreiben. Das
    Wesen der Musik nur in der anmuthigen Tonverbindung sehen,
    hieße die Malerei auf die bloße Darstellung von Körperformen
    beschränken und es ihr versagen, auch die Seele und den Cha-
    rakter der Personen oder die geistige Bedeutung einer veran-
    schaulichten Handlung auszudrücken.


    In jeder Kunst wirkt der ganze Geist; auch im Bildhauer,
    wie im Dichter, ist das Gefühl lebendig, und sein Werk wirkt 

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    gefühlerregend, auch der Musiker hat eine Fülle von Anschauun-
    gen und Gedanken in seiner Seele und erweckt solche wieder
    im Hörer. Der Musiker aber stellt Gefühle dar und wirkt
    unmittelbar auf unser Gefühl und mittels der erregten Stim-
    mung auf das mit ihr zusammenhängende geistige Leben; der
    Dichter spricht in Worten die Gedanken und Thaten aus und
    ruft mittels derselben Bilder vor unsere innere Anschauung,
    Gefühle in unserm Herzen wach. Aehnlich sagt Ambros: „Ge-
    müthsstimmungen sind in der Regel das Resultat von Reihen
    bestimmter Vorstellungen. Diese letztern lassen sich in bestimmte
    klare Worte fassen, jene nicht. Die Musik bringt uns nur
    fertige Stimmungen entgegen, über deren vorgängige Vor-
    stellungsreihen sie uns keine Rechenschaft gibt; die Stim-
    mung, welche der Hörer von der Musik empfängt, trägt er
    nun zurück auf sie über, er sagt, sie drücke dieselbe aus.“ Ich
    möchte die Anhänger des bloßen Ergötzens am Formenspiel
    daran erinnern, daß der Ton nicht blos Ausdruck unserer
    Empfindung, sondern überhaupt eine Empfindung von uns ist.
    Die Betrachtung der Schwingungsverhältnisse könnte, wie die
    eines jeden mathematischen Satzes, dem Denker eine Befriedi-
    gung gewähren, aber als Ton werden sie empfunden, wenn
    sie mittels der Luftwellen an unser Uhr schlagen, der Ton ist
    das Product der Seelenthätigkeit, die sich in ihm bestimmte
    Zustandsänderungen der Leiblichkeit zur Empfindung bringt.
    So sind auch Roth, Blau etc. unsere Empfindungen und noch
    etwas Anderes als so oder so viele Aetherschwingungen von
    so oder so großer Wellenbreite, nämlich Das, was wir sub-
    jectiv aus diesen objectiven Bewegungen machen. In jeder
    Wahrnehmung schreiben wir der Natur des Gegenstandes Das-
    jenige zu, was unsere Subjectivität im Zusammenwirken mit
    ihm erzeugt, indem wir uns dieses vorstellen und das in uns
    hervorgebrachte Bild wieder außer uns den Gegenstand decken
    lassen, dem wir die Anregung dazu verdanken.


    Ambros bemerkt weiter: „Wenn das erste Buch Samuel 
    von der Heilung des trübsinnigen Saul durch David’s Harfen-
    spiel erzählt, so hat man sich doch wol keinen Kammermusiker
    zu denken, der zu allerhöchster Gemüthsergötzung «beliebte
    Motiven» vortrug und Virtuosenkünste machte, sondern den be-
    geisterten Sänger, der durch seine Tonweisen die Stimmung
    des kranken Königs veränderte und ihm innere Ruhe gab.
    Die hellenische Dichtung hat das ideale Moment der Musik
    sehr schön in der Sage vom Orpheus ausgedrückt, vor dessen
    Sang wilde Thiere sanft wurden, sowie das formale Moment
    in der Sage vom Amphion, der durch sein Spiel bewirkte,
    daß vor dem geordneten Maße der Töne die rohe Materie
    selbst sich zu maßvoller Ordnung zusammenfügte.“


    Ein junger Mann hatte Mendelssohn’s, „Lieder ohne Worte“
    in Worte übersetzen wollen; der Componist gab ihm zur Ant-
    wort, daß der Ausdruck der Musik in Regionen reicht und
    dort lebt und weht, wohin das Wort nicht mehr nachkann
    und daher nothwendig erlahmen muß, wenn es doch nachwill.
    Ambros erinnert hierbei an eine Stelle in Goethe’s „Erwin
    und Elmire.“ Erwin: „Ich bin’s!“ — Elmire: „Du bist’s!“ (Die
    Musik wage es, setzt der Dichter hinzu, die Gefühle dieser
    Pausen auszudrücken.) Die Musik ist auch wirklich den Be-
    weis nicht schuldig geblieben, daß sie so etwas wagen darf.
    In dem unsterblichen Jubelduett im „Fidelio“ hat sie nach
    den gleichlautenden Worten: „Ich bin’s! Du bist’s!“, da die
    wiedervereinigten Gatten nur noch ausrufen: „Leonore — Flo-
    restan!“ und dann verstummen, ausgedrückt, was in den Her-
    zen der Glücklichen Unaussprechliches wogt.


    Schließlich möchte ich noch aufmerksam machen, daß über
    Händel’s „Messias“, über Beethoven’s „Fidelio“, über einige
    Symphonien dieses Meisters vortreffliche Worte künstlerischer
    Charakteristik im vorliegenden Büchlein zu finden sind. Auch
    der „Tanhäuser“ von Richard Wagner erfährt eine gerechte
    Würdigung.


    Dies führt uns zu dem Schriftchen, in welchem ein Un-
    genannter seinen Beitrag „Zur Reform der modernen Kunst“ 
    gegeben hat. Da heißt es, daß ein vollendetes Werk niemals
    das Erzeugniß mehrer Künste zugleich sei, daß der Eindruck
    des Schönen von dem reinen Auseinanderhalten der Künste in
    ihrer Besonderheit abhange. Hier möchte ich doch zu bedenken
    geben, daß in der griechischen Tragödie Poesie und Musik,
    daß an der Schauseite des griechischen Tempels Sculptur und
    Malerei mit der Architektur zusammenwirkten, und daß na-
    mentlich das Giebelfeld ohne den Schmuck der Bildwerke leer
    sein würde. Wenn die Anhänger des Kunstwerks der Zu-
    kunft meinen, daß Poesie, Musik, Malerei nicht mehr geson-
    dert für sich bestehen sollen, sondern in der Oper aufzugehen
    haben, so irren sie sehr; es ist eine Untugend unserer Zeit,
    daß man individuelle Leistungen gleich allgemein gesetzgeberisch
    machen will. Aber ebenso wenig dürfen wir um der falschen
    Theorie willen verkennen, daß Richard Wagner, der weder ein
    Dichter noch ein Musiker ersten Ranges ist, doch im „Tanhäu-
    ser“ durch die Verbindung beider Künste eins der hervor-
    ragendsten Werke unserer Zeit geschaffen hat. Es ist ungehö-
    rig, die Musik ohne den Text hören, den Tert als solchen wie
    ein Drama beurtheilen zu wollen, Eins ist eben ursprünglich
    auf das Andere bezogen, und die stimmungslose Magerkeit des
    Gedichts gewinnt eben Farbe und Fülle durch die Töne und
    diese einen Anhaltepunkt der Entwickelung und des Verständ-
    nisses im Text. Sonst wird man dem Verfasser vielfach bei-
    stimmen. Er schildert die Einseitigkeiten des Idealismus wie
    des Realismus in der Kunst, um auf die Nothwendigkeit einer
    Versöhnung und Durchdringung hinzuweisen, deren Ansätze und
    Keime er bereits in ausgezeichneten Schöpfungen unserer Tage
    erblickt. Ganz gereift und selbst ohne Widersprüche ist sein
    Urtheil freilich nicht, aber die Darstellung klar, die Gesinnung
    entschieden und wohlwollend. Das Büchlein wird den Künst-
    lern zwar nichts Neues von Einfluß auf ihr Wirken sagen,
    da bedeuten eben die Worte nicht viel, wol aber kann es zur
    Orientirung des Publicums und zur Bildung des Geschmacks
    einen Beitrag gewähren.
    Moritz Carriere.